Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Berufsschutzes Selbstversicherter (Anschluß an BSG 1966-07-28 12 RJ 568/64 = SozR Nr 60 zu § 1246 RVO).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. März 1964 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger, geboren am 31. Mai 1914, von Beruf selbständiger Landwirt, leistete von 1952 bis 1961 als Selbstversicherter (§ 21 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -, § 1243 der Reichsversicherungsordnung - RVO - in der alten, bis Ende 1956 geltenden Fassung, Art. 2 § 5 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten - AnVNG - vom 23. Februar 1957) Beiträge zur Angestelltenversicherung (AV). Im Juni 1961 erlitt der Kläger einen Gehirnschlag, der ua zu Lähmungserscheinungen führte. Den Antrag des Klägers, ihm eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6. Juni 1962 ab.
Das Sozialgericht (SG) Speyer verurteilte die Beklagte durch Urteil vom 3. Oktober 1963, dem Kläger ab 1. Juni 1961 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren: Die körperliche Leistungsfähigkeit des Klägers sei durch die Folgen des Gehirnschlags erheblich beeinträchtigt. Der Kläger könne daher einen größeren Teil der Arbeiten, die für den Eigentümer einer kleinen Landwirtschaft anfielen und meist mit größerer körperlicher Anstrengung verbunden seien, nicht mehr verrichten. Der Kläger müsse sich zwar auf andere Tätigkeiten verweisen lassen, doch sei die Verweisbarkeit sehr begrenzt, da er, abgesehen von seinen landwirtschaftlichen Berufskenntnissen, keine besondere Schul- und Berufsausbildung habe. Eine Verweisung auf die Tätigkeit eines ungelernten Fabrikarbeiters sei nicht zumutbar, da damit ein sozialer Abstieg verbunden sei. Für eine Tätigkeit als Verkäufer von landwirtschaftlichen Produkten sowie als Büroangestellter mit mehr als einfachen Arbeiten fehle dem Kläger die Vorbildung und geistige Wendigkeit.
Mit der Berufung machte die Beklagte geltend, der Kläger sei zwar als Landwirt berufsunfähig, dieser Beruf sei aber für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit nicht maßgebend; da der Kläger Selbstversicherter sei und somit seine Mitgliedschaft in der AV nicht auf den Beziehungen zu einem versicherungspflichtigen Beruf beruhe, könne er auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes und des sonstigen Erwerbslebens verwiesen werden.
Die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 4. März 1964 zurück: Der in § 23 Abs. 2 AVG festgelegte Begriff der Berufsunfähigkeit biete keinen Anhalt dafür, daß die Berufsunfähigkeit bei freiwillig Versicherten nach anderen Grundsätzen als bei Pflichtversicherten zu beurteilen sei. Hieraus folge zwar, daß sich auch der freiwillig Weiterversicherte und der nach altem Recht Selbstversicherte grundsätzlich auf andere als die bisher ausgeübten Berufstätigkeiten verweisen lassen müsse, die Verweisungsmöglichkeit sei jedoch sowohl dem Pflichtversicherten als auch dem freiwillig Versicherten gegenüber dadurch begrenzt, daß der Beruf, auf den der Versicherte verwiesen werde, zumutbar sein müsse. Eine Berufstätigkeit sei aber dann unzumutbar, wenn sie einen erheblichen sozialen Abstieg für den Versicherten bedeute. Der selbständig tätig gewesene Selbstversicherte müsse sich zwar auch auf eine abhängige Stellung verweisen lassen, aber nicht auf jede Berufstätigkeit, die seinen Kräften und Fähigkeiten entspreche, auch er genieße vielmehr insofern einen "Berufsschutz", als er keinen sozialen Abstieg hinnehmen müsse. Der Kläger komme nach seinem Gesundheitszustand und nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten nur noch für leichtere Tätigkeiten in einem Büro oder einer Fabrik in Betracht. Derartige Tätigkeiten seien aber dem Beruf eines - auch kleinen - selbständigen Landwirts weder wirtschaftlich noch sozial gleichwertig, sie seien ihm daher nicht zuzumuten.
Das LSG ließ die Revision zu. Die Beklagte legte formgerecht und fristgemäß Revision ein. Sie beantragte,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 4. März 1964 und das Urteil des SG Speyer vom 3. Oktober 1963 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Beklagte rügte, das LSG habe § 23 Abs. 2 AVG verletzt. Es habe zu Unrecht die Auffassung vertreten, bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit des selbstversicherten Klägers sei sein bisheriger Beruf im Rahmen des § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG zu berücksichtigen; richtig sei vielmehr, daß der Kläger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden dürfe.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG) und auch begründet. Sie hat die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur Folge.
Das LSG hat angenommen, der Kläger, ein selbständiger "Kleinlandwirt", der nur als Selbstversicherter Beiträge zur AV entrichtet hat (§§ 21 AVG aF, 1243 RVO aF, Art. 2 § 5 AnVNG), sei berufsunfähig (§ 23 Abs. 2 AVG), weil er wegen der Folgen eines Gehirnschlags (mit körperlichen und neurologischen Begleiterscheinungen) einen großen Teil der Arbeiten, die für den Eigentümer einer kleinen Landwirtschaft anfielen und meist mit größerer körperlicher Anstrengung verbunden seien, nicht mehr verrichten könne. Es hat dazu festgestellt, als Tätigkeiten, die der Kläger noch ausüben könne, ohne gesundheitlich und "wissens- und könnensmäßig" überfordert zu werden, kämen nur leichte Arbeiten in einem Büro oder einer Fabrik, ungelernte Tätigkeiten einfacher Art in Betracht; die Verweisung des Klägers auf solche Tätigkeiten sei unzumutbar, weil sie weder wirtschaftlich noch sozial mit dem Beruf eines - auch kleinen - selbständigen Landwirts gleichwertig seien.
Die Ausführungen des LSG lassen nicht erkennen, daß das LSG bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit des Klägers von zutreffenden rechtlichen Erwägungen ausgegangen ist. Das LSG ist zwar zu Recht der Auffassung der Beklagten, ein Selbstversicherter sei ohne Rücksicht auf seinen bisherigen Beruf stets auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu verweisen, nicht gefolgt, sondern ist davon ausgegangen, daß auch bei Selbstversicherten nach § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG der bisherige Beruf zu berücksichtigen ist; es hat jedoch verkannt, daß dies nur eingeschränkt gilt. Bei der Prüfung der für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit entscheidenden Frage, welche Tätigkeiten zumutbar sind, ist bei einem Selbstversicherten dessen bisheriger Beruf nur insoweit zu berücksichtigen, als die entrichteten Beiträge zur Rentenversicherung ihm entsprechen; nur insoweit genießt ein Selbstversicherter "Berufsschutz". Diese Auffassung hat schon der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in dem Urteil vom 28. Juli 1966 - 12 RJ 568/64 - (SozR Nr. 60 zu § 1246 RVO) vertreten und begründet; er hat hierbei erwogen, daß die Pflichtversicherten, die wegen ihrer beruflichen Qualifikation Berufsschutz genießen, im allgemeinen auch ein entsprechend hohes Einkommen haben und Beiträge entsprechend diesem Einkommen entrichten (§ 1385 Abs. 3 RVO = 112 Abs. 3 AVG), sich mithin den Berufsschutz durch ihrer beruflichen Qualifikation angemessene Beiträge verdienen. Der 12. Senat hat weiter ausgeführt: "Bei den Pflichtversicherten sind so berufliche Qualifikation und Beitragsleistung gekoppelt. Dies tritt nicht nur in der Rentenhöhe, sondern bereits im Versicherungswagnis zutage. Der Selbstversicherte hatte bis 31. Dezember 1956 nach § 1440 Abs. 1 RVO aF (§ 185 AVG aF; § 7 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes - SVAG -) die Pflicht und hat seitdem die Möglichkeit, ebenfalls die seinem Einkommen und damit seiner beruflichen Qualifikation entsprechenden Beiträge zu entrichten. Hat er dies aber nicht getan, so kann er nicht den Berufsschutz beanspruchen, den er bei einer seiner beruflichen Qualifikation angemessenen Beitragsentrichtung gehabt hätte. Bei der Feststellung der Tätigkeiten, auf die ein Selbstversicherter verwiesen werden kann (§ 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO; § 23 Abs. 2 AVG) ist daher der bisherige Beruf nur insoweit zu berücksichtigen, als die Höhe der von dem Selbstversicherten entrichteten Beiträge ihm entspricht. Das kann bei einem Selbstversicherten, der seiner beruflichen Stellung unangemessen niedrige Beiträge entrichtet hat, dazu führen, daß sein Berufsschutz je nach der Höhe der entrichteten Beiträge mehr oder weniger stark gemindert wird oder sogar ganz entfällt. Es wäre eine unverständliche und sicherlich nicht im Sinne des Gesetzgebers liegende unbillige Bevorzugung der Selbstversicherten gegenüber den Pflichtversicherten, wenn sie einen Berufsschutz genießen, ohne ihn durch entsprechende Beiträge erworben zu haben." Der erkennende Senat schließt sich diesen Ausführungen an.
Die Frage, ob für den Kläger als selbständigen "Kleinlandwirt" die Verweisung auf ungelernte Tätigkeiten unzumutbar ist, hängt danach zunächst davon ab, ob sich seine "berufliche Qualifikation" wesentlich über solche Tätigkeiten herausgehoben hat. Der Regelung des § 23 Abs. 2 AVG liegt der Gedanke zugrunde, daß ein Versicherter, der in seinem Beruf nicht wieder tätig sein kann, wirtschaftliche und soziale Einbußen in begrenztem Umfang in Kauf nehmen muß, bevor er als berufsunfähig angesehen wird. Er muß sich auch auf sozial geringer bewertete Tätigkeiten verweisen lassen, wenn der damit verbundene soziale Abstieg nicht wesentlich ist. Das LSG hat zwar - zu Recht - erwähnt, "es könne nicht gesagt werden, daß die Stellung eines selbständig Tätigen gegenüber der des Arbeitnehmers regelmäßig ein besseres soziales Ansehen genieße", es hat jedoch keine auf den Einzelfall eingehende Feststellungen getroffen, die die soziale Wertung der selbständigen Tätigkeit des Klägers in den Jahren 1952 bis 1961 im Vergleich zu der eines ungelernten Arbeitnehmers zulassen; solche Feststellungen sind aber notwendig, weil nicht ohne weiteres auszuschließen ist, daß im Einzelfall die "berufliche Qualifikation" eines selbständigen "Kleinlandwirts" nicht wesentlich höher zu bewerten ist als die eines ungelernten Arbeitnehmers, so daß schon aus diesem Grund ein "Berufsschutz" entfallen kann. Hat ein Versicherter eine selbständige Erwerbstätigkeit - wie es auch in der Landwirtschaft vorkommt - nur in so kleinen Verhältnissen ausgeübt, daß seine wirtschaftlichen Erträge auf die Dauer das Lohneinkommen für ungelernte Tätigkeiten nicht überstiegen haben, hat er nur im Rahmen einer solchen selbständigen Erwerbstätigkeit Berufserfahrung gewonnen und Eigenverantwortung entfaltet, so kann bei seiner Verweisung auf ungelernte Tätigkeiten nicht von einem wesentlichen sozialen Abstieg gesprochen werden. Ob dies bei dem Kläger zutrifft oder nicht, läßt sich aus den Feststellungen des LSG nicht entnehmen. Ist aber der "bisherige Beruf" des Klägers als selbständiger "Kleinlandwirt", wie das LSG - allerdings ohne nähere Feststellungen - angenommen hat, "wirtschaftlich und sozial" höher zu bewerten, als die abhängigen Tätigkeiten, die der Kläger noch ausüben kann, so ist die Verweisung auf solche Tätigkeiten gleichwohl zumutbar, wenn die "sozialversicherungsrechtliche Wertung" des bisherigen Berufs, die der Versicherte selbst durch seine Beitragsleistung vorgenommen hat, nicht höher liegt, als die der "Verweisungstätigkeiten". Das bedeutet für den vorliegenden Fall: Die Verweisung des Klägers auf ungelernte Tätigkeiten (einfacher Art) ist nur dann unzumutbar, wenn er während seiner Selbstversicherungszeit jedenfalls überwiegend höhere freiwillige Beiträge geleistet hat, als ein ungelernter Arbeitnehmer Pflichtbeiträge hätte entrichten müssen; wenn sich der Kläger also den "Berufsschutz" durch höhere Beiträge erworben hat. Die Verweisung des Klägers auf ungelernte Tätigkeiten ist aber schon dann zumutbar, wenn er zuletzt und während einer längeren Zeit (3 Jahre) freiwillige Beiträge geleistet hat, die nur den Pflichtbeiträgen eines ungelernten Arbeitnehmers entsprechen (oder noch geringer gewesen sind), selbst wenn er früher höhere Beiträge geleistet hat. Ebenso wie ein Pflichtversicherter, der erkennbar einer bis dahin ausgeübten Berufstätigkeit nicht weiter nachgehen will und sich endgültig einer anderen Berufstätigkeit zuwendet, sich dadurch von seiner bisherigen Berufstätigkeit löst, so daß für ihn die bis dahin ausgeübte Tätigkeit als "bisheriger Beruf" im Sinne des § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG ausscheidet, ist für den Selbstversicherten eine erkennbar endgültige Änderung in der sozialversicherungsrechtlichen Wertung seines "bisherigen Berufs", die in dem (dauernden) Übergang zu niedrigeren Beiträgen Ausdruck findet, von Bedeutung (vgl. auch Urteile des BSG vom 28.5.1963, SozR Nr. 33 zu § 1246 RVO und vom 15.12.1961 - SozR Nr. 16 zu § 1246 RVO).
Da das LSG nicht die nach der Rechtslage erforderlichen Feststellungen, insbesondere über die von dem Kläger geleisteten Beiträge getroffen hat, ist eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits nicht möglich. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben; die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen