Orientierungssatz
Beteiligung (Anhörung) Dritter am Verwaltungsverfahren:
1. Am Verwaltungsverfahren zum Erlaß von Beitragsbescheiden gegenüber dem Arbeitgeber sind die betroffenen Beschäftigten auf ihren Antrag hin zu beteiligen.
2. Auch wenn die Benachrichtigung unterblieben ist, darf der angefochtene Verwaltungsakt deswegen nur aufgehoben werden, wenn der Arbeitnehmer auf Anfrage des Gerichts eine Wiederholung des Verwaltungsverfahrens unter seiner Beteiligung beantragt.
3. Zeitschriftenwerber, beitragspflichtiger Arbeitgeber.
Normenkette
SGB 10 § 12 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1980-08-18, Abs. 2 S. 2 Hs. 2 Fassung: 1980-08-18, § 24 Abs. 1 Fassung: 1980-08-18, Abs. 2 Nr. 4 Fassung: 1980-08-18; RVO § 393 Abs. 1, § 1396 Abs. 1; AFG § 176 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 31.08.1982; Aktenzeichen I KRBf 19/81) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 14.10.1980; Aktenzeichen L 1 Kr 95/77) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte für die Beigeladenen zu 3) und 4) sowie für weitere - am Verfahren nicht beteiligte - Personen Sozialversicherungsbeiträge von der Klägerin als Arbeitgeberin fordern darf.
Die Klägerin betreibt seit 1974 einen Zeitschriftenvertrieb. Für die Werbung neuer Kunden für Zeitungen und Zeitschriften setzt sie sogenannte Oberreisende ein, die je eine Gruppe von ca acht zumeist jugendlichen Personen zum "Einsatzort" fahren. Diese werben von Haus zu Haus gehend Abonnenten. Die Bezahlung sowohl der Oberreisenden als auch der Werber erfolgt auf Provisionsbasis und richtet sich nach der Anzahl der geworbenen Abonnenten. Nachdem die Beklagte zu der Auffassung gelangt war, daß sowohl die Oberreisenden als auch die Werber zu der Klägerin in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehen, machte sie mit dem Prüfbescheid vom 14. Mai 1976, der der Klägerin am 9. Juni 1976 ausgehändigt wurde, für den Zeitraum vom 1. März 1974 bis zum 31. Dezember 1975 eine Nachforderung in Höhe von 205.846,82 DM geltend. Dabei waren die Personen namentlich, zum Teil aber auch nur unter der Bezeichnung "und diverse Arbeitnehmer" unter Zugrundelegung der Unterlagen der Klägerin erfaßt und die einzelnen Beträge anhand der Unterlagen errechnet worden. Die namentlich benannten Oberreisenden und Werber umfaßten einen Kreis von ungefähr 20 bis 25 Personen.
Dem gegen den Bescheid vom 14. Mai 1976 eingelegten Widerspruch half die Beklagte nicht ab, weil nach ihrer Ansicht für den betroffenen Personenkreis alle Merkmale einer abhängigen Beschäftigung vorlagen, nämlich die Eingliederung in den Betrieb, die Überwachung der Tätigkeit durch eine übergeordnete Person, die Bindung an deren Weisungen und ferner die Gebundenheit in bezug auf Arbeitszeit, Arbeitsort und Arbeitsfolge. Auch die Vereinbarung von Kündigungsfristen weise auf das Vorliegen eines abhängigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses hin (Widerspruchsbescheid vom 11. August 1977). Die hiergegen erhobene Klage blieb ebenfalls erfolglos (Urteil des Sozialgerichts -SG- Hamburg vom 14. Oktober 1980). Das SG sah die Oberreisenden und Werber nach dem Gesamtbild ihrer Tätigkeiten als abhängig Beschäftigte der Klägerin an. Da die Klägerin schuldhaft gegen ihre Verpflichtung aus § 2 Abs 1 Nrn 1 und 2 iVm § 3 Abs 1 der Beitragsüberwachungsverordnung (BÜVO) verstoßen und es der Einzugsstelle infolge fehlender oder unzureichender Aufzeichnungen unmöglich gemacht habe, die Voraussetzungen der Versicherungs- und Beitragspflicht zu prüfen, sei die Beklagte berechtigt gewesen, die Beiträge von der feststellbaren Gesamtlohnsumme zu erheben.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 1977 sowie den nach Klageerhebung ergangenen weiteren Bescheid der Beklagten vom 22. November 1977 (der den Zeitraum vom 1. Januar 1976 bis 31. Juli 1977 umfaßt) aufgehoben. Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, die Beklagte hätte spätestens vor Erlaß des Widerspruchsbescheides und des nachfolgenden Bescheides vom 22. November 1977 die betroffenen Oberreisenden und Werber gemäß § 34 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) idF vom 11. Dezember 1975 anhören müssen. Wegen Verstoßes gegen diese zwingende Vorschrift seien die Bescheide rechtswidrig und deshalb aufzuheben. Ein Bescheid, der eine Versicherungspflicht, wenn auch nur für in der Vergangenheit liegende Zeiträume, feststellt, verlange wegen seines belastenden Charakters eine vorherige Anhörung des Versicherten. Bei dem in Frage kommenden Kreis von 20 bis 25 Personen handele es sich nicht um eine "größere Zahl" iS der Ausnahmevorschrift des § 34 Abs 2 Nr 4 SGB I aF. Die Beklagte könne auch nicht einwenden, daß eine Anhörung der Oberreisenden und Werber nicht möglich gewesen sei, weil deren Anschriften unbekannt waren. Jedenfalls seien diese damals noch ermittelbar gewesen. Ob die Anhörung auf die Entscheidung der Beklagten von Einfluß gewesen wäre, spiele keine Rolle.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision vertritt die Beklagte die Auffassung, daß mit der Feststellung der Versicherungspflicht einer Person nicht "in deren Rechte eingegriffen", sondern ihr vielmehr "zu ihren Rechten verholfen" werde. Eine Anhörung nach § 34 SGB I aF sei daher nicht erforderlich. Außerdem könne auch eine Verletzung des Rechts auf Anhörung nicht zur Aufhebung der Verwaltungsakte führen, wenn die Anhörung zu keiner anderen Entscheidung in der Sache geführt hätte. Im übrigen lägen bei dem Kreis von 20 bis 25 Personen die Voraussetzungen des § 34 Abs 2 Nr 4 SGB I aF vor.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß), die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene zu 1) beantragt, das Urteil des LSG abzuändern und die Klage abzuweisen (sinngemäß: die Berufung gegen das Urteil des SG zurück- zuweisen).
Sie vertritt ebenfalls die Auffassung, daß die Entscheidung der Beklagten über die Versicherungspflicht keinen Eingriff in bestehende Rechte der Versicherten beinhalte und deshalb deren Anhörung nicht erforderlich sei.
Die Beigeladenen zu 2), 3) und 4) haben sich zur Sache nicht geäußert.
Alle Beigeladenen haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits.
Das LSG hat die Verwaltungsakte der Beklagten in vollem Umfang aufgehoben. Verfahrensfehlerfrei hätte dies jedoch nur hinsichtlich der beiden zum Verfahren beigeladenen Versicherten (Lieb und Biel) erfolgen können. Hinsichtlich der übrigen von den Verwaltungsakten erfaßten Personen, über deren Aufenthalt von den Vorinstanzen keine ausreichenden Feststellungen getroffen wurden, durfte nicht entschieden werden, bevor sie - soweit ermittelbar - gemäß § 75 Abs 1 SGG beigeladen worden waren. Insoweit ist schon hierwegen nach der ständigen Rechtsprechung des Senats die Aufhebung und Zurückverweisung geboten.
Das LSG durfte seine Entscheidung aber auch hinsichtlich der Beigeladenen Lieb und Biel nicht ohne weiteres darauf stützen, daß die angefochtenen Bescheide wegen eines Verstoßes gegen die Anhörungspflicht nach § 34 Abs 1 SGB I aF rechtswidrig und aufzuheben seien. Es hat nicht geprüft, ob die genannten Beigeladenen überhaupt am Verwaltungsverfahren beteiligt oder zu beteiligen waren.
Eine Anhörungspflicht im Verwaltungsverfahren besteht nur, wenn der zu erlassende Verwaltungsakt in die Rechte eines "Beteiligten" eingreift (§ 34 Abs 1 SGB I aF = § 24 Abs 1 SGB X). Wer Beteiligter am Verwaltungsverfahren ist, war für den vom SGB erfaßten Bereich in der hier maßgeblichen Zeit, dh in der Zeit vor dem Inkrafttreten des SGB X (1. Januar 1981), noch nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt. Gleichwohl ist auch für diesen Zeitraum schon die Beteiligungsregelung des § 12 SGB X entsprechend anzuwenden; denn diese Vorschrift stellt lediglich eine Konkretisierung von allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsverfahrens dar, die auch früher schon gegolten haben. Bereits § 13 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes vom 25. Mai 1976 (VwVfG) enthält eine mit § 12 SGB X wörtlich übereinstimmende Vorschrift.
§ 12 Abs 1 SGB X nennt als Beteiligte des Verwaltungsverfahrens außer bestimmten kraft Gesetzes beteiligten Personen (Nr 1 bis Nr 3) "diejenigen, die nach Absatz 2 von der Behörde zu dem Verfahren hinzugezogen worden sind" (Nr 4). Dazu gehören zunächst diejenigen, die die Behörde nach ihrem Ermessen von Amts wegen oder auf Antrag hinzugezogen hat, weil ihre rechtlichen Interessen durch den Ausgang des Verfahrens berührt werden können (Abs 2 Satz 1). Zu den in Abs 1 Nr 4 genannten Personen gehören ferner Dritte, zu deren Hinzuziehung die Behörde verpflichtet ist, weil der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltende Wirkung für sie hat und sie einen Antrag auf Beteiligung gestellt haben; sie müssen von der Einleitung des Verfahrens benachrichtigt werden, soweit sie der Behörde bekannt sind (Abs 2 Satz 2).
Eine Beteiligung der Beigeladenen Lieb und Biel kraft Gesetzes kommt hier nicht in Betracht. Sie waren weder Antragsteller noch Antragsgegner noch Adressaten der Verwaltungsakte der Beklagten (§ 12 Abs 1 Nrn 1 und 2 SGB X); es gibt auch sonst keine Vorschrift, die ihre Beteiligung an einem Verfahren über das Bestehen von Versicherungspflicht bei ihrer Tätigkeit für die Klägerin vorsieht. Da sie sonach nicht zu den gesetzlich Beteiligten im Sinne des § 12 Abs 1 Nr 1 bis Nr 3 SGB X gehören, hätten sie als Dritte, auf die sich der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltend auswirkt (§ 12 Abs 2 Satz 2 SGB X, vgl dazu das Urteil des Senats vom 22. Juni 1983 in der Sache 12 RK 73/82), nur auf ihren Antrag von der Beklagten am Verfahren beteiligt werden müssen. Ein solcher Antrag ist nicht gestellt worden, möglicherweise deshalb, weil sie von der Beklagten nicht von der Einleitung des Verwaltungsverfahrens gegen die Klägerin benachrichtigt worden sind. Eine Pflicht zu ihrer Benachrichtigung bestand für die Beklagte aber nur, soweit sie der Beklagten "bekannt" waren (§ 12 Abs 2 letzter Halbsatz SGB X).
Aus dem Sinnzusammenhang dieser Vorschrift ergibt sich, daß die Behörde nur solche Personen benachrichtigen muß, die ihr bereits bei Einleitung des Verfahrens bekannt sind, und zwar so genau bekannt sind, daß sie ihnen ohne weiteres eine Nachricht geben kann. Die Behörde ist nicht gehalten, vor Einleitung eines Verwaltungsverfahrens zeitraubende Ermittlungen anzustellen, um alle als Beteiligte in Betracht kommenden Personen ausfindig zu machen. Das gilt insbesondere in Beitragssachen, wenn der Hauptbeteiligte, gegen den ein Beitragsbescheid ergehen soll, es unterlassen hat, Aufzeichnungen über die für ihn tätig gewordenen Personen zu machen. In Fällen, in denen durch vorschriftswidriges Verhalten dessen, den die Krankenkasse als Arbeitgeber ansieht, die Beitragspflicht erst mit großer Verspätung und im Angesicht drohender Verjährung festgestellt werden kann, ist es der Einzugsstelle nicht zuzumuten, weitere Verzögerungen des Verwaltungsverfahrens durch Ermittlung bisher unbekannter Personen hinzunehmen. Deren mögliche Interessen an einer vorherigen Anhörung müssen in einem solchen Fall hinter dem Interesse der Versichertengemeinschaft an der Vermeidung drohender Beitragsausfälle zurücktreten, zumal in aller Regel die Heranziehung des Arbeitgebers zu Beiträgen ihrem eigenen Vorteil dient.
Den dem Urteil des LSG zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen läßt sich nicht entnehmen, ob die Beigeladenen Lieb und Biel und gegebenenfalls welche weiteren für die Klägerin tätig gewordenen und möglicherweise noch zum Rechtsstreit beizuladenden Personen der Beklagten bei Einleitung des Verwaltungsverfahrens in einer für ihre Benachrichtigung ausreichenden Weise bekannt waren. Von den nachzuholenden Feststellungen wird es abhängen, inwieweit diese Personen entsprechend § 12 Abs 2 letzter Halbsatz SGB X zu benachrichtigen gewesen wären. Diese werden dann zu befragen sein, ob sie eine erneute Durchführung des Verwaltungsverfahrens unter ihrer Beteiligung beantragen (vgl das bereits genannte Urteil des Senats vom 22. Juni 1983). Bejahendenfalls wären insoweit die angefochtenen Verwaltungsakte der Beklagten aufzuheben. Im übrigen wird das LSG hinsichtlich der schon bei Einleitung des Verwaltungsverfahrens nicht bekannten Personen die Rechtsprechung des Senats zur Erhebung der Beiträge von der Lohnsumme bei Unmöglichkeit einer personenbezogenen Feststellung der Versicherungspflicht zu beachten haben (BSGE 41, 297; Urteile vom 23. Februar 1977 - 12 RK 34/76 - und vom 28. April 1977 - 12 RK 24/76 -).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen