Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufung. Statthaftigkeit. Berufungsausschließungsgrund. Pflegegeld. Kausalität
Orientierungssatz
1. Beim Pflegegeld nach § 558c RVO enthält das SGG keinen Berufungsausschließungsgrund. Beim Pflegegeld handelt es sich nicht um eine einmalige, sondern um eine wiederkehrende Leistung.
2. Macht ein Unfallverletzter nach Amputation der linken Hand Schmerzen im rechten Arm geltend und führt er diese Symptome auf die Amputation zurück, so ist die Berufung nach § 150 Nr 3 SGG statthaft.
Normenkette
RVO § 558c; SGG § 150 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 15.12.1955) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 15. Dezember 1955 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die Klägerin erlitt am 11. April 1945 in der Haus- und Gartenwirtschaft ihres Ehemannes einen Arbeitsunfall. Sie stieß sich beim Füttern der Kaninchen eine Distel in den linken Daumen. Es entwickelte sich eine Phlegmone, die zur Amputation der linken Hand und des linken Unterarms führte.
Die Klägerin beansprucht deswegen eine Verletztenrente und ein laufendes Pflegegeld wegen Hilflosigkeit. Zum Nachweis der Anspruchsvoraussetzungen legte sie der beklagten Berufsgenossenschaft ein Gutachten ihres Hausarztes Dr. W vor. Die Beklagte holte ein Gutachten von Prof. Dr. H ein, der im Juli 1945 die Amputation vorgenommen hatte. Nach beiden Gutachten ist die Klägerin nicht nur dadurch erheblich behindert und in ihrer Erwerbsfähigkeit beschränkt, daß der linke Unterarm fehlt, vielmehr ist auch ihre rechte Hand nur sehr beschränkt gebrauchsfähig. Es finden sich gelenkrheumatische Versteifungen im Bereich der Mittelgelenke der Finger. Nach dem Gutachten des Prof. Dr. H sind die Veränderungen der rechten Hand nicht auf den Unfall vom April 1945 zurückzuführen, sondern eine Erkrankung eigener Art. Dr. H schätzte die durch das Fehlen des linken Unterarms verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) für ein halbes Jahr auf 80 v. H., für die spätere Zeit auf 50 v. H. Unter Berücksichtigung der weitgehenden Gebrauchsunfähigkeit der rechten Hand schätzte er die MdE. insgesamt auf 60 v. H.
Die Beklagte erteilte der Klägerin über die von ihr erhobenen Ansprüche zwei Bescheide. Durch Bescheid vom 16. August 1950 gewährte sie ihr eine Dauerrente von
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100 v. H. |
vom Beginn der 14. Woche nach dem Unfall bis zum 28. Juli 1945, |
80 v. H. |
für die Zeit bis zum 31. Juli 1946 und |
50 v. H. |
für die Folgezeit. |
Die gelenkrheumatischen Veränderungen der rechten Hand erkannte sie nicht als Unfallfolge an.
Durch Bescheid vom 13. September 1950 lehnte die Beklagte die Zahlung eines Pflegegeldes ab, weil die Klägerin nicht hilflos sei.
Beide Bescheide hat die Klägerin mit der Berufung zum Oberversicherungsamt (OVA.) Hildesheim mit der Begründung angefochten, die MdE. sei zu niedrig bemessen und die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pflegegeldes nach § 558 c der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien zu Unrecht verneint worden.
Das OVA. hat nach Vernehmung des Gerichtsarztes Dr. B als Sachverständigen die Beklagte am 10. November 1950 unter Änderung ihres Bescheides vom 16. August 1950 verurteilt, der Klägerin eine Dauerrente nach einer MdE. von 60 v. H. vom 1. Februar 1946 an zu zahlen. Die Berufung der Klägerin gegen den Bescheid vom 13. September 1950 hat das OVA. zurückgewiesen.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin binnen Monatsfrist weitere Berufung zum Oberverwaltungsgericht (OVerwG.) Lüneburg eingelegt. Mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist das Verfahren auf das Landessozialgericht (LSG.) Celle übergegangen. Die Klägerin hat gerügt, daß das OVA. das Gutachten des Dr. W nicht berücksichtigt und keinen Beweis darüber erhoben habe, wie hoch die der Klägerin nach der Auffassung des OVA. zumutbaren ganz leichten Arbeiten einer Hausfrau zu bewerten seien. Sie hat beantragt, ihr vom Tage nach dem Unfall bis zum 31. Juli 1945 die Vollrente und vom 1. August 1945 an eine Rente nach einer MdE. von 80 v. H. zu gewähren und ihr vom Unfalltage an Pflegegeld in monatlich wechselnden Beträgen zwischen 110,95 DM und 213,76 DM zu zahlen.
Das LSG. hat durch Urteil vom 15. Dezember 1955 die Berufung als unzulässig verworfen. Hinsichtlich des Rentenanspruchs hat es die Berufung nach § 145 Nr. 2 und 4 SGG als ausgeschlossen erachtet; einen Verfahrensmangel, der das Rechtsmittel nach § 150 Nr. 2 SGG hätte statthaft machen können, hat es verneint. Hinsichtlich des Anspruchs auf Pflegegeld hat das LSG. die Berufung für unstatthaft gehalten, weil insoweit durch § 1700 Nr. 1 RVO der Rekurs ausgeschlossen gewesen sei. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Klägerin am 10. Januar 1956 zugestellt worden. Sie hat am 27. Januar 1956 Revision eingelegt und diese am 6. Februar 1956 folgendermaßen begründet: Das LSG. hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, vielmehr in der Sache selbst entscheiden müssen. Hinsichtlich des Anspruchs auf Pflegegeld richte sich die Statthaftigkeit der Berufung nicht nach der RVO, sondern nach dem SGG; nach diesem Gesetz liege kein Ausschließungsgrund vor. Hinsichtlich des Rentenbescheides finde die Berufung nach § 150 Nr. 3 SGG statt; denn es sei streitig, ob die die Erwerbsfähigkeit der Klägerin mindernden Versteifungserscheinungen an der rechten Hand mit den unmittelbaren Folgen des Arbeitsunfalles zusammenhängen. Zu der Frage, ob das Verfahren des OVA. an einem Mangel leidet, verweist die Klägerin auf die Entscheidung des Reichsversicherungsamts (RVA.) vom 17. Februar 1928 in AN. 1928 S. 112.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und der Bescheide der Beklagten vom 16. August und 13. September 1950 die Beklagte zu verurteilen. Der Klägerin vom 12. April bis zum 31. Juli 1945 die Vollrente und vom 1. August 1945 an eine Rente von 80 v. H. sowie ein in den Schriftsätzen vom 13. Februar 1954 und 8. Dezember 1955 beziffertes Pflegegeld zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist zulässig und begründet.
In Überleitungsfällen des § 215 Abs. 8 SGG richtet sich die Statthaftigkeit der Berufung, wie das Bundessozialgericht (BSG.) - auch der erkennende Senat - wiederholt entschieden hat, ausschließlich nach dem SGG (vgl. BSG. 1 S. 82 (87), SozR. SGG § 215 Bl. Da 6 Nr. 23 und 11 Nr. 37; vgl. auch BSG. 1 S. 283 (286)). Das LSG. hätte daher die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des OVA. Hildesheim vom 10. November 1950 nur dann als unstatthaft ansehen dürfen, wenn ein Berufungsausschließungsgrund nach §§ 144 bis 149 SGG vorläge und außerdem die Berufung nicht ungeachtet dieser Vorschriften nach § 150 SGG statthaft wäre.
Für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Pflegegeld nach § 558 c RVO (Bescheid vom 13. September 1950) enthält das SGG - im Unterschied zu § 1700 Nr. 1 RVO - keinen Berufungsausschließungsgrund. Bei dem Pflegegeld handelt es sich namentlich nicht um eine einmalige, sondern um eine wiederkehrende Leistung, die indessen im vorliegenden Streitfall einen Zeitraum von mehr als 13 Wochen betrifft (§ 144 Abs. 1 SGG). Insoweit liegt auch kein Fall des § 145 SGG vor.
Hinsichtlich des den Rentenanspruch betreffenden Bescheides vom 16. August 1950 sind allerdings, wie das LSG. zutreffend ausgeführt und die Revision nicht beanstandet hat, die Berufungsausschließungsgründe des § 145 Nr. 2 und 4 SGG gegeben; denn die Beteiligten streiten teils über den Beginn der Rente, teils über den Grad der MdE., ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Rente davon abhängt. Das LSG. hätte jedoch die Berufung, worauf die Revision mit Recht hinweist, aus dem Gesichtspunkt des § 150 Nr. 3 SGG als statthaft ansehen müssen. Die Klägerin hat im Schriftsatz vom 30. Oktober 1950 gegenüber dem OVA. vorgebracht, es bestehe ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Schmerzen im rechten Arm auf die mangelnde Blutzirkulation im linken Stumpf zurückzuführen seien, zumal da die Erkrankung und die Schmerzen vor dem Unfall nicht vorhanden gewesen seien. Mit diesem Vorbringen hat sich das OVA. in seinem Urteil vom 10. November 1950 befaßt; es ist zu dem Ergebnis gelangt, die rheumatischen Veränderungen an der rechten Hand seien keine Unfallfolgen. Im Verfahren vor dem OVerwG. und dem LSG. ist die Klägerin zwar nicht ausdrücklich auf diesen Streitpunkt zurückgekommen, sie hat ihn aber auch nicht als erledigt bezeichnet, vielmehr hat sie jeweils am Schluß ihrer Schriftsätze vom 25. November 1951, 26. Juni 1952 und 1. September 1954 ergänzend auf ihr früheres Vorbringen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Bezug genommen. Daraus hat der Senat gefolgert, daß die Klägerin auch die Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und den Veränderungen der rechten Hand dem LSG. zur Prüfung unterbreiten wollte. Die Voraussetzungen des § 150 Nr. 3 SGG sind somit gegeben. Ob dies auch zuträfe, wenn der Streit über den ursächlichen Zusammenhang in dem angeführten Sinne nur bis zum Abschluß des erstinstanzlichen Verfahrens gedauert und nicht mehr Gegenstand des Berufungsverfahrens gewesen wäre (vgl. BSG. 3 S. 271), konnte der Senat dahingestellt sein lassen. Weiter konnte dahingestellt bleiben, ob die Berufung hinsichtlich des Rentenanspruchs - wie die Revision meint - auch aus dem Gesichtspunkt des wesentlichen Verfahrensmangels (§ 150 Nr. 2 SGG) statthaft ist.
Das LSG. hätte somit über die Berufung in vollem Umfang sachlich entscheiden müssen. Die Revision ist daher begründet. Da es an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen fehlt, konnte der Senat in der Sache nicht selbst entscheiden. Das angefochtene Urteil mußte deshalb aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen