Leitsatz (amtlich)
1. Der Versicherungsträger ist nicht verpflichtet, die bei ihm eingehenden (aufgerechneten) Versicherungskarten einzeln auf sofort erkennbare Beanstandungsgründe zu prüfen.
2. Die Überweisung fehlentrichteter freiwilliger Beiträge an den zuständigen Versicherungszweig ist nach AVG § 143 Abs 3 nur zulässig, wenn ein Wanderversicherter bei seiner Weiterversicherung den zuständigen Versicherungszweig verfehlt hat.
Normenkette
RVO § 1445 Fassung: 1934-05-17, § 1421 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, § 1423 Fassung: 1957-02-23; AVG § 143 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, § 145 Fassung: 1957-02-23
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Dezember 1960 aufgehoben.
2. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 16. Februar 1959 wird in vollem Umfang zurückgewiesen.
3. Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren und im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Beklagte bewilligte dem im Jahre 1900 geborenen Kläger durch Bescheid vom 5. Februar 1957 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit ab November 1956. Sie berechnete die Rente ausschließlich aus den von 1916 bis 1946 zur Arbeiterrentenversicherung (ArV) geleisteten Beiträgen und erklärte die nach Ausstellung der Angestelltenversicherungskarte Nr. 1 (Dezember 1947) von 1948 bis September 1956 freiwillig zur Angestelltenversicherung (AnV) entrichteten Beiträge für unwirksam.
Die auf Anrechnung auch dieser Beiträge gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Köln abgewiesen (Urteil vom 16. Februar 1959). Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat der Berufung des Klägers stattgegeben, soweit es sich um die vor Eintritt der Berufsunfähigkeit (Mai 1956) geleisteten Beiträge handelt (Urteil vom 7. Dezember 1960). Bei seiner Entscheidung hat das LSG nur das vor 1957 geltende Recht angewandt. Es stimmte der Beklagten darin zu, daß der Kläger von 1948 bis 1956 in der AnV weder versicherungspflichtig noch versicherungsberechtigt war, daß die AnV-Beiträge auch nicht in der ArV angerechnet werden dürften und daß die Beklagte das Recht zur Beanstandung der Beiträge nicht auf Grund der §§ 190 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF, 1445 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF verloren habe. Das LSG meinte jedoch, daß die Beklagte nach der "Lehre vom Rechtsschein, die auf dem Grundsatz von Treu und Glauben beruht", die Beiträge gleichwohl bei der Rentenberechnung berücksichtigen müsse, weil der Versicherungsträger die - im Dezember 1949 aufgerechnete - Angestelltenversicherungskarte Nr. 1 unbeanstandet entgegengenommen habe, obwohl die Eintragungen auf der Karte die fehlende Versicherungsbefugnis ohne weiteres offenbart hätten.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des materiellen Rechts; nach ihrer Meinung darf die unbeanstandete bloße Annahme von Versicherungskarten dem Versicherungsträger nicht zum Nachteil gereichen.
Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.
Gegen die Annahme des LSG, daß der Kläger in den Jahren 1948 bis 1956 - als selbständiger Fuhrunternehmer - in der AnV nicht versicherungspflichtig und in diesem Versicherungszweig damals auch nicht versicherungsberechtigt gewesen ist (vgl. §§ 1243, 1244 RVO aF, 13 Abs. 6 (AVG aF), sind keine Einwände erhoben worden; diese Auffassung ist auch richtig. Ebenso zutreffend ist die Schlußfolgerung des LSG, daß keine Vorschrift des gesetzten Rechts die Beklagte daran gehindert hat, die Beiträge bei der Rentenfeststellung vom 5. Februar 1957 als unwirksam zu beanstanden. Entgegen der Ansicht des LSG haben aber auch Grundsätze des Rechtsscheins und die Wahrung von Treu und Glauben die Beklagte nicht genötigt, die zu Unrecht entrichteten Beiträge bei der Rentenberechnung wie wirksame Beiträge zur AnV zu behandeln.
Das LSG folgt hier Gedankengängen, die es selbst schon in einem früheren, in Breithaupt 1958 S. 650, veröffentlichten Urteil ausführlich dargelegt hat (vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 656 c). Seine Überlegungen gründen sich auf die Auffassung, daß der Versicherungsträger auf Grund seiner Schutz- und Fürsorgepflicht gegenüber den Versicherten verpflichtet sei, die nach der Aufrechnung bei ihm eingehenden Versicherungskarten vor der Einordnung in das Kartenarchiv einzeln auf sofort erkennbare Beanstandungsgründe zu prüfen. Eine solche Prüfungspflicht bestand und besteht aber nicht (vgl. auch Urteil des erkennenden Senats vom 23. März 1965, 11/1 RA 198/62).
Es ist zwar richtig, daß der Versicherungsträger - zumal heute im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20, 28) - allgemein zur verständnisvollen Förderung der Versicherten verpflichtet ist und daß sich hieraus unter Umständen konkrete Pflichten zu Belehrungen, Hinweisen usw. gegenüber den Versicherten ergeben können (so der 4. Senat des Bundessozialgerichts - BSG - im Urteil vom 14. Juni 1962, SozR Nr. 3 § 1233 RVO, sowie Uffhausen, im "Juristenjahrbuch", 4. Bd., 1963, 206 ff, u. Hofmann, ZBR 1965, 6, 15). Auch wenn aber anerkannt wird, daß jeder Versicherte ein schutzwürdiges Interesse daran hat, daß die Unwirksamkeit von Beiträgen nicht erst unverhältnismäßig lange Zeit nach ihrer Entrichtung festgestellt wird, ist zu berücksichtigen, daß auch der Versicherungsträger ein nicht minder schutzwürdiges Interesse daran hat, daß er bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben nicht überfordert wird und daß Aufwand und Erfolg der Verwaltungsarbeit in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Wie die Entstehungsgeschichte der Vorschriften über die "unwirksamen Beiträge", insbesondere die des § 1445 RVO aF zeigt (vgl. dazu Hanow-Lehmann, Invalidenversicherung, 4. Aufl., § 1445 RVO, Anm. 2; RVA AN 1912, 676, 677 und 1914, 685, 689), ist sich auch der Gesetzgeber dieser Interessenlage bewußt gewesen; er hat in mehrfacher Hinsicht unbilligen Härten für den Versicherten vorgebeugt (§§ 1442 ff RVO aF, 140 AVG ff nF), zugleich jedoch dem Versicherungsträger regelmäßig bis zum Ablauf von 10 Jahren seit der Aufrechnung der Versicherungskarten die Beanstandungsmöglichkeit offengehalten; diese Regelung hat den Interessen aller Beteiligten und allen Gesichtspunkten der Billigkeit in erschöpfender Weise Rechnung tragen sollen (RVA AN 1914, 685, 689; Urteil des 12. Senats des BSG vom 26. Mai 1964 - 12/4 RJ 138/61 -). Angesichts dieser bereits vom Gesetzgeber vorgenommenen umfassenden Interessenabwägung erscheint es unzulässig, das Beanstandungsrecht des Versicherungsträgers noch weiter einzuschränken als es das Gesetz vorsieht. Gegen eine weitere Einschränkung in den vom LSG genannten Fällen spricht hier außerdem, daß dem Versicherungsträger damit eine Mehrarbeit aufgebürdet wird, die zu dem zu erwartenden Erfolg in keinem Verhältnis steht; der Versicherungsträger könnte nämlich die Entgegennahme der Versicherungskarten nicht mehr seinen Registraturkräften überlassen; er müßte vielmehr Fachkräfte, die im Versicherungsrecht ausgebildet sind, mit der Durchsicht aller eingehenden Versicherungskarten betrauen, obwohl es sehr zweifelhaft ist, ob sich auf diese Weise eine mangelnde Versicherungsbefugnis sogleich feststellen ließe. Das LSG meint zwar, die fehlende Versicherungsberechtigung habe sich hier unzweifelhaft aus der AnV-Karte Nr. 1 in Verbindung mit der Markenverwendung, dem Ausstellungsdatum und dem in der Karte eingetragenen Beruf und Geburtsdatum des Klägers ergeben. Dabei ist jedoch nicht beachtet, daß z. B. eine angegebene Kartennummer unrichtig sein kann und daß vor der Ausstellung der ersten Karte Zeiten liegen können, die bei der Prüfung der Versicherungsberechtigung zu berücksichtigen sind, so etwa, wenn vorher Beiträge in bar aus dem Ausland entrichtet worden sind oder wenn fremde Versicherungszeiten im Sinne des Fremdrentenrechts (vgl. für die Zeit ab April 1952 bis 1958 § 4 FAG) bzw. eine Nachversicherung die Befugnis zur Weiterversicherung vermitteln. Es würden sich daher in allen oder doch in fast allen Fällen weitere Ermittlungen nicht umgehen lassen, um die Frage der Versicherungsberechtigung zuverlässig zu klären. Der Senat kann deshalb die Auffassung des LSG nicht teilen, daß der Versicherungsträger die Versicherungskarten schon bei ihrem Eingang einzeln auf "offensichtliche Beanstandungsgründe" überprüfen muß (im Ergebnis ebenso die in EuM 2, 308, 311; 3, 212, 214; 10, 316, 319 und Bay 1954 S. 834 abgedruckten Entscheidungen früherer Landesversicherungsämter). Damit entfallen aber alle Folgen, die das LSG aus dem vermeintlichen Bestehen einer solchen Prüfungspflicht hat ziehen wollen.
Die Beklagte hat auch nicht die Möglichkeit, die streitigen Beiträge bei der Rentenberechnung als wirksame Beiträge zur ArV zu berücksichtigen. Der Kläger hätte sich nach § 1244 RVO aF in den Jahren 1948 bis 1956 zwar in diesem Versicherungszweig weiterversichern können. Die fehlerhafte Wahl des Versicherungszweiges durfte die Beklagte jedoch nicht richtigstellen, sie konnte insbesondere nicht die Beiträge zur ArV überweisen. Die Überweisung fehlentrichteter Beiträge mit der Folge, daß sie danach "als zu Recht entrichtete Beiträge" des richtigen Versicherungszweiges "gelten", hatte das alte Recht in § 1445 b RVO nur für Pflicht beiträge vorgesehen (BSG 4, 264; Urteil des 12. Senats aaO). Das neue Recht verpflichtet den Versicherungsträger allerdings auch zur Überweisung fehlentrichteter freiwilliger Beiträge, wenn die Weiterversicherung "nach § 10 Abs. 3 AVG" ("nach § 1233 Abs. 3 RVO") im gewählten Versicherungszweig nicht zulässig gewesen ist. Die Vorschrift des neuen Rechts (§ 143 Abs. 3 AVG), die das bestimmt, hat indes das LSG nicht angewandt, weil der Versicherungsfall hier vor 1957 eingetreten ist; das LSG hat aus Art. 2 § 6 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) entnommen, daß jedenfalls dann, wenn ein Rentenanspruch aus einem Versicherungsfall vor 1957 erhoben wird, alle für diesen Anspruch erheblichen Umstände - dazu gehören nach der Ansicht des LSG auch alle Fragen, die die Anrechenbarkeit von Beiträgen betreffen - nach dem alten Recht zu beurteilen seien. Zur Nichtanwendbarkeit des § 143 Abs. 3 AVG auf Beiträge für Zeiten vor 1957 ist auch der 12. Senat des BSG in dem schon zitierten Urteil vom 26. Mai 1964 gelangt, obwohl es sich in seinem Fall um einen reinen "Beitragsstreit" gehandelt hat. Der 12. Senat hat sich dabei auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz gestützt, daß neue Rechtssätze, welche die Rechtswirkungen von Tatsachen bestimmen, sich nur auf die nach dem Inkrafttreten der neuen Rechtssätze eintretenden Tatsachen beziehen. Es kann nun dahinstehen, ob mit diesen Erwägungen allein die Anwendbarkeit des § 143 Abs. 3 AVG auf fehlentrichtete freiwillige Beiträge für Zeiten vor 1957 - innerhalb oder außerhalb eines Rentenverfahrens - ausgeschlossen werden kann; es bedarf nämlich hier einer Entscheidung über die allgemeine Anwendbarkeit des § 143 Abs. 3 AVG auf Beiträge für Zeiten vor 1957 deshalb nicht, weil § 143 Abs. 3 AVG (§ 1421 Abs. 3 RVO) die Überweisung fehlentrichteter freiwilliger Beiträge an den richtigen Versicherungszweig nur zuläßt, wenn ein Wanderversicherter bei seiner Weiterversicherung den zuständigen Versicherungszweig verfehlt hat. Das ergibt die ausdrückliche Bezugnahme auf die Vorschrift des § 10 Abs. 3 AVG (§ 1233 Abs. 3 RVO); sie bestimmt allein, in welchem Versicherungszweig bei Wanderversicherten die Weiterversicherung zulässig ist. Die Einschränkung des durch § 143 Abs. 3 AVG begünstigten Personenkreises auf Wanderversicherte läßt sich nicht als ein Versehen des Gesetzgebers deuten; auch kann in der Anführung des § 10 Abs. 3 AVG nicht nur ein Beispiel für alle Fälle der Fehlentrichtung freiwilliger Beiträge gesehen werden. Dagegen spricht neben dem Gesetzeswortlaut vor allem die Entstehungsgeschichte des § 143 Abs. 3 AVG (§ 1421 Abs. 3 RVO). Während nämlich im Entwurf der Bundesregierung (Drucksache 2437, 2. Wahlp. 1953) jede Bezugnahme auf eine die Weiterversicherung regelnde Vorschrift fehlt und nach der Begründung nur eine "Zweifelsfrage zugunsten des Versicherten hat geklärt" werden sollen (vgl. demgegenüber jedoch BSG 4, 264), hat der Sozialpolitische Ausschuß des Bundestages dann der Vorschrift die jetzige Fassung gegeben, ohne daß irgendwie erläutert worden ist, welche Absicht die Bezugnahme auf § 10 Abs. 3 AVG (§ 1233 Abs. 3 RVO) verfolgt. Hiernach spricht jedenfalls vieles dafür, daß die Einschränkung auf Wanderversicherte gewollt gewesen ist, zumal sich dafür auch ein vernünftiger Grund anführen läßt: Wer nämlich in mehreren Versicherungszweigen pflichtversichert gewesen ist, kann den für die Weiterversicherung zuständigen Versicherungszweig immerhin leichter verfehlen und deshalb schutzwürdiger sein als derjenige, der vor der Weiterversicherung stets nur in einem Versicherungszweig pflichtversichert war. Ist es demnach aber nicht zulässig, § 143 Abs. 3 AVG auf andere Versicherte anzuwenden als die, die als Wanderversicherte die Versicherung im falschen Versicherungszweig freiwillig fortsetzen, dann kann die Vorschrift hier keine Anwendung finden; der Kläger ist vor der Entrichtung der hier streitigen Beiträge immer nur in einem Versicherungszweig versichert gewesen.
Ob der Kläger die vom LSG verneinte Möglichkeit hätte, Beiträge zur ArV noch für die Jahre 1948 bis 1956 nachzuentrichten, muß dahingestellt bleiben, da bei der Entscheidung über die Rentenhöhe die Möglichkeit der Nachentrichtung von Beiträgen so lange unerheblich ist, als Beiträge nicht tatsächlich nachentrichtet worden sind.
Auf die Revision der Beklagten ist daher das Urteil des LSG aufzuheben und, da der Senat abschließend entscheiden kann, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG in vollem Umfange zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen