Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallrente. Neufeststellung. Entziehung

 

Orientierungssatz

Dem Sinn und Zweck des § 622 Abs 2 S 2 RVO entspricht es, sicherzustellen, daß der Empfänger einer Rente mindestens ein ganzes Jahr lang in dem ungeschmälerten Genuß der Rente bleibt. Das schließt jedoch nicht aus, daß der Versicherungsträger bereits gegen Ende des Schutzjahres einen Bescheid erläßt, durch den er die Rente herabsetzt oder entzieht.

 

Normenkette

RVO § 622 Abs. 2 S. 2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 15.12.1965)

SG Landshut (Entscheidung vom 20.11.1964)

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Dezember 1965 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger hatte für die Folgen eines Arbeitsunfalls vom 15. Dezember 1941 eine Rente, zuletzt in Höhe von 40 v. H. der Vollrente, bezogen und war hierfür nach § 618 a der Reichsversicherungsordnung in der vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 geltenden Fassung (RVO aF) abgefunden worden. Am 7. Dezember 1960 stieß dem Kläger ein weiterer Arbeitsunfall zu. Hierfür gewährte ihm die Beklagte eine vorläufige Rente, zuletzt in Höhe von 10 v. H. der Vollrente. Durch Bescheid vom 18. Februar 1963 stellte die Beklagte diese Rente rückwirkend vom 7. Dezember 1962 an als Dauerrente fest. Dieser Bescheid ist dem Kläger am 12. März 1963 ausgehändigt worden. Auf Grund eines Gutachtens des Städtischen Krankenhauses in Passau vom 31. Januar 1964, das auf einer Untersuchung vom 22. Januar 1964 beruhte, entzog die Beklagte durch Bescheid vom 24. Februar 1964 die bisher gewährte Dauerrente mit Ablauf des Monats März 1964 und begründete dies damit, daß in den für die Feststellung der bisherigen Rente maßgebend gewesenen Verhältnissen eine wesentliche Besserung eingetreten sei. Dieser Bescheid ist dem Kläger am 12. März 1964 ausgehändigt worden.

Auf die Klage gegen diesen Bescheid hat das Sozialgericht (SG) Landshut durch Urteil vom 20. November 1964 den Bescheid vom 24. Februar 1964 aufgehoben. Es ist der Auffassung, der Bescheid sei rechtswidrig, weil er vor Ende der Jahresfrist des § 622 Abs. 2 RVO zugestellt worden sei.

Die Beklagte hat hiergegen Berufung eingelegt und zunächst das Urteil des SG ausgeführt (§ 154 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), indem sie dem Kläger durch Schreiben vom 7. Januar 1965 mitgeteilt hat, daß ihm die entzogene Rente vom Tage der Verkündung des Urteils an wieder gewährt werde. Mit Bescheid vom 26. Januar 1965 hat sie die Rente vom Ablauf des Monats April 1965 an entzogen und zur Begründung ausgeführt, das SG habe lediglich über den Zeitpunkt der Entziehung der Unfallrente entschieden, aber zu den medizinischen Fragen nicht Stellung genommen. Aus dem Gutachten vom 31. Januar 1964 sei aber zu entnehmen, daß die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) unter 10 v. H. betrage. Dieser Bescheid enthält die Belehrung, daß er Gegenstand des beim Landessozialgericht (LSG) anhängigen Berufungsverfahrens werde.

Das LSG hat durch Urteil vom 15. Dezember 1965 die erstinstanzliche Entscheidung mit der Maßgabe aufgehoben, daß die Beklagte die Dauerrente nach einer MdE um 10 v. H. bis Ende April 1964 zu zahlen habe, und die Klage gegen den Bescheid vom 26. Januar 1965 abgewiesen. Zur Begründung ist u. a. ausgeführt: Die Entscheidung über den Klaganspruch hänge davon ab, ob die Beklagte mit dem Bescheid vom 24. Februar 1964 über die Entziehung der seit dem 7. Dezember 1962 gewährten Dauerrente mit Ablauf des Monats März 1964 die einjährige Schutzfrist des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO beachtet habe. Dies sei der Fall. Wie nach dem vor dem Inkrafttreten des UVNG geltenden Recht (§ 609 Satz 2 RVO aF) ein Bescheid über die Herabsetzung oder Entziehung einer Dauerrente schon vor Ablauf des Schutzjahres habe erteilt (zugestellt) werden dürfen, sofern für das Wirksamwerden der Neufeststellung der Bezug der Dauerrente für ein volles Jahr gewährleistet sei und der Rentenempfänger vor einer Beunruhigung bewahrt bleibe (AN 1911, 447), zwinge auch das neue Recht nicht zu einer anderen Auslegung des dem § 609 Satz 2 RVO aF entsprechenden § 622 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVO. Dem Gesetz sei zwar das Ende der einjährigen Schutzfrist zu entnehmen und damit auch der Zeitpunkt, bis zu dem der Bezug der zuletzt festgestellten Dauerrente belassen werden müsse; es bestimme jedoch das Ende dieser Frist nicht ausdrücklich und enthalte kein Verbot eines formellen Tätigwerdens des Versicherungsträgers vor Ablauf der Frist. Gefordert werde lediglich, daß der Versicherungsträger die Dauerrente mindestens ein volles Jahr zu leisten habe und den einjährigen Bezug der Dauerrente nicht beeinträchtige. Es widerspreche dem Gesetz nicht, wenn die Neufeststellung formell gegen Ende des Schutzjahres so getroffen werde, daß sie nach Ablauf des Schutzjahres wirksam werde. Von dieser Auslegung des Gesetzes abzuweichen, bestehe kein Anlaß, und zwar auch nicht unter Berücksichtigung der in BSG 12, 16 veröffentlichten Entscheidung zu § 62 Abs. 2 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Diese Vorschrift unterscheide sich schon dem Wortlaut nach wesentlich von § 622 Abs. 2 RVO. Da der Kläger die Dauerrente vom 7. Dezember 1962 an auf jeden Fall länger als ein Jahr bezogen habe, sei das Schutzjahr beachtet worden, auch wenn davon ausgegangen werde, daß der Bewilligungsbescheid am 12. März 1963 zugestellt worden sei und die Jahresfrist von diesem Zeitpunkt an zu laufen begonnen habe. Die Rentenentziehung sei erst mit Ablauf des Monats April 1964 wirksam geworden; denn der Entziehungsbescheid vom 24. Februar 1964 sei erst am 12. März 1964 zugestellt worden. An diesem Zeitpunkt sei in den Verletzungsfolgen des Klägers eine wesentliche Besserung eingetreten gewesen, so daß die MdE nunmehr weniger als 10 v. H. betrage und demzufolge die durch den früheren Unfall bedingte MdE nicht mehr rechtserheblich sei (§ 581 Abs. 3 RVO).

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger, dem das Urteil des LSG am 27. Januar 1966 zugestellt worden ist, hat am 8. Februar 1966 Revision eingelegt mit dem Antrag,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Landshut zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, daß die Zustellung des Entziehungsbescheides innerhalb des laufenden Schutzjahres rechtswidrig sei.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist zulässig; sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Bescheid der Beklagten vom 24. Februar 1964, durch den die bisher gewährte Dauerrente mit Wirkung vom 1. April 1964 an entzogen wurde, dem Kläger am letzten Tage des Jahres, das von der Zustellung des zuletzt ergangenen Bewilligungsbescheides vom 18. Februar 1963 an lief, zugestellt wurde (§§ 622 Abs. 2, 623 Abs. 2 RVO). Seit der Zustellung dieses Bescheides war also noch kein ganzes Jahr vergangen, als der Entziehungsbescheid erteilt wurde. Dies hat jedoch, wie das LSG zutreffend entschieden hat, nicht die Rechtswidrigkeit des Entziehungsbescheides zur Folge.

Das LSG hat seiner Beurteilung der Rechtslage die Neuregelung der §§ 622 und 623 RVO in der Fassung des am 1. Juli 1963 in Kraft getretenen UVNG nur hilfsweise zugrundegelegt. Für die Berechnung der Jahresfrist, innerhalb deren die mit dem Bescheid vom 18. Februar 1963 rückwirkend vom 7. Dezember 1962 an festgestellte Dauerrente von 10 v. H. der Vollrente nicht geändert werden durfte, hat es in erster Linie noch § 609 Satz 2 RVO aF für maßgebend erachtet.

Dem ist jedoch nicht zuzustimmen. Der Bescheid vom 24. Februar 1964 ist erst nach dem Inkrafttreten des UVNG erteilt worden, so daß auf die durch ihn ausgesprochene Entziehung der beim Inkrafttreten des UVNG laufenden Dauerrente die §§ 622, 623 RVO anzuwenden sind (vgl. auch BSG 24, 36, 37). Somit bestimmt sich der Beginn des für das Änderungsverbot zu beachtenden Jahres nach § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO. Das ist im vorliegenden Fall der 13. März 1963 (§ 622 Abs. 2 Satz 3 RVO). Die Jahresfrist endete demzufolge mit dem 12. März 1964. An diesem Tage wurde der Entziehungsbescheid dem Kläger gegenüber wirksam und trat an die Stelle des bisher geltenden Bescheides vom 18. Februar 1963. Dem steht nicht entgegen, daß die Rente nicht schon mit der Zustellung des Entziehungsbescheides wegfiel, sondern gemäß § 623 Abs. 2 RVO noch über den Zeitpunkt der Zustellung des Entziehungsbescheides hinaus bis zum Ablauf des auf die Zustellung folgenden Monats gezahlt werden mußte (vgl. das zur Veröffentlichung bestimmte, insoweit von der in BSG 24, 36 ff abgedruckten Entscheidung abweichende Urteil des erkennenden Senats vom 19. Dezember 1968 - 2 RU 153/66 -).

Mit Recht ist das LSG der Ansicht des erstinstanzlichen Urteils entgegengetreten, nach der vor dem Ablauf des Jahres, innerhalb dessen die Dauerrente nicht geändert werden darf, jedes formelle Tätigwerden des Versicherungsträgers untersagt sei und bei Nichtbeachtung des Änderungsverbotes die Rechtswidrigkeit des Bescheides zur Folge habe. Wie der erkennende Senat in dem ebenfalls zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 19. Dezember 1968 - 2 RU 117/66 - des Näheren ausgeführt hat, entspricht es dem Sinn und Zweck des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO, nach dem eine Dauerrente "nur in Abständen von mindestens einem Jahr geändert werden" darf, sicherzustellen, daß der Rentenempfänger mindestens ein ganzes Jahr lang in dem ungeschmälerten Genuß der Rente bleibt. Das Änderungsverbot des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO schließt nicht aus, daß der Versicherungsträger bereits gegen Ende des Schutzjahres einen Bescheid erläßt, durch den er die Rente herabsetzt oder entzieht. Hierbei darf es sich allerdings, worauf der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 30. Juli 1965 (BSG 23, 218, 220) hingewiesen hat, nur um eine kurze Zeitspanne handeln. Der Auffassung, daß der Versicherungsträger unter Umständen schon gegen Ende der in § 622 Abs. 2 RVO bezeichneten Jahresfrist einen Bescheid, durch den er die Rente herabsetzt oder entzieht, erlassen darf, steht das Urteil des 10. Senats vom 23. Februar 1960 (BSG 12, 16) zu § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG nicht entgegen. Diese Vorschrift, nach der grundsätzlich die MdE eines rentenberechtigenden Beschädigten nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Zustellung des Feststellungsbescheides niedriger festgestellt werden darf, stimmt mit § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO im Wortlaut nicht überein. Nach der Auffassung des 10. Senats hat § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG einen mehrdeutigen Inhalt; § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO stellt es hingegen maßgebend darauf ab, daß es untersagt ist, eine Dauerrente in Abständen von weniger als einem Jahr zu ändern. Deshalb besteht nach Auffassung des erkennenden Senats kein zwingender Grund dafür, daß schon die Neufeststellung der Dauerrente, d. h. die Erteilung des Herabsetzungs- oder Entziehungsbescheides an den Rentenberechtigten, vor Ablauf der angeführten Jahresfrist unterbleiben muß.

Das LSG ist somit ohne Rechtsirrtum zu dem Ergebnis gelangt, daß die Beklagte mit der Zustellung des Bescheides vom 24. Februar 1964 am 12. März 1964 nicht gegen die Vorschrift über das Schutzjahr verstoßen hat.

Die Feststellung des LSG, die durch Folgen des Unfalles vom 7. Dezember 1960 bedingte MdE des Klägers sei nur noch auf weniger als 10 v. H. einzuschätzen, hat die Revision nicht angegriffen (§ 163 SGG). Das LSG hat daraus zu Recht die Folgerung gezogen, daß der Kläger keinen Anspruch mehr auf Rente für die Folgen dieses Unfalls habe. Da der Bescheid vom 24. Februar 1964 jedoch erst am 12. März 1964 zugestellt worden ist, mußte die Beklagte, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, die Rente in Höhe von 10 v. H. der Vollrente noch bis zum Ablauf des Monats April 1964 weiterzahlen (§ 623 Abs. 2 RVO).

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG ist somit unbegründet und war zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324128

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