Leitsatz (amtlich)
1. Hat der zur Vertretung eines Beteiligten befugte Amtsvormund (SGG § 166 Abs 1) ein innerhalb der Revisionsfrist eingegangenes Armenrechtsgesuch persönlich unterzeichnet, so ist der Vorschrift des SGG § 164 Abs 2 S 2 über die Revisionsbegründung genügt, wenn das Armenrechtsgesuch die zur Begründung der Revision erforderlichen Ausführungen enthält und der Amtsvormund in der rechtzeitig eingegangenen Revisionsschrift zur Begründung der Revision auf seine Ausführungen im Armenrechtsgesuch Bezug nimmt.
2. Die auf Grund des Kindergeldergänzungsgesetzes vom 1955-12-23 (KGEG) in der Invalidenversicherung eingeführte Waisenrente für Pflegekinder (RVO § 1258 idF des KGEG § 13 Nr 5) ist eine "andere Leistung" im Sinne von KGEG § 20 Abs 1). Demnach kann ein Pflegekind Waisenrente rückwirkend vom 1955-01-01 an auch dann erhalten, wenn der Versicherungsfall vor diesem Zeitpunkt eingetreten ist.
3. Pflegekinder im Sinne des RVO aF § 1258 Abs 2 Nr 7 in Verbindung mit KGG § 2 Abs 1 S 3 in der ursprünglichen Fassung vom 1954-11-13 sind Kinder, die in den Haushalt der Pflegeeltern aufgenommen sind, wenn zwischen ihnen und dem Pflegekind ein familienartiges, auf die Dauer berechnetes Band besteht und die Pflegeeltern den Unterhalt des Kindes mindestens teilweise bestreiten. Ein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen Enkeln und Großeltern ist auch schon für Zeiten vor Inkrafttreten ÄndG KGG des Art 1 Nr 1 Buchst c vom 1957-07-27 nicht deshalb abzulehnen, weil ein Elternteil des Kindes noch lebt und zum Unterhalt des Kindes beiträgt.
4. Der Tod des Versicherten ist für die Gewährung von Waisenrente auch dann "Versicherungsfall" im Sinne des RVO aF § 1258 Abs 2 Nr 7, wenn schon vorher ein Versicherungsfall (zB Invalidität) eingetreten war, der einen Rentenanspruch des Versicherten selbst begründet hatte. Dem Anspruch auf Waisenrente steht nicht entgegen, daß dem Versicherten für das Pflegekind kein Kinderzuschuß (RVO aF § 1271 Abs 1) zustand.
Normenkette
SGG § 164 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 166 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; RVO Abs. 2 Nr. 7 Fassung: 1955-12-23; RVO § 1271 Abs. 1 Fassung: 1955-12-23; KGG § 2 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1954-11-13; KGGÄndG Art. 1 Nr. 1 Buchst. c Fassung: 1957-07-27; KGEG § 13 Nr. 5 Fassung: 1955-12-23, § 20 Abs. 1 Fassung: 1955-12-23
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 8. Januar 1958 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 4. September 1957 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Waisenrente an die Klägerin vom 1. Januar 1955 an zu zahlen ist.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die ... 1944 geborene, seit ihrer Geburt im Haushalt der Eltern ihrer Mutter lebende Klägerin beantragte im August 1956 bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA.) durch das Jugendamt der Stadt E als Amtsvormund die Gewährung einer Waisenrente aus der Invalidenversicherung ihres am 10. April 1952 gestorbenen Großvaters, der von 1937 bis zu seinem Tode Invalidenrente bezogen hatte. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag durch Bescheid vom 14. November 1956 ab; die Klägerin - das uneheliche Kind der Tochter des verstorbenen Versicherten - sei nicht Pflegekind im Sinne des § 1258 Abs.2 Nr. 7 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F.. Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben und ausgeführt, ihr verstorbener Großvater sei bis zu seinem Tode ihr Ernährer gewesen; seitdem lebe sie ausschließlich von der Witwenrente ihrer Großmutter.
Das Sozialgericht (SG.) Aurich hat den angefochtenen Bescheid der Beklagten durch Urteil vom 4. September 1957 aufgehoben und hat sie verurteilt, an die Klägerin "entsprechend dem Rentenantrag vom 18. August 1956" die gesetzliche Waisenrente zu zahlen. Hierbei ging das SG. davon aus, daß die Klägerin Pflegekind im Sinne des § 1258 Abs. 2 Nr. 7 RVO a.F. sei. Nach dieser Vorschrift müsse bei dem vorliegenden Anspruch auf Waisenrente unter "Versicherungsfall" der Tod des Großvaters verstanden werden. Das Pflegekindschaftsverhältnis sei aber schon vor Eintritt dieses Versicherungsfalles begründet worden. Daher sei der Rentenanspruch der Klägerin gerechtfertigt.
Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte Berufung eingelegt. Versicherungsfall im Sinne des § 1258 Abs. 2 Nr. 7 RVO a.F. sei nicht der Tod des Großvaters, sondern der Eintritt seiner Invalidität. Da die Klägerin erst nach diesem Versicherungsfall in den Haushalt ihres Großvaters aufgenommen worden sei, bestehe kein Anspruch auf Waisenrente. Die Klägerin könne auch deshalb nicht als Pflegekind ihrer Großeltern angesehen werden, weil ihre Mutter noch lebe.
Das Landessozialgericht (LSG.) Celle hat das Urteil des SG. Aurich aufgehoben und die Klage abgewiesen: Waisenrentenansprüche seien seit dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 auch dann, wenn der Versicherungsfall vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sei, nur nach diesem Gesetz zu beurteilen. Pflegekinder im Sinne des § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO in der Fassung des ArVNG seien solche Kinder, die in den Haushalt von Personen aufgenommen würden, mit denen sie ein familienähnliches, auf längere Zeit berechnetes Band verknüpfe, wenn diese zu dem Unterhalt der Kinder nicht unerheblich beitrügen. Ein Pflegekindschaftsverhältnis setze voraus, daß das Kind mit Wissen und Willen seiner leiblichen Eltern aus ihrer Obhut und Fürsorge ausgeschieden und in die Fürsorge und den Haushalt des Pflegevaters übergetreten sei, und zwar so, wie wenn es sein leibliches Kind wäre. Das so begründete Band müsse familienartigen Charakter haben, müsse auf Dauer berechnet sein und auf sittlicher Grundlage beruhen. Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Falle sämtlich erfüllt, weil die Klägerin sich seit ihrer Geburt mit Wissen und Willen ihrer Mutter im Haushalt des Großvaters befunden habe und von diesem von Anfang an voll unterhalten und wie ein eigenes Kind behandelt worden sei. Nach § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO n.F. müsse das Pflegekindschaftsverhältnis jedoch vor Eintritt des Versicherungsfalles begründet worden sein. Als Versicherungsfall sei der Eintritt der Invalidität oder der Beginn der Altersrente zu verstehen, da die Bestimmung überflüssig wäre, wenn nur der Versicherungsfall des Todes gemeint wäre. Bei anderer Auslegung bestünde die Möglichkeit, daß Rentner im hohen Alter aus Erwerbsgründen gegen hohes Entgelt Pflegekinder aufnähmen, um diese alsbald in den Genuß von Waisenrente zu bringen. Im übrigen könne auch das Pflegekindschaftsverhältnis nach dem Tode des Versicherten nicht mehr begründet werden.
Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Das Urteil wurde dem Stadtjugendamt E, Amtsvormundschaft, am 29. Januar 1958 zugestellt. Die Klägerin hat am 5. Februar 1958, vertreten durch das Stadtjugendamt als Amtsvormund, die Bewilligung des Armenrechts und die Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt. Sie hat hierbei ausgeführt, es sei beabsichtigt, Revision einzulegen.
Zur Begründung ihres Armenrechtsgesuches hat die Klägerin vorgetragen, es habe ein echtes Pflegekindschaftsverhältnis bestanden, das vor Eintritt des Versicherungsfalles, des Todes des Pflegevaters, begründet worden sei.
Nachdem das Stadtjugendamt darauf hingewiesen worden war, daß es als gesetzlicher Vertreter eines unehelichen Kindes nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG. - (BSG. 3 S. 121) nicht dem Vertretungszwang des § 166 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unterliege, hat die Klägerin, vertreten durch das Stadtjugendamt, am 26. Februar 1958 Revision gegen das am 29. Januar 1958 zugestellte Urteil eingelegt und beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Celle sowie den Bescheid der Beklagten vom 14. November 1956 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Waisenrente gemäß ihrem Antrage vom 18. August 1956 zu gewähren.
Zur Begründung der Revision hat sie auf die Ausführungen in ihrem Armenrechtsgesuch verwiesen.
Die beklagte LVA. hat auf den Inhalt des angefochtenen Urteils und ihr bisheriges Vorbringen Bezug genommen; einen Antrag hat sie nicht gestellt.
Mit einem beim BSG. am 12. April 1958 eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin auf die Beiordnung eines Armenanwalts verzichtet.
II
Die Klägerin hat ihre Revision frist- und formgerecht eingelegt sowie ordnungsmäßig begründet. Sie ist im Revisionsverfahren nach den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes vertreten. Das Stadtjugendamt als gesetzlicher Vertreter der Klägerin ist nach § 166 Abs. 1 SGG vom Vertretungszwang befreit (vgl. BSG. 3 S. 121).
Der Prozeßvertreter der Klägerin hat zur Begründung der Revision auf das von ihm vor Einlegung der Revision eingereichte Armenrechtsgesuch Bezug genommen. Die Verweisung auf das Armenrechtsgesuch in der Revisionsbegründung wäre nur dann nicht zulässig, wenn das Armenrechtsgesuch von einem anderen als dem postulationsfähigen Prozeßvertreter der Klägerin vor dem Revisionsgericht unterschrieben wäre (RGZ. 117 S. 168 (169); vgl. auch BSG. in SozR. SGG § 164 Bl. Da 11 Nr. 29 und 30). Insbesondere würde auch eine Bezugnahme auf privatschriftliche Ausführungen der Partei nicht genügen (BGHZ. 22 S. 254). In diesen Fällen löst die Bezugnahme auf frühere Ausführungen Dritter berechtigte Zweifel darüber aus, ob der vor dem Revisionsgericht allein postulationsfähige Prozeßvertreter die volle Verantwortung für diese Ausführungen trägt. Im vorliegenden Verfahren hingegen - bei Bezugnahme auf ein von dem postulationsfähigen gesetzlichen Vertreter der Klägerin noch innerhalb der Revisionsfrist selbst eingereichtes Armenrechtsgesuch - ist die volle prozeßrechtliche Verantwortung des Prozeßvertreters der Revisionsinstanz für die in der Bezugnahme liegende Begründung der Revision klar erkennbar.
Die Revision der Klägerin ist auch sachlich begründet. Zu Unrecht ist das LSG. davon ausgegangen, daß der Anspruch der Klägerin nach § 1267 RVO i.d.F. des ArVNG zu beurteilen sei. Für den Anspruch auf Waisenrente schreibt Art. 2 § 20 ArVNG zwar vor, daß § 1267 RVO n.F. auch für Versicherungsfälle gilt, die vor dem Inkrafttreten des ArVNG eingetreten sind. Art. 2 § 44 ArVNG enthält aber eine besondere Vorschrift für solche Versicherungsfälle, die bereits Gegenstand schwebender Verfahren sind. Hier ist die rückwirkende Anwendung der Bestimmungen des ArVNG nur für Art. 2 § 8 und §§ 17 bis 19 vorgeschrieben. Daraus folgt, daß Art. 2 § 20 und damit auch die hier in Bezug genommene Regelung des § 1267 RVO n.F. im Falle eines schwebenden Verfahrens nicht Platz greifen, so daß insoweit das vor dem Inkrafttreten des ArVNG geltende Recht der RVO - § 1258 i.d.F. des § 13 Nr. 5 des Kindergeldergänzungsgesetzes vom 23. Dezember 1955, BGBl. I S. 841 (KGEG) - anzuwenden ist (vgl. auch die Entscheidung des erkennenden Senats vom 17.12.1957 in SozR. RVO § 1293 a.F. Bl. Aa 4 Nr. 5 und das Urteil des 4. Senats vom 24.10.1957, ebenda Bl. Aa 2 Nr. 4); denn die vorliegende Sache war, anders als in dem vom 4. Senat am 3. März 1960 entschiedenen Falle (vgl. hierzu BSG. 12 S. 35), am 1. Januar 1957 bereits rechtshängig.
Nach § 1258 RVO a.F. ist Voraussetzung für die Gewährung von Waisenrente, daß die den Anspruch erhebende Waise ein Kind des Versicherten ist. Wer in diesem Sinne als "Kind" gelten soll, bestimmt § 1258 Abs. 2 RVO a.F.. Hiernach (Nr. 7) gelten als Kinder u.a. die Pflegekinder im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes, wenn das Pflegekindschaftsverhältnis vor Eintritt des Versicherungsfalles begründet worden ist.
Die Klägerin ist - entgegen der Rechtsansicht der Beklagten - als Pflegekind ihres versichert gewesenen Großvaters anzusehen. Die Vorschrift des § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes (KGG), auf die § 1258 Abs. 2 Nr. 7 RVO a.F. zur Erläuterung des Begriffs "Pflegekinder" verweist, wurde zwar durch Art. I Nr. 1 Buchst. c des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften der Kindergeldgesetze vom 27. Juli 1957 (BGBl. I S. 1061) geändert. Da der den Waisenrentenanspruch begründende Versicherungsfall, nämlich der Tod des Versicherten, aber bereits vor dem Inkrafttreten des Änderungs- und Ergänzungsgesetzes vom 27. Juli 1957 eingetreten war, ist für die Beurteilung des vorliegenden Anspruchs die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltende Fassung des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG maßgebend. Denn das Änderungs- und Ergänzungsgesetz vom 27. Juli 1957 enthält weder ausdrücklich eine Vorschrift, wonach es Rückwirkung besitzt, noch ergibt sich sonst ein Anhalt dafür, daß es sich rückwirkende Kraft zugelegt hat (vgl. hierzu die bereits oben angeführte Entscheidung BSG. 12 S. 35). Für die Beurteilung des vorliegenden Anspruchs ist deshalb noch die mit Ablauf des 30. September 1957 außer Kraft getretene ursprüngliche Fassung des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG anzuwenden.
Danach gelten als Pflegekinder "alle Pflegekinder im Sinne von § 32 Abs. 4 Nr. 4 Buchstabe f des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vom 15. September 1953 (BGBl. I S. 1355) sowie die elternlosen Kinder, die von Großeltern oder Geschwistern versorgt werden". Zwar liegt hier, da jedenfalls die Mutter der Klägerin noch lebt, die zweite Alternative von § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG nicht vor. Indessen sind die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 4 Buchst. f des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1953 (§ 2 Abs. 1 Satz 2, erste Alternative) gegeben. Das EStG 1953, auf das § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG alter und auch durch das Kindergeldergänzungsgesetz vom 23. Dezember 1955 nicht geänderter Fassung verweist, enthält selbst keine Begriffsbestimmung des Pflegekindschaftsverhältnisses. Jedoch ist dieser Begriff in den Einkommensteuer-Richtlinien für das Kalenderjahr 1953 unter Nr. 146 Abs. 2 (BStBl. Teil I 1954 S. 77) erläutert. Dies ist aber der Begriff, den der Gesetzgeber des Kindergeldgesetzes gekannt hat und den er - mangels gegenteiliger Erklärung - im Auge gehabt haben muß. Hierzu lag damals auch bereits höchstrichterliche Rechtsprechung vor (vgl. BFH. in BStBl. 1953 III S. 74). Nach der auf der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs beruhenden Nr. 146 Abs. 2 der Einkommensteuer-Richtlinien 1953 ist ein Pflegekindschaftsverhältnis gegeben, wenn zwischen den Pflegeeltern und dem Pflegekind ein familienartiges, auf die Dauer berechnetes Band besteht, das Pflegekind im Haushalte der Pflegeeltern seine Heimat hat und die Pflegeeltern die Kosten für den Unterhalt und die Erziehung des Kindes mindestens teilweise tragen. Dieser Beurteilung schließt sich der Senat an (vgl. dazu auch bereits BSG. 12 S. 35). Da sich die Klägerin nach den von den Beteiligten nicht angegriffenen Feststellungen des LSG. seit ihrer Geburt im Haushalt des Großvaters befindet sowie von diesem von Anfang an voll unterhalten und wie ein eigenes Kind behandelt wurde, hat das LSG. das Bestehen eines Pflegekindschaftsverhältnisses mit Recht bejaht.
Auch die weitere Voraussetzung des § 1258 Abs. 2 Nr. 7 RVO a.F., daß das Pflegekindschaftsverhältnis "vor Eintritt des Versicherungsfalles" begründet worden ist, ist erfüllt. Nach dem Wortlaut und Zweck des § 1258 RVO a.F., der die Voraussetzungen für den Anspruch auf Waisenrente regelt, ist "Versicherungsfall" im Sinne des § 1258 RVO a.F. der Tod des Versicherten. Die Waisenrente setzt ebenso wie die übrigen Hinterbliebenenrenten (§ 1255 RVO a.F.) den Tod des Versicherten voraus, sie hat - wie die Hinterbliebenenrente - den Zweck, den Unterhalt zu ersetzen, den der Versicherte seinen Familienangehörigen im allgemeinen zu leisten hat.
Allerdings scheint der 2. Halbsatz des § 1258 Abs. 2 Nr. 7 RVO a.F. - "wenn das Pflegekindschaftsverhältnis vor Eintritt des Versicherungsfalles begründet worden ist" -, sofern man ihn nur auf die Waisenrente bezieht, etwas Selbstverständliches auszusprechen, denn nach dem Tode kann der Versicherte kein Pflegekindschaftsverhältnis mehr begründen. Die angeführte Fassung erklärt sich indessen daraus, daß § 1258 Abs. 2 Nr. 7 nicht nur für die Waisenrente gilt, sondern nach § 1271 RVO a.F. auch für den Kinderzuschuß; in diesem Zusammenhang ist die Einschränkung der Leistung sinnvoll. Die Voraussetzungen für die Gewährung der Waisenrente und des Kinderzuschusses (§ 1271 RVO a.F.) sind, soweit es sich um den Begriff "Kinder des Versicherten" handelt, für beide Leistungen einheitlich in § 1258 Abs. 2 RVO a.F. geregelt. Versicherungsfall für die Invalidenrente, von der der Kinderzuschuß nur ein Bestandteil ist (§ 1268 Abs. 1 RVO a.F.), ist nicht - wie bei der Waisenrente - der Tod, sondern der Eintritt der Invalidität oder die Vollendung des 65. Lebensjahres. Bei diesen Versicherungsfällen ist es denkbar, daß das Pflegekindschaftsverhältnis nach ihrem Eintritt begründet wird. Solche Veränderungen in den Lebensverhältnissen sollen aber, wenn der durch das versicherte Wagnis gekennzeichnete Versicherungsfall erst einmal eingetreten ist, keinen Einfluß mehr auf die Leistungspflicht des Versicherungsträgers haben. Vielmehr soll verhindert werden, daß Pflegekindschaftsverhältnisse allein im Hinblick auf die Erhöhung der Rente neu begründet werden, also mit dem Ziele, den Kinderzuschuß zu erhalten. Deshalb können nur solche auf Pflegekindschaftsverhältnissen beruhende Familienlasten bei Bemessung der Invalidenrente berücksichtigt werden, die bereits bei Eintritt des Versicherungsfalls vorhanden sind. Betrachtet man demnach, entsprechend der Systematik des Gesetzes, § 1258 im Zusammenhang mit § 1271 RVO a.F., so zeigt sich, daß die Voraussetzung "vor Eintritt des Versicherungsfalles" durchaus ihren Sinn hat, für die Waisenrente aber, weil selbstverständlich, entbehrlich ist.
Aus dem Umstand, daß § 1258 Abs. 2 Nr. 7 RVO a.F. sowohl für den Kinderzuschuß als auch für die Waisenrente die gleiche Leistungsvoraussetzung aufstellt, folgt aber - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht, daß dem Pflegekind eines Versicherten, der - wie im vorliegenden Fall - selbst keinen Anspruch auf Kinderzuschuß hatte, kein Anspruch auf die Waisenrente zusteht, weil der Versicherte für dieses Pflegekind keinen Anspruch auf den Kinderzuschuß hatte. Denn Kinderzuschuß und Waisenrente hängen von verschiedenen Versicherungsfällen ab, die Leistungen mit unterschiedlicher Zweckbestimmung auslösen. Der die Hinterbliebenenrenten beherrschende Grundsatz der Unterhaltsersatzfunktion erheischt, daß der Anspruch auf Waisenrente vor allem nach dieser Zwecksetzung beurteilt wird (vgl. auch die zu § 3 des Gesetzes vom 24.7.1941 ergangene Entscheidung des 1. Senats vom 8.5.1956, BSG. 3 S. 68 ff.). Geht man davon aus, daß die Waisenrente grundsätzlich den dem Kinde bisher von dem Versicherten gewährten Unterhalt wenigstens teilweise ersetzen soll, so muß auch ein Pflegekind, das der Versicherte nach dem Eintritt des Versicherungsfalls der Invalidität aufgenommen hat und für dessen Unterhalt er gesorgt hat, obgleich ihm für dieses Kind kein Kinderzuschuß zustand, einen Anspruch auf Waisenrente nach seinem Pflegevater haben. Die Befürchtung, daß der invalide Rentner ein Pflegekind allein wegen des künftigen Waisenrentenanspruchs des Pflegekindes aufnimmt, dürfte nur in seltenen Fällen begründet sein, da der Versicherungsfall des Todes nicht im voraus feststeht. Im vorliegenden Fall hat der im Jahre 1883 geborene Rentner, der von seinem 53. Lebensjahr an Invalidenrente bezogen hat, sein Enkelkind seit dessen Geburt noch mehr als sieben Jahre als Pflegekind betreut und unterhalten. In Fällen, in denen, wie das LSG. meint, Rentner im hohen Alter aus Erwerbsgründen gegen hohes Entgelt "Pflegekinder" aufnehmen, würde aber ein echtes Pflegekindschaftsverhältnis überhaupt nicht vorliegen. Deshalb kann der Ausschluß der Leistung für ein Pflegekind in einem Versicherungsfall (Invalidität oder Alter) nicht zwingend für die Entscheidung in einem späteren Versicherungsfall (Tod) sein. Demnach ist der Anspruch der Klägerin auf Waisenrente nach § 1258 RVO in der Fassung des Kindergeldergänzungsgesetzes vom 23. Dezember 1955 begründet.
Dieser Anspruch bestünde allerdings, wenn man vom Inkrafttreten des Kindergeldergänzungsgesetzes ausgeht (vgl. § 22), erst vom 1. Februar 1956 an. Die Klägerin hat aber darüber hinaus Rente bereits "entsprechend der Antragstellung vom 18. August 1956" beantragt, d.h. von dem Zeitpunkt an, der sich kraft Gesetzes aus ihrem Rentenantrag vom 18. August 1956 ergibt. Dieser Zeitpunkt ist der 1. Januar 1955. Nach § 20 Abs. 1 Buchst. a KGEG ist Waisenrente "auch für die zurückliegenden Monate" (§ 20 KGEG) zu gewähren, wenn der Versicherungsfall - wie hier - vor dem 1. Januar 1955 - nämlich bereits am 10. April 1952 - eingetreten war; denn § 20 Abs. 1 KGEG schreibt vor, daß die Leistungen nach dem Kindergeldergänzungsgesetz frühestens vom 1. Januar 1955 an gewährt werden können. Außerdem hat eine Beschränkung der Leistungen auf Zeiten vom 1. Januar 1955 an, die von der Klägerin nach ihrem insoweit klargestellten Revisionsantrag begehrt werden, überhaupt nur einen Sinn, wenn man annimmt, daß der den Waisenrentenanspruch begründende Versicherungsfall auch bereits vor dem 1. Januar 1955 eingetreten sein kann. Die danach getroffene Entscheidung gilt auch für die Rentenbezugszeit nach Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (vgl. hierzu auch die bereits oben angeführte Entscheidung BSG. 12 S. 35). Der Rückwirkung der Vorschrift des § 20 KGEG steht es auch nicht entgegen, daß es sich hier um eine Leistung aus der Invalidenversicherung handelt. § 20 KGEG gilt für jede Leistung, die durch das Kindergeldergänzungsgesetz eingeführt worden ist, nicht etwa nur für die nach dem Kindergeldergänzungsgesetz zu gewährenden Kindergeldleistungen im engeren Sinne der Kindergeldgesetzgebung. Zu den nach dem Kindergeldergänzungsgesetz neu begründeten Leistungen gehört aber auch die Waisenrente für Pflegekinder aus der Invalidenversicherung; denn die Notverordnung vom 8. Dezember 1931 (RGBl. I S. 699) hatte die bereits nach früherem Recht - unter bestimmten Voraussetzungen - vorgesehen gewesene Waisenrente für Pflegekinder beseitigt (vgl. Fünfter Teil Kapitel IV Abschn. 1 § 1 Abs. 2). Somit stellen auch die Leistungen auf Grund eines erst wieder durch § 13 Nr. 5 KGEG begründeten Anspruchs auf Waisenrente von Pflegekindern aus der Invalidenversicherung eine neu begründete "andere Leistung" im Sinne der Übergangsvorschrift des § 20 Abs. 1 KGEG dar.
Das angefochtene Urteil ist nach alledem aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Aurich mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß der Klägerin die Waisenrente vom 1. Januar 1955 an zu zahlen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen