Leitsatz (amtlich)
Die Voraussetzungen des RVO § 624 für die Versagung der Leistungen sind im Falle eines Rechtsstreites über die Pflicht des Verletzten zur Duldung einer Operation nicht vor Abschluß dieses Streitverfahrens gegeben.
Normenkette
RVO § 624 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Mai 1966 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger erlitt am 9. Juli 1960 bei der Arbeit eine Fingerschädigung an der rechten Hand. Dafür gewährte ihm die Beklagte eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. Als Unfallfolgen erkannte sie an: Verlust der rechten Daumenkuppe und des rechten Zeigefingers bis auf einen Rest des Grundgliedes sowie Beugebehinderung des Mittelfingers. Anläßlich einer Nachuntersuchung sprach sich der Facharzt für Chirurgie Dr. B für das Vorliegen einer Besserung im Befund der Unfallfolgen aus und schätzte die MdE auf 10 v.H. Von einer Nachamputation im Zeigefinger versprach er sich wegen der Beugestellung und der Narbenbeschwerden keine günstige Beeinflussung der Erwerbsfähigkeit des Klägers. Die Beklagte entzog daraufhin dem Kläger die Rente. Das Klage- und Berufungsverfahren führte zur Weitergewährung der Rente von 20 v.H. der Vollrente, nachdem im Berufungsverfahren die Orthopäden Prof. Dr. W und Dr. J vom O-Heim in B die Ansicht vertraten, die Unfallfolgen riefen zwar noch eine MdE von 20 v.H. hervor, doch könne durch eine Operation die Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand gebessert werden. Der Kläger war bereit, sich alsbald von Prof. Dr. W über die Durchführung und Folgen einer Fingeroperation beraten zu lassen und bis spätestens 20. Juni 1964 der Beklagten mitzuteilen, ob er sich der Operation unterziehen werde. Die Untersuchung und Beurteilung der operativen Heilungschancen fanden am 27. Mai 1964 im O-Heim statt. Die beiden angeführten Ärzte äußerten sich über das Ergebnis der Beratung dahin, daß die in Betracht kommende Operation zweckdienlich und zumutbar sei.
Der Kläger beanstandete gegenüber der Beklagten die Durchführung der ärztlichen Untersuchung und Beratung, und zwar vor allem deshalb, weil sein Prozeßbevollmächtigter nicht im Ordinationszimmer habe zugegen sein dürfen und die Untersuchung auch nicht sorgfältig vorgenommen worden sei. Die Beklagte hörte noch ihren Beratungsarzt Privatdozent und Chirurg Dr. B in M, der sich für eine Erfolgsaussicht der Nachamputation aussprach und den Kläger für verpflichtet hielt, den Eingriff zu dulden.
Die Beklagte teilte durch Bescheid vom 26. Oktober 1964 dem Kläger folgendes mit: Wegen der Art der Verletzung sei ein operativer Eingriff in einer Heilanstalt durchzuführen. Durch die Heilanstaltspflege sei eine wesentliche Besserung der Funktionsfähigkeit der rechten Hand zu erwarten. Diese Heilmaßnahme sei zumutbar im Sinne des § 624 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sofern sich der Verletzte ohne triftigen Grund der angeordneten Maßnahme der Heilbehandlung entziehe, müßten auf Grund des § 624 RVO die Rentenleistungen mit Wirkung vom 1. Juli 1965 in voller Höhe versagt werden.
Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg.
Mit der Berufung hat der Kläger im wesentlichen geltend gemacht, er wolle sich nicht grundsätzlich gegen die Vornahme der Nachamputation wehren, er sei aber wegen der seiner Meinung nach nicht ausreichenden Beratung durch Prof. Dr. W noch nicht davon überzeugt, daß die Operation den erwarteten Erfolg haben werde, und halte sie deshalb zunächst noch nicht für zumutbar. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 23. Mai 1966 das erstinstanzliche Urteil und den Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 1964 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. Februar 1965 dahingehend geändert, daß die Versagung der Rente erst mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Heilmaßnahme eintrete und die Rente somit bis zu diesem Zeitpunkt zu zahlen sei; im übrigen hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung ist u.a. ausgeführt: Die Anordnung der Operationsduldung und die Versagung der Leistung seien von der Beklagten zu Recht in einem Bescheid zusammen ausgesprochen worden. Jedoch könne, solange über die Anordnung einer Maßnahme der Heilbehandlung nicht rechtskräftig entschieden sei, die Versagung der Rente nicht in Kraft treten. Die Versagung der Rente sei ein bedeutsamer und schwerer Einbruch in die Rechtssphäre des Verletzen. Dies rechtfertige den angeführten Grundsatz. Entscheidend sei, daß der angefochtene Anordnungsbescheid erst bindend geworden sein müsse, um im Sinne des § 624 RVO wirksam werden zu können (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Vor rechtskräftigem Abschluß des Streitverfahrens könne diese Bindung in der Sache zwischen den Beteiligten nicht eintreten; dies habe im Falle des § 624 RVO zur Folge, daß ein schwebender Zustand bestehe, währenddessen es offenbleibe, ob vom Kläger verlangt werden dürfe, daß er sich der Heilmaßnahme zu unterziehen habe. Solange zwischen den Beteiligten nicht bindend festgestellt sei, daß die Anordnung rechtmäßig sei und die Weigerung des Klägers auf schuldhaftem Verhalten beruhe, dürfe ihm die Rente nicht versagt werden.
Die Revision ist hinsichtlich der Entscheidung über den Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Versagung der Rente zugelassen, weil die Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung habe.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 7. Juni 1966 zugestellte Urteil am 27. Juni 1966 Revision eingelegt und sie innerhalb der bis zum 7. September 1966 verlängerten Revisionsbegründungsfrist begründet: Sie habe den Beginn der Rentenversagung auf den 1. Juli 1965 bestimmt, um dem Kläger Zeit für seine Entschließung über die Duldung der ihm zumutbaren Operation zu geben. Nach diesem Zeitpunkt wäre auch wahrscheinlich die MdE des Klägers auf weniger als 20 v.H. herabgesunken. Aus der gerichtlichen Bestätigung der Operationsduldungspflicht des Klägers ergebe sich zwangsläufig die Notwendigkeit, den Versagungsbescheid auch hinsichtlich des in ihm festgesetzten Zeitpunktes zu bestätigen. Dieses Ergebnis rechtfertige sich überdies auch aus dem Vergleich der Regelung des § 624 RVO mit der sich aus den §§ 622, 623 RVO ergebenden Rechtslage. Bei der Herabsetzung und Entziehung der Rente trete die Wirkung des Bescheides auch nicht erst vom Zeitpunkt der Rechtskraft an ein. Es sei nicht einzusehen, weshalb ein Versicherter, der sich zu Unrecht nicht einer Anordnung aus § 624 RVO beuge, besser gestellt sein solle als ein Versicherter, der lediglich gesünder (§ 622 RVO) geworden sei und keinerlei seinen Pflichten aus dem Versicherungsverhältnis widersprechendes Verhalten an den Tag lege. Insoweit unterscheide sich dogmatisch § 624 nicht von § 622 RVO. Nach dieser Vorschrift komme der Rentenanspruch zum Fortfall; bei § 624 RVO gehe es um das gleiche Ergebnis.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er pflichtet den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei.
II
Im Revisionsverfahren ist nur noch streitig, von wann an die Rente versagt werden darf. Bedenken gegen die Statthaftigkeit der Revision bestehen deshalb nicht (vgl. BSG SozR Nr. 170 zu § 162 SGG). Die zulässige Revision hatte jedoch keinen Erfolg.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß § 624 RVO die gesetzliche Grundlage für die Beurteilung des vorliegenden Rechtsstreits ist; denn diese Vorschrift gilt nach Art. 4 § 2 Abs. 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) auch für den im Jahre 1960 eingetretenen Arbeitsunfall des Klägers.
Die allein noch strittige Frage, ob die Rentenversagung schon mit dem im Bescheid der Beklagten festgesetzten Zeitpunkt - nämlich dem 1. Juli 1965 - oder erst mit der Beendigung des Streitverfahrens über den Versagungsbescheid beginnt, ist nach Auffassung des erkennenden Senats in dem angefochtenen Urteil zutreffend entschieden.
Es ist rechtlich nicht zu beanstanden, daß die Beklagte die Aufforderung an den Kläger, die von ihr für zweckdienlich erachtete Operation an seiner rechten Hand zu dulden, und für den Fall, daß sich der Kläger ohne triftigen Grund weigere, die Operation vornehmen zu lassen, die Versagung der Leistung in ein und demselben Bescheid ausgesprochen hat (vgl. RVA EuM 45, 15; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-6. Aufl., Bd. II S. 601; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 10 e zu § 624 RVO; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Teil 2, S. 134).
Die nach § 624 RVO in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellte Befugnis, die Leistungen unter den in dieser Vorschrift angeführten Voraussetzungen zu versagen, ist dadurch gekennzeichnet, daß der Verletzte aus dem Versicherungsverhältnis verpflichtet ist, an der Durchführung der vom Versicherungsträger für zweckdienlich erachteten, ihm zumutbaren Maßnahme mitzuwirken. Bei einem Streit über das Bestehen dieser Mitwirkungspflicht kann dem Versicherten ein die Versagung der Rente nach § 624 RVO rechtfertigender Verstoß gegen seine Pflichten aus dem Versicherungsverhältnis erst angelastet werden, wenn der Versicherte von dem ihm gegen die Anordnung der Heilmaßnahme zur Verfügung stehenden Rechtsschutz erschöpfend Gebrauch gemacht hat.
Im vorliegenden Streitfall hätte sich der Kläger zur Vermeidung der Rentenversagung einer zur Besserung der Unfallfolgen geeigneten und erforderlichen Nachamputation im Zeigefinger der rechten Hand unterziehen müssen. Die Rente hätte ihm jedoch erst entzogen werden dürfen, wenn er sich ohne triftigen Grund dem ihm zumutbaren operativen Eingriff entzogen hätte. Solange der vorliegende Rechtsstreit über seine Mitwirkungspflicht an der Operation nicht abschließend entschieden war, konnte ihm die Beklagte keinen die Leistungsversagung begründenden Verstoß gegen seine Pflichten aus dem Versicherungsverhältnis wirksam entgegenhalten. Er durfte daher die von ihm geforderte Entschließung über die Mitwirkung bei der Operation erst nach Abschluß des Streitverfahrens über die Duldung und Zumutbarkeit des Eingriffs treffen. Mit dieser Entscheidung folgt der erkennende Senat der in Rechtsprechung und Schrifttum einhellig vertretenen Auffassung jedenfalls insoweit, als die Rente nicht vor Eintritt der Bindungswirkung des Bescheides versagt werden kann (s. RVA EuM 45, 15; Bayer. LVAmt in Versicherungswissenschaft 1949, 221; Brackmann aaO Bd. II S. 601; Lauterbach aaO Anm. 10 e zu § 624 RVO; Podzun aaO Teil 2, S. 134). Hiernach hält das angefochtene Urteil der von der Beklagten mit der Revision begehrten rechtlichen Nachprüfung stand.
Die Revision ist zu Unrecht der Ansicht, es könne bei der Versagung der Rente nichts anderes gelten als bei der Entziehung oder Herabsetzung der Rente; der Bescheid über die Entziehung oder Herabsetzung der Rente habe keine aufschiebende Wirkung. Die Revision verkennt hierbei, daß die für die Versagung der Rente auf Grund des § 624 RVO maßgebende Frage nicht die aufschiebende Wirkung eines Bescheides betrifft; entscheidend ist vielmehr, ob die Voraussetzungen der Versagung der Rente zu einem bestimmten Zeitpunkt vorgelegen haben. Vor allem übersieht die Revision, daß die Entziehung oder Herabsetzung der Rente auf einer Änderung der objektiven Verhältnisse beruht. Im Unterschied hierzu wird die Rente nach § 624 RVO versagt, weil der Verletzte sich seiner Mitwirkungspflicht entzogen hat. Deshalb ist auch entgegen der Ansicht der Revision ein Verletzter, der sich durch die Duldung der Operation einem nicht unerheblichen Eingriff in seine Persönlichkeitssphäre ausgesetzt sehen kann, nicht besser gestellt als ein Verletzter, dem die Rente entzogen oder herabgesetzt wird, weil die Unfallfolgen bereits abgeklungen sind oder sich wesentlich gebessert haben.
Da nur die Beklagte Revision eingelegt hat, kann hier dahinstehen, ob die Rente schon mit dem Eintritt der Bindungswirkung versagt werden darf, wenn der Verletzte sich nach Erlaß der gerichtlichen Entscheidung unverzüglich bereit erklärt, an der vorgesehenen Maßnahme gemäß § 624 RVO mitzuwirken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen