Entscheidungsstichwort (Thema)

Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Bedingung. stillschweigendes Einverständnis

 

Orientierungssatz

1. Die Einverständniserklärung zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG ist eine Prozeßhandlung. Sie muß ausdrücklich erklärt werden und ist bedingungsfeindlich.

2. In dem Verstoß gegen § 124 Abs 2 SGG liegt kein absoluter Revisionsgrund (vgl BSG vom 11.2.1982 11 RA 50/81 = BSGE 53, 83 ff). Es muß deshalb nicht auszuschließen sein, daß das LSG bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Dies ist in der Regel der Fall, weil die mündliche Verhandlung in besonderem Maße Gelegenheit gibt, den Sach- und Streitstand mit dem Gericht in Rede und Gegenrede zu erörtern und stärker auf die richterliche Überzeugungsbildung einzuwirken.

 

Normenkette

SGG § 124 Abs 1; SGG § 124 Abs 2; ZPO § 551 Nr 5; SGG § 160 Abs 2 Nr 3

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 07.08.1987; Aktenzeichen L 1 An 4/87)

SG Lüneburg (Entscheidung vom 05.12.1986; Aktenzeichen S 14c An 109/85)

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft die Erstattung rechtmäßig entrichteter Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten.

Für die Klägerin sind zwischen dem 1. April 1965 und dem 31. Januar 1982 70 Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter und zur Rentenversicherung der Angestellten entrichtet worden. Mit Schreiben vom 2. Juli 1984 beantragte die Klägerin die Erstattung des Arbeitnehmeranteils der zur Rentenversicherung entrichteten Beiträge. Die Beklagte lehnte dies ab (Bescheid vom 30. Juli 1984; Widerspruchsbescheid vom 20. März 1985). Das Sozialgericht Lüneburg (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Dezember 1986). Das Landessozialgericht Niedersachsen (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 7. August 1987).

Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist ohne mündliche Verhandlung ergangen. Dazu ist es folgendermaßen gekommen: Mit Schriftsatz vom 20. März 1987 regte der Bevollmächtigte der Klägerin an, der Beklagten die Auskunft aufzuerlegen, wie hoch nach dem derzeitigen Rentenversicherungskonto die von der Klägerin bei Erreichen der Altersgrenze zu erwartende Rente sei. Für den Fall, daß das Gericht dieser Anregung folgen sollte, bestehe Einverständnis, nach Vorliegen der Auskunft im schriftlichen Verfahren zu entscheiden. Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) teilte daraufhin mit Schriftsatz vom 3. April 1987 mit, der Anregung der Klägerin, eine Auskunft zu erteilen, wie hoch nach dem derzeitigen Rentenversicherungskonto die bei Erreichen der Altersgrenze zu erwartende Rente sei, könne nicht gefolgt werden, weil sie technisch nicht durchführbar sei. Es lägen noch keine Berechnungswerte für den Eintritt eines in der Zukunft liegenden Versicherungsfalles vor. Übersandt wurde lediglich eine Berechnung der Rentenanwartschaft für den Eintritt eines Versicherungsfalls am 2. April 1987. Der Klägervertreter antwortete hierauf mit Schriftsatz vom 29. Juni 1987, der weitere Anregungen zu Feststellungen über die Rentabilität der Beiträge enthielt. Weitere Klärungen erfolgten jedoch nicht. Der Vorsitzende des Senats beim LSG verfügte unter Anberaumung eines Termins zur Beratung und Entscheidung auf Freitag den 7. August 1987 ein Schreiben an den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin folgenden Wortlauts:

"In ... wird davon ausgegangen, daß Sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden sind (vgl Schriftsatz vom 20. 3. 1987). Sollte dies nicht der Fall sein, wird um umgehende Nachricht gebeten, da eine Entscheidung gemäß § 124 Abs 2 SGG für Anfang August dJ geplant ist".

Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin antwortete auf dieses Schreiben nicht. Am 7. August 1987 wurde ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden und die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Mit der Revision macht die Klägerin geltend, das LSG sei nicht berechtigt gewesen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Es sei fraglich, ob die bedingte Zustimmung im Schriftsatz vom 20. März 1987 überhaupt wirksam gewesen sei. Auf jeden Fall sei die Bedingung nicht eingetreten. Auch sei das LSG den weiteren Anträgen auf zusätzliche Ermittlungen nicht nachgekommen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte schließt sich dem Antrag der Klägerin an.

Beide Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Das LSG durfte nicht ohne mündliche Verhandlung über die Berufung entscheiden, weil kein ausreichendes Einverständnis der Klägerin vorlag (§ 124 Abs 2 SGG). Es ist nicht auszuschließen, daß das Unterlassen der notwendigen mündlichen Verhandlung Auswirkungen auf die Entscheidung des LSG gehabt hat.

Gemäß § 124 Abs 1 SGG sind Entscheidungen durch Urteil grundsätzlich aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu fällen. § 124 Abs 2 SGG sieht lediglich dann eine Ausnahme vor, wenn die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklären. Die Einverständniserklärung ist eine Prozeßhandlung. Sie muß ausdrücklich erklärt werden und ist bedingungsfeindlich (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl § 124 Anm 3). Schon aus diesem Grunde war die Erklärung des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin im Schriftsatz vom 20. März 1987 keine ausreichende Einverständniserklärung. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob dieser Mangel geheilt wird, wenn die Bedingung, an die das Einverständnis geknüpft war, eingetreten ist; denn aus den Akten ergibt sich, daß die Beklagte die Bedingung nicht erfüllen konnte und sich der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin mit der von der Beklagten gegebenen Antwort auch nicht zufriedengegeben hat. Er hat im Gegenteil weitere Beweisanregungen vorgebracht. Ein Einverständnis der Klägerin liegt auch nicht in dem Schweigen auf das Schreiben des Vorsitzenden. Das Einverständnis muß ausdrücklich erfolgen (Meyer-Ladewig aa0 mwN).

Allerdings liegt in dem Verstoß gegen § 124 Abs 2 SGG kein absoluter Revisionsgrund (BSGE 53, 83 ff). Es muß deshalb außerdem nicht auszuschließen sein, daß das LSG bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Dies ist in der Regel der Fall, weil die mündliche Verhandlung in besonderem Maße Gelegenheit gibt, den Sach- und Streitstand mit dem Gericht in Rede und Gegenrede zu erörtern und stärker auf die richterliche Überzeugungsbildung einzuwirken. Der vorliegende Fall läßt es nicht als von vornherein ausgeschlossen erscheinen, daß das LSG dann zu einer anderen Entscheidung hätte gelangen können. Immerhin stehen rechtliche Fragen zur Diskussion, die einer differenzierten Betrachtung zugänglich sind. Nicht erforderlich ist, daß das Revisionsgericht das Begehren der Klägerin für aussichtsreich hält.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659618

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