Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterhalt. eheähnliches Verhältnis
Orientierungssatz
Zur Frage, ob Zahlungen, die ein Versicherter seiner in eheähnlicher Gemeinschaft mit ihm lebenden früheren Ehefrau unmittelbar (Taschengeld) und mittelbar (Krankenkassenbeitrag, anteilige Kosten für Unterkunft und Verpflegung) zukommen ließ, Unterhalt iS des RVO § 1265 S 1 Alt 3 darstellen.
Normenkette
RVO § 1265 S 1 Alt 3
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 20.04.1978; Aktenzeichen L 8 J 98/77) |
SG Berlin (Entscheidung vom 31.05.1977; Aktenzeichen S 22 J 329/76) |
Tatbestand
I
Die im Jahr 1915 geborene Klägerin war mit dem im Jahr 1921 geborenen Versicherten in kinderloser Ehe verheiratet. Die Ehe wurde im Jahr 1967 mit dem Ausspruch geschieden, daß beide Eheleute an der Scheidung schuldig seien. Die Eheleute lebten nach der Scheidung in einer eheähnlichen Gemeinschaft in der Ehewohnung weiter zusammen. Die Klägerin führte den gemeinsamen Haushalt und besorgte die Wohnung sowie die Kleider und die Wäsche des Versicherten. Dieser bezahlte die überwiegenden Mietkosten (in der Wohnung lebte noch die Schwester der Klägerin), die gesamten Kosten des Haushalts für sich und die Klägerin, den Krankenkassenbeitrag für die Klägerin und ein Taschengeld von etwa 200,- DM monatlich. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) stellte die Klägerin dem Versicherten ihre gesamte Arbeitskraft zur Verfügung und erhielt dadurch ihren notwendigen Lebensunterhalt sowie das Geld zur Deckung persönlicher Bedürfnisse. Der Versicherte ist im Jahr 1974 gestorben.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente mit Bescheid vom 9. Mai 1975 ab, weil die Klägerin gegen den Versicherten keinen Unterhaltsanspruch gehabt habe. Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 31. Mai 1977 und des LSG Berlin vom 20. April 1978). Das LSG hat die Revision zugelassen. Es hat ausgeführt: Ein Unterhaltstitel oder eine sonstige Vereinbarung habe nicht vorgelegen. Einen Unterhaltsanspruch nach § 60 Ehegesetz (EheG) habe die Klägerin nicht gehabt, weil sie in der Lage gewesen sei, sich selbst zu unterhalten. Schließlich habe der Versicherte ihr auch nicht Unterhalt geleistet. Dessen Zahlungen für den gemeinsamen Haushalt und das Taschengeld seien die Gegenleistung für die Haushaltsführung gewesen.
Mit der Revision rügt die Klägerin die unrichtige Anwendung des § 1265 Reichsversicherungsordnung (RVO) und trägt vor: Die Leistungen des Versicherten seien unabhängig von einer Gegenleistung erbracht worden. Aufgrund der vorangegangenen Ehe habe für den Versicherten eine sittliche und moralische Pflicht zur Unterhaltsleistung bestanden. Dem LSG möge zuzugeben sein, daß ihr, der Klägerin, gegen den Versicherten aufgrund des EheG kein Unterhaltsanspruch zugestanden habe. Die Leistungen des Versicherten hätten ihre Leistungen um ein Vielfaches überstiegen, so daß zumindest die überschießenden Leistungen als Unterhalt anzusehen seien. Die Klägerin beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 20. April 1978 und des Sozialgerichts Berlin vom 31. Mai 1977 sowie den Bescheid des Beklagten vom 9. Mai 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1. Februar 1975 an Hinterbliebenenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als die Sache zurückverwiesen werden mußte. Ob der angefochtene Bescheid, mit dem der Antrag der Klägerin auf die sog. Geschiedenen-Witwenrente abgelehnt wurde, rechtmäßig ist, kann noch nicht abschließend beurteilt werden.
Nach § 1265 Satz 1 RVO idF des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (ArVNG) wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Ist - wie hier - eine Witwenrente nicht zu gewähren, kommt es unter bestimmten Voraussetzungen für die Unterhaltspflicht des Versicherten auf dessen Leistungsfähigkeit und die Bedürftigkeit der geschiedenen Ehefrau nicht an. Das ergibt sich aus § 1265 Satz 2 RVO idF des Rentenreformgesetzes (RRG); ein Rentenanspruch nach dieser Bestimmung kommt aber nur in Frage, wenn die Elemente für das Entstehen einer Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 Satz 1 RVO vorliegen (BSG SozR 2200 § 1265 Nr 20 S. 64).
Das LSG hat sämtliche Voraussetzungen des § 1265 Satz 1 RVO, nämlich eine Unterhaltspflicht nach dem EheG (Fall 1) sowie aus sonstigen Gründen (Fall 2) und auch eine tatsächliche Unterhaltsleistung (Fall 3) verneint. Die Revision bekämpft das Urteil nur hinsichtlich des Falles 3, sie ist der Meinung, der Versicherte habe im letzten Jahr vor seinem Tode tatsächlich Unterhalt geleistet.
Die Zahlungen, die der Versicherte der Klägerin unmittelbar (Taschengeld) und mittelbar (Krankenkassenbeitrag, anteilige Kosten für Unterkunft und Verpflegung) zukommen ließ, müssen auf ihren Charakter als Unterhalt untersucht werden.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) leistet Unterhalt iS des § 1265 RVO nur derjenige Versicherte, der den wirtschaftlichen Lebensbedarf seiner früheren Ehefrau unabhängig davon befriedigt, ob diese eine Gegenleistung erbringt (BSGE 19, 185 = SozR Nr 13 zu § 1265 RVO). Leben geschiedene Eheleute wieder in gemeinsamem Haushalt zusammen, ohne nochmals geheiratet zu haben, so leistet der Mann jedenfalls dann keinen Unterhalt, wenn der Wert des Beitrags, den er zu dem gemeinsamen Haushalt beisteuert, nicht höher ist als der Wert des Beitrages der Frau mit Einschluß des Wertes der Haushaltsführung (SozR Nr 16 zu § 1265 RVO).
Das LSG meint, der 1. Senat habe im Urteil BSGE 12, 279 = SozR Nr 7 zu § 1265 RVO im Gegensatz zu der erwähnten Rechtsprechung des 12. Senats bei einem eheähnlichen Verhältnis die Leistungen des Versicherten für den Lebensbedarf der früheren Ehefrau insgesamt als Unterhaltszahlungen angesehen. Das trifft jedoch so nicht zu. Der 1. Senat hat vielmehr "bei einer gemeinsamen eheähnlichen Lebensführung mit eigenen, aber ungleichen Einkünften der Partner" lediglich "nach allgemeiner Lebenserfahrung angenommen ..., daß, falls das Einkommen ... insgesamt für den Haushalt verbraucht wird, etwa die Hälfte der Differenz der beiderseitigen Einkünfte (als Unterhaltsleistung) dem Partner zufließt, der weniger verdient und entsprechend weniger beiträgt" (aaO S. 281).
An der Rechtsprechung in BSGE 19, 185, der der 1. Senat erst kürzlich (im Urteil vom 3. Oktober 1979 - 1 RA 53/78 -, S. 11) wieder beigetreten ist, wird festgehalten.
Danach ist bei Leistungen des Versicherten an seine in eheähnlicher Gemeinschaft mit ihm lebende, geschiedene Ehefrau zu unterscheiden: Bis zur Höhe der von der Frau (in der Regel durch Haushaltsführung) erbrachten Gegenleistungen sind diese Leistungen kein Unterhalt iS des § 1265 RVO; darüber hinausgehende Leistungen können Unterhalt sein.
Der Grundgedanke des § 1265 Satz 1 Fall 3 RVO ist, daß bei einer ein ganzes Jahr dauernden tatsächlichen Unterhaltsgewährung von einer regelmäßigen Unterhaltsleistung ausgegangen werden kann, die die Erwartung rechtfertigt, daß der Versicherte ohne seinen Tod den Unterhalt auch weiterhin geleistet hätte, weshalb sich die geschiedene Ehefrau auf einen dauernden Empfang von Unterhalt seitens des Versicherten einstellen durfte (BSG SozR Nr 55 zu § 1265 RVO; Verbandskommentar zur RVO, Anm 12 zu § 1265, Stand: 1. Januar 1978). Das Vertrauen der geschiedenen Ehefrau auf fortdauernde Unterhaltszahlungen soll auch dann geschützt werden, wenn es nicht auf dem Gesetz (Fall 1 und 2), sondern auf einer langdauernden Übung, die der Versicherte freiwillig einhält, beruht. Es kann sich aber nur auf Leistungen gründen, die der Versicherte schenkweise und nicht nur als Bezahlung für Gegenleistungen erbringt. Bezahlt der Mann nur die Dienste der Frau, dann kann sich das Vertrauen der Frau nur auf fortdauernde Bezahlung, nicht aber auf fortdauernde Leistungen auch nach Wegfall der Gegenleistung richten. Die Frau, die dem geschiedenen Mann den Haushalt führt und dafür "Unterhalt" bezieht, kann nicht darauf vertrauen, auch dann noch versorgt zu werden, wenn sie zB wegen Krankheit nicht mehr den Haushalt führen kann. Daraus ergibt sich, daß die bloße Bezahlung der von der Frau erbrachten Gegenleistungen nicht eine Geschiedenenwitwenrente auslösen kann.
Das LSG hat festgestellt, daß den Leistungen des Versicherten Gegenleistungen der Klägerin, die "dem Versicherten ihre gesamte Arbeitskraft zur Verfügung gestellt ... hat", gegenüberstanden. Soweit die Zahlungen des Versicherten den Wert der Gegenleistungen nicht überstiegen, ist kein Unterhalt iS des § 1265 Satz 1 Fall 3 RVO geleistet worden. Dagegen ist es möglich, daß die Zahlungen des Versicherten auch schenkweise hingegebene Beträge enthielten, weil der Wert der von der Klägerin erbrachten Gegenleistungen geringer als der Wert der Zahlungen war. Dazu hat das LSG, wie ausdrücklich in den Entscheidungsgründen vermerkt, keine Ermittlungen angestellt und keine Feststellungen getroffen. Das wäre jedoch nötig gewesen. Es spricht zwar viel dafür, daß die Wirtschaftsführung der Klägerin mehr "wert" war als 200,- DM monatlich nebst freier Station und freier Krankenversicherung; wie die Haushaltsführung zu bewerten ist, hat das BSG in mehreren Entscheidungen (BSGE 31, 90, 97 = SozR Nr 7 zu § 1266 RVO; SozR Nr 10 zu § 1266 RVO; SozR 2200 § 1266 Nr 7 S. 36; Urteil vom 28. September 1978 - 4/5 RJ 16/77 -, in SozR 2200 § 1266 Nr 8 insoweit nicht veröffentlicht; Urteil von heute - 4 RJ 97/78 -) ausgeführt.
Trotzdem ist je nach der besonderen Gestaltung der Verhältnisse in der eheähnlichen Lebensgemeinschaft nicht auszuschließen, daß die Klägerin nur geringe (Dienst) Leistungen erbracht hat und daß deshalb in den 200,- DM "Taschengeld" monatlich auch noch ein Unterhaltsbetrag enthalten war. Das wird das LSG noch festzustellen haben.
Entsprachen die Zahlungen des Versicherten dem Wert der Hausarbeit der Klägerin für den Versicherten oder lagen sie wertmäßig darunter, dann bleibt es bei der Zurückweisung der Berufung. Waren die Leistungen des Versicherten wesentlich höher als die Gegenleistungen der Klägerin, soweit diese dem Versicherten zugute gekommen sind, dann wird zu untersuchen sein, ob die sonstigen Voraussetzungen des § 1265 Satz 1 Fall 3 RVO vorlagen, insbesondere ob die - über die Gegenleistung hinausgehende - Zahlung des Versicherten der Höhe nach als Unterhalt in Frage kommt (vgl BSGE 40, 79 = SozR 2200 § 1265 Nr 5).
Auf die Erfüllung der Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO kommt es entgegen der Ansicht des LSG nicht an. Denn diese Bestimmung dient nur der Ausführung der Fälle 1 und 2 des Satzes 1, hat aber mit der Voraussetzung der tatsächlichen Unterhaltsgewährung nichts zu tun. Im übrigen ist die Auffassung des LSG, die Unterhaltsbeitragspflicht nach § 60 EheG sei keine Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 Satz 2 RVO, nach dem Beschluß des Großen Senats des BSG in SozR 2200 § 1265 Nr 41 nicht mehr haltbar.
Die Sache war zurückzuverweisen.
Das LSG wird auch über die Kosten entscheiden.
Fundstellen