Leitsatz (amtlich)
Ein Rechtsstreit wegen der Heranziehung eines Kassenarztes zum ärztlichen Bereitschaftsdienst durch die KÄV betrifft eine "Angelegenheit der Kassenärzte" iS des SGG § 12 Abs 3 S 2 auch dann, wenn der Kassenarzt aufgrund einer gemeinsam von Bezirksärztekammer und KÄV erlassenen Bereitschaftsdienstordnung in Anspruch genommen wird.
Für diesen Rechtsstreit ist der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben.
Normenkette
SGG § 12 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 51 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. November 1971 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten um die Zulässigkeit des Sozialrechtswegs.
Die Klägerin, Fachärztin für Kinderkrankheiten in P, beantragte, sie von der Teilnahme am allgemeinen Bereitschaftsdienst zu befreien. Der Vorsitzende der Kreisärzteschaft E lehnte den Antrag mit Bescheid vom 7. Januar 1971 ab. Ihr Widerspruch an den Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) N wurde durch Beschluß vom 26. Januar 1971 zurückgewiesen. In den Gründen des Widerspruchsbescheides wird im einzelnen dargelegt, warum die Klägerin vom Notfalldienst, der der Sicherstellung der ärztlichen Versorgung diene, nicht befreit werden könne.
Gegen den Widerspruchsbescheid hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Stuttgart Klage erhoben und ihr bisheriges Ziel auf Freistellung vom ärztlichen Sonntagsdienst, soweit er das Gebiet der Kinderheilkunde überschreitet, weiterverfolgt. Das SG hat ihre Klage mit Urteil vom 4. August 1971 abgewiesen. In den Gründen wird dargelegt, daß die KÄV nach § 368 n Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Pflicht habe, die den Krankenkassen obliegende ärztliche Versorgung sicherzustellen. Dazu gehöre die Regelung des Sonntagsdienstes. Bei der Ablehnung des Befreiungsantrages habe die Beklagte nicht ermessensfehlerhaft gehandelt. Die Klägerin sei zur Ausübung einer begrenzten ärztlichen Tätigkeit in Notfällen in der Lage und könne daher zum Bereitschaftsdienst herangezogen werden.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg (Urteil vom 15. November 1971) das Urteil des SG aufgehoben und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Stuttgart verwiesen. Es hat ausgeführt, daß die Verpflichtung zur Teilnahme am Notfalldienst einerseits aufgrund der Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg alle Ärzte erfasse, andererseits aber nach § 368 RVO und § 6 Abs. 4 des Bundesmantelvertrages-Ärzte die Kassenärzte betreffe. Die Bezirksärztekammer und die KÄV N hätten gemeinsam eine Bereitschaftsdienstordnung erlassen und darin die Regelung im Einzelfall der Kreisärzteschaft übertragen. Da die Verpflichtung aufgrund des Kassenarztrechts sekundär sei, liege ein Verwaltungsakt vor, der die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte begründe. Zudem habe die Klägerin gefordert, vom allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienst und nicht nur vom Bereitschaftsdienst für Kassenpatienten befreit zu werden. Demgemäß sei der Sozialrechtsweg nicht gegeben. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen, weil die Entscheidung vor allem auf der Anwendung landesrechtlicher Bestimmungen beruhe.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der Revision. Sie sieht in der Versagung des Rechtsweges zu den Sozialgerichten einen wesentlichen Verfahrensmangel. Die gemeinsame Bereitschaftsdienstordnung stelle eine Zweckregelung dar. Der Bescheid des Vorsitzenden der Kreisärzteschaft an die Klägerin sei - auch - im Auftrag der Beklagten ergangen. Der Widerspruchsbescheid zeige ebenfalls, daß die Klägerin als Kassenärztin nach bundesrechtlichen Vorschriften (§ 368 n Abs. 1 RVO, § 6 Abs. 4 Bundesmantelvertrag-Ärzte) herangezogen worden sei. Diese Normen seien vom Revisionsgericht überprüfbar. Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 15. November 1971 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 4. August 1971 zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit nach Aufhebung des angefochtenen Urteils zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit nach Aufhebung des angefochtenen Urteils zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Sie hält ebenfalls den Rechtsweg zu den Sozialgerichten für gegeben. Sie ist jedoch der Auffassung, daß sie nicht zum Bereitschaftsdienst herangezogen werden könne, weil sie sonst übermäßig in ihrer Berufsausübung beeinträchtigt werde.
II
Die Revision der Beklagten ist statthaft und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
Der Senat hat vorab geprüft, ob er im vorliegenden Verfahren mit zwei Kassenärzten als zwei ehrenamtlichen Beisitzern richtig besetzt ist (vgl. BSG 5, 50; 11, 1; 11, 102). Nach §§ 12 Abs. 3, 33 Satz 2, 40 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wirken in den Kammern und Senaten für Angelegenheiten des Kassenarztrechts je ein ehrenamtlicher Richter aus den Kreisen der Krankenkassen und der Kassenärzte mit, außer wenn es sich um "Angelegenheiten der Kassenärzte" handelt, bei denen nur Kassenärzte als ehrenamtliche Beisitzer teilnehmen. Ein Fall dieser Art liegt hier vor. Nach der Rechtsprechung des Senats sind unter den "Angelegenheiten der Kassenärzte" solche Streitsachen zu verstehen, die nach der gesetzlichen Regelung in den Bereich der kassenärztlichen Selbstverwaltung fallen. Entscheidend ist demnach, ob eine Angelegenheit im Verwaltungsverfahren von der kassenärztlichen Selbstverwaltung zu erledigen ist oder ob für sie die Organe der gemeinsamen Selbstverwaltung der Krankenkassen und der Kassenärzte zuständig sind.
Die Regelung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes ist eine Angelegenheit, die, soweit die Kassenärzte davon betroffen werden, in den Bereich der kassenärztlichen Selbstverwaltung fällt. Das folgt aus dem gesetzlichen Auftrag der KÄVen, die die den Krankenkassen obliegende ärztliche Versorgung sicherzustellen und zu gewährleisten haben, daß diese Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht (§ 368 n Abs. 1 Satz 1 RVO). Aufgrund dieser Verpflichtung sowie aufgrund von § 6 Abs. 4 des Bundesmantelvertrags-Ärzte vom 1. Oktober 1959 war die Beklagte gehalten, die ärztliche Versorgung in dringenden Fällen zu sichern (vgl. BSG 33, 165, 166; so auch Heß-Venter, Das Gesetz über Kassenarztrecht, Anhang zu Anm. II zu § 368 d RVO; Heinemann-Liebold, Kassenarztrecht, 4. Auflage Anm. 2 a zu § 368 n RVO). Das ist mit der Bereitschaftsdienstordnung vom 7. Dezember 1963 geschehen. Die Beklagte hat damit eine durch Bundesrecht gesetzte Verpflichtung erfüllt.
Die Wahrnehmung dieser Aufgabe ist unabhängig von der nach ärztlichem Berufsrecht bestehenden Verpflichtung der Ärztekammer zu entsprechender Vorsorge für einen ärztlichen Bereitschaftsdienst (BSG 33, 165). Beide Zuständigkeiten stehen nicht im Verhältnis der Subsidiarität zueinander, wie das LSG anzunehmen scheint. Um Überschneidungen zu vermeiden, ist es allerdings sachgemäß, die beiderseitigen Regelungen aufeinander abzustimmen, wie es in Nordwürttemberg zwischen der Bezirksärztekammer und der beklagten KÄV auch erfolgt ist (Gemeinsame Bereitschaftsdienstordnung von Dezember 1963).
Soweit diese Bereitschaftsdienstordnung von der KÄV gegenüber Kassenärzten angewendet wurde, war sie auch verwaltungsverfahrensmäßig - jedenfalls in der Gestaltung des Widerspruchsverfahrens - unbedenklich. Dabei kann offenbleiben, ob die Kreisärzteschaft als erste Verwaltungsinstanz - wie bei der Klägerin geschehen - befugt war, über die Befreiung eines Kassenarztes vom Notfalldienst zu befinden. Entscheidend ist, daß der zurückweisende Widerspruchsbescheid von der beklagten KÄV erlassen worden ist; denn nach § 95 SGG ist Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat.
Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß die vorliegende Streitsache eine Angelegenheit der kassenärztlichen Selbstverwaltung betrifft, bei deren Regelung - Erlaß des angefochtenen Verwaltungsakts - das zuständige Organ dieser Selbstverwaltung gehandelt hat. Demnach liegt eine Angelegenheit der Kassenärzte i. S. des § 12 Abs. 3 Satz 2 SGG vor.
Mit der Feststellung, daß Gegenstand des Rechtsstreits eine Angelegenheit der Kassenärzte ist, ist auch die Frage des Rechtsweges geklärt. Es liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in Angelegenheiten der Sozialversicherung i. S. des § 51 Abs. 1 und 2 Satz 1 SGG vor. Für derartige Streitigkeiten ist der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit vom Gesetzgeber vorgesehen.
Da das LSG zu Unrecht nicht in der Sache entschieden, sondern den Rechtsstreit an ein Verwaltungsgericht verwiesen hat, leidet das bei ihm geführte Verfahren an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 SGG (vgl. BSG, Urteil vom 18. November 1969 in SozR SGG § 51 Nr. 46; Urteil vom 24. Oktober 1961 in SozR SGG § 52 Nr. 3; Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Auflage § 52 SGG Anm. 3 b).
Das angefochtene Urteil enthält keine hinreichenden tatsächlichen Feststellungen, die eine Entscheidung in der Sache ermöglichten. Da das BSG die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen
NJW 1973, 1437 |
NJW 1973, 2262 |