Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährung von Geschiedenenwitwenrente nach Wegfall von Witwenrente
Orientierungssatz
Ist die Witwenrente der Witwe eines Versicherten wegen Wiederheirat weggefallen und erhält die Witwe eine Witwenrentenabfindung, so entsteht der Anspruch einer früheren Ehefrau des Versicherten auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 S 2 RVO auch dann, wenn nach Ablauf von 5 Jahren seit Wegfall der Witwenrente infolge Wiederheirat gemäß § 1291 Abs 1 RVO die Witwenrente nicht nach § 1291 Abs 2 wieder aufgelebt ist (vgl BSG 1969-06-26 12 RJ 70/68 = BSGE 29, 296).
Normenkette
RVO § 1265 S. 2 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, § 1291 Fassung: 1957-02-23, § 1302 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 22.09.1965) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 01.09.1964) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. September 1965 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früheren, im Oktober 1962 gestorbenen Ehemannes unter Berufung auf § 1265 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Zu entscheiden ist, ob die frühere Ehefrau des Versicherten Anspruch auf Hinterbliebenenrente hat, wenn nach Wiederheirat der Witwe des Versicherten und Gewährung einer Witwenrentenabfindung eine Witwenrente nicht mehr gezahlt wird.
Die im Oktober 1933 geschlossene Ehe des Versicherten mit der Klägerin wurde im September 1954 aus beiderseitigem Verschulden geschieden. Im November 1955 heiratete der Versicherte die Beigeladene. Den Antrag der Klägerin, ihr Hinterbliebenenrente zu gewähren, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 30. Mai 1963 ab. Sie gewährte der Witwe durch Bescheid vom 24. Juni 1963 Witwenrente vom 1. Oktober 1962 an. Während des Rechtsstreits heiratete die Witwe im November 1963 wieder. Die Beklagte stellte mit Ablauf des Monats November 1963 die Zahlung von Witwenrente ein und gewährte der Witwe als Abfindung das Fünffache des Jahresbetrages der bisher bezogenen Rente.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 1. September 1964 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 22. September 1965 zurückgewiesen. Es hat die Revision zugelassen. Nach seinen Feststellungen hat der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt nicht geleistet. Es hat angenommen, daß der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes Unterhalt weder nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) noch aus sonstigen Gründen zu leisten hatte, weil er nicht unterhaltsfähig im Sinne des § 59 EheG gewesen sei. Obgleich die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten unterhaltsbedürftig gewesen sei, stehe ihr ein Anspruch nach § 1265 Satz 2 RVO auch vom 1. Juli 1965 an nicht zu, weil der Fortfall eines Witwenrentenanspruchs infolge Wiederheirat der zweiten Ehefrau nicht den Tatbestand dieser Vorschrift erfülle.
Gegen das Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt, mit der sie unrichtige Anwendung des § 1265 Satz 2 RVO rügt. Die Revision führt aus, streitig zwischen den Beteiligten sei, ob § 1265 Satz 2 RVO den geschiedenen Frauen auch dann einen Hinterbliebenenrentenanspruch einräume, wenn eine Witwe vorhanden war und diese nach Wiederheirat eine Witwenrentenabfindung erhalten habe. Die Revision meint, die Begründung zur Neufassung des § 1265 Satz 2 RVO im Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik des Deutschen Bundestages (BT-Drucks. IV/2572; IV/3233) lasse eine weitgehende Gesetzesauslegung zu. Sie zwinge nicht zu dem Schluß, es müsse darauf abgestellt werden, daß der Versicherte keine Witwe hinterlassen habe. Für den Fall ihrer Wiederheirat scheide eine Benachteiligung für diese aus, denn mit dem Ablauf des Monats der Wiederheirat verliere sie den Rentenanspruch. Selbst das Wiederaufleben der Witwenrente nach § 1291 Abs. 2 RVO könne für eine Versagung des Anspruchs von Hinterbliebenenrente für die geschiedene Frau kein Grund sein, denn die vom LSG unterstellte doppelte Belastung des Versicherungsträgers mit einer vollen Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 2 RVO und einer Witwenrentenabfindung trete nicht ein, weil § 1291 Abs. 2 Satz 2 RVO dem entgegenstehe. Dem in dieser Vorschrift niedergelegten Grundsatz könne es auch nicht widersprechen, daß die Witwe, die eine neue Ehe eingehe, nach Auflösung dieser Ehe mit der früheren Ehefrau des Versicherten die Hinterbliebenenrente "geteilt" hinnehmen müsse, wie dies auch bereits der Fall sei, wenn eine oder mehrere Berechtigte nach § 1265 Satz 1 RVO vorhanden seien. Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG Niedersachsen vom 22. September 1965 und das Urteil des SG Lüneburg vom 1. September 1964 sowie den Bescheid der Beklagten vom 30. Mai 1963 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenrente vom 1. Juli 1965 an zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Wie sich aus der Revisionsbegründungsschrift der Klägerin ergibt, beansprucht sie die Gewährung von Hinterbliebenenrente nur noch unter Berufung auf die durch das Rentenversicherungsänderungsgesetz - RVÄndG - vom 9. Juni 1965 mit Wirkung vom 1. Juli 1965 eingefügte Vorschrift des § 1265 Satz 2 RVO. Diese Vorschrift gilt - wie das LSG schon ausgeführt hat - auch für Versicherungsfälle, die zwischen dem 1. Januar 1957 und dem 1. Juli 1965 eingetreten sind, also auch für den am 4. Oktober 1962 eingetretenen Versicherungsfall des Todes des früheren Ehemannes der Klägerin (Art. 1 § 1 Nr. 27, Art. 5 §§ 4, 6, 10 RVÄndG).
Nach § 1265 Satz 2 RVO findet § 1265 Satz 1 RVO auch dann Anwendung, wenn eine Witwenrente nicht zu gewähren ist und wenn eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten nicht bestanden hat. Nach den Feststellungen des LSG war die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten unterhaltsbedürftig und eine Unterhaltsverpflichtung ihres früheren Ehemannes hat nur deshalb nicht bestanden, weil er wegen seiner Vermögens- und Erwerbsverhältnisse nicht unterhaltsfähig war. Das LSG hat deshalb auch ausgeführt, daß der Klägerin seit dem 1. Juli 1965 eine Hinterbliebenenrente zu gewähren wäre, wenn § 1265 Satz 2 RVO anzuwenden, d. h. auch die Voraussetzung erfüllt wäre, daß "eine Witwenrente nicht zu gewähren" ist. Der Auffassung des LSG, daß der Fortfall eines Witwenrentenanspruchs infolge Wiederheirat der zweiten Frau nicht den Tatbestand des § 1265 Satz 2 RVO erfülle, vermag der Senat in dieser Allgemeinheit nicht beizupflichten.
Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 26. Juni 1969 - 12 RJ 70/68 - entschieden, daß die Anspruchsvoraussetzung des § 1265 Satz 2 RVO, nämlich daß "eine Witwenrente nicht zu gewähren" ist, nicht auf den Zeitpunkt des Todes des Versicherten beschränkt ist, wie auch der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits ausgesprochen hat (SozR Nr. 43 zu § 1265 RVO). Bei Wiederheirat der Witwe des Versicherten und Gewährung einer Witwenrentenabfindung an sie ist diese Anspruchsvoraussetzung vielmehr auch dann gegeben, wenn nach Ablauf von 5 Jahren seit Wegfall der Witwenrente infolge Wiederheirat gemäß § 1291 Abs. 1 RVO die Witwenrente nicht nach § 1291 Abs. 2 RVO wieder aufgelebt ist. Diese Anspruchsvoraussetzung besteht desweiteren solange fort, als die Witwenrente nicht wieder auflebt. Der Senat hat diese Rechtsfolgen den Grundgedanken entnommen, die in den §§ 1265 Satz 2, 1268 Abs. 4, 1291 Abs. 2 Satz 2 und 1302 RVO zum Ausdruck kommen. Mit diesen Vorschriften ist einerseits bezweckt, unbillige Härten gegenüber der früheren Ehefrau zu vermeiden. Andererseits sollen die Rechte der Witwe dadurch aber nicht beeinträchtigt werden. Und schließlich soll der Versicherungsträger nur eine einzige Witwen- oder Geschiedenenwitwenrente zu gewähren haben, welche die Witwe und die geschiedene Frau unter bestimmten Voraussetzungen unter sich teilen müssen.
Nach den Feststellungen des LSG hat die Witwe - die Beigeladene - am 15. November 1963 wieder geheiratet. Mit Ablauf des Monats November 1963 hat die Beklagte die Zahlung der Witwenrente eingestellt. Der Witwe ist als Abfindung das Fünffache des Jahresbetrages der bisher bezogenen Rente gewährt worden. Der Klägerin steht hiernach die Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 Satz 2 RVO vom 1. Dezember 1968 an zu, wenn inzwischen die Witwenrente nicht wiederaufgelebt ist, was wesentlich davon abhängt, ob in der Zwischenzeit die im November 1963 geschlossene Ehe der Beigeladenen etwa wieder aufgelöst worden ist. Da hierüber in dem angefochtenen Urteil Feststellungen nicht enthalten sind, kann das Revisionsgericht in der Sache selbst nicht entscheiden. Das LSG wird die zur Entscheidung erforderlichen Feststellungen noch zu treffen haben, so daß die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes).
Die Entscheidung darüber, inwieweit die Beteiligten außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten haben, bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen