Entscheidungsstichwort (Thema)

Asbestose. operativer Eingriff zur Klärung eines Pleurabefundes. mittelbare Folge einer Berufskrankheit

 

Orientierungssatz

Wird ein operativer Eingriff wesentlich auch wegen der Asbestexposition der Versicherten zur Abklärung eines Pleurabefundes vorgenommen, so sind die dadurch eingetretenen Gesundheitsstörungen mittelbare Folgen einer Berufskrankheit nach Nr 4103 der Anlage 1 zur BKVO (vgl BSG 4.11.1981 2 RU 39/80 = SozR 2200 § 548 Nr 59).

 

Normenkette

RVO § 551 Abs 1 Fassung: 1963-04-30; BKVO Anl 1 Nr 4103

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 14.12.1983; Aktenzeichen L 2 Ua 988/83)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 29.03.1983; Aktenzeichen S 12 U 1972/81)

 

Tatbestand

Die im Jahre 1922 geborene Klägerin war seit 1941 als Büroangestellte in einem Unternehmen tätig, in welchem ua bis zum Jahre 1956 Asbest in Form von Chrysotil verarbeitet wurde. In den Nachkriegsjahren war sie für die Dauer von etwa zwei Jahren zeitweilig in der Produktion beschäftigt und dabei Asbesteinflüssen ausgesetzt. Sie leidet an einer Funktionsbeeinträchtigung der Lunge im Sinne einer mäßiggradigen restriktiven Ventilationsstörung als Folge einer am 17. Mai 1979 durchgeführten Dekortikation (operative Pleuraschwartenschälung). Die hierdurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) beträgt 20 vH. Streitig ist, ob die Gesundheitsstörung als Berufskrankheit (BK) zu entschädigen ist.

Das Gewerbeaufsichtsamt F - gewerbeärztlicher Dienst - Institut für praktische Arbeitsmedizin - stimmte in einer Stellungnahme vom 2. Juni 1981 (Dr. K) den Schlußfolgerungen zu, die in einem von der Beklagten eingeholten Gutachten der Klinik für BK'en der Berufsgenossenschaft der keramischen und Glasindustrie in Bad Reichenhall (Gutachten vom 6. Mai 1981 - Chefarzt Dr. K, Oberarzt Dr. M) gezogen worden waren: Das röntgenmorphologische Lungenbild sei zwar nur allenfalls auf eine beginnende Asbestose verdächtig, die Pleurektomie links mit Feindekortikation der Lunge sei aber zur Abklärung eines Pleurabefundes bei stattgehabtem Asbestkontakt durchgeführt worden. Die Funktionseinschränkung der Lunge als Operationsfolge beeinträchtige die Erwerbsfähigkeit der Klägerin um 20 vH. Die Voraussetzungen einer entschädigungspflichtigen BK nach Nr 4103 (Asbestose) der Anlage 1 zur BK-Verordnung (BKVO) seien erfüllt.

Die Beklagte lehnte die Anerkennung einer BK nach Nr 4103 ab (Bescheid vom 25. September 1981): Es bestehe nur eine geringgradige asbeststaubbedingte Erkrankung der Lunge ohne meßbare MdE; die Funktionsbeeinträchtigung der Lunge sei allein Folge des operativen Eingriffs und stehe nicht in ursächlichem Zusammenhang mit den diskreten Asbesteinlagerungen.

Das Sozialgericht (SG) Freiburg hat nach Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. W (vom 10. November 1982) die Beklagte antragsgemäß zur Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH vom 17. Mai 1979 an verurteilt (Urteil vom 29. März 1983). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Klägerin die Verletztenrente wegen der BK Nr 4103 der Anlage 1 zur BKVO nach einer MdE um 20 vH zu bewilligen ist (Urteil vom 14. Dezember 1983). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Die infolge der Pleurektomie links zurückgebliebene mäßiggradige restriktive Ventilationsstörung sei die Folge einer BK nach Nr 4103 der Anlage 1 zur BKVO (Asbestose). Der operative Eingriff zur Entfernung von Pleuraplaques sei im wesentlichen deshalb durchgeführt worden, weil in der Anamnese der Klägerin die berufliche Asbestexposition ermittelt worden sei. Pleuraplaques seien Zeichen einer Asbestose, die sich bei der Klägerin allerdings, soweit nachweisbar, im eigentlichen Lungenbereich nur gering, im übrigen Thoraxbereich durch die Plaques aber deutlich manifestiert habe. Die fibrösen Veränderungen der Pleura seien mit Wahrscheinlichkeit durch die Asbestexposition der Klägerin entstanden. Diese pleurale Form der Asbestose, die neben den Zeichen der Asbestose in der Lunge vorgelegen habe, sei behandlungsbedürftig gewesen. Die operative Entfernung der Pleuraplaques sei geboten gewesen, auch wenn daneben eine Operationsindikation wegen des Verdachts auf ein berufsbedingtes Mesotheliom des Rippenfells (BK Nr 4105) bestanden habe. Als BK iS der Nr 4103 sei nicht nur die Asbestose der Lunge, sondern auch die bei der Klägerin zumindest bestehende pleurale Form der Asbestose anzusehen.

Die Beklagte macht zur Begründung der - vom LSG zugelassenen - Revision ua geltend: Wie sich aus einem Vergleich mit Nr 4105 der Anlage 1 zur BKVO ergebe, erfasse Nr 4103 (aaO) nicht eine Erkrankung der Pleura ohne Beeinträchtigung der Lunge. Aus einem "Verdacht auf Asbestose allenfalls beginnenden Grades" (Gutachten Dr. K/Dr.M vom 6. Mai 1981, S 10 - Bl 35 der Akten der Beklagten) könne nicht auf eine tatsächlich bestehende Lungenaffektion geschlossen werden. Die Operation der Klägerin sei ausschließlich wegen des Verdachts auf Pleura-Mesotheliom erforderlich gewesen. Das Gutachten des von der Beklagten erfolglos als befangen abgelehnten Sachverständigen Prof. Dr. W komme als Entscheidungsgrundlage schon deshalb nicht in Betracht, weil gegen die Objektivität dieses Gutachters wegen eines erheblichen Interessenkonflikts als Operateur erhebliche Bedenken beständen. Außerdem rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 103 und 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Sie beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat die Beklagte im Ergebnis zu Recht dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH wegen einer BK nach Nr 4103 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) - "Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose)" - zu zahlen.

Nach den tatsächlichen Feststellungen im Urteil des LSG ist die Klägerin in der Nachkriegszeit für die Dauer von etwa zwei Jahren durch ihre versicherte Tätigkeit (§ 551 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) - bei Aushilfsarbeiten - Asbeststaubeinwirkungen ausgesetzt gewesen. Davon ist auch die Beklagte ausgegangen, die im angefochtenen Bescheid darüber hinaus - insoweit ebenfalls in Übereinstimmung mit den Feststellungen des LSG - aufgrund der röntgenologischen Untersuchungen und des Lungenbefundes eine - allerdings nur geringgradige - asbeststaubbedingte Erkrankung der Lunge angenommen hat, die in ihren Auswirkungen keine meßbare MdE der Klägerin zur Folge hatte.

Zu einer Funktionsbeeinträchtigung der Lunge im Sinne einer mäßiggradigen Ventilationsstörung, welche eine MdE um 20 vH bedingt, hat die Operation (Dekortikation) geführt. Der Senat hat in seinem Urteil vom 4. November 1981 (SozR 2200 § 548 Nr 59) entschieden, daß die bei einem ärztlichen Eingriff zur Klärung des Ausmaßes der durch einen Arbeitsunfall verursachten Folgen eingetretenen Gesundheitsstörungen mittelbare Unfallfolgen sind. Entsprechendes gilt, wenn ein operativer Eingriff wegen einer für die Feststellung einer BK wesentlichen beruflichen Asbestoseexposition für erforderlich erachtet wird (s auch BSG SozR 2200 § 555 Nr 5). Die operative Entfernung eines Großteils der ausgedehnten fibrösen Pleuraplaques - einer Begleiterscheinung der Asbestose (s ua Bohlig/Jacob/Müller, Die Asbestose der Lungen, 1960, S 99; Merkblatt zu Nr 4103, Bekanntmachung des BMA vom 13. Mai 1983, BArbBl Heft 7 - 8/1983 S 52) - ist, nachdem bei einer Röntgen-Reihenuntersuchung am 6. April 1979 erstmals eine Verschattung im Thoraxbereich aufgefallen war, nach den Feststellungen des LSG wesentlich auch wegen der Asbestexposition der Klägerin zur Abklärung eines Pleurabefundes vorgenommen worden. Der Verdacht auf ein (berufsbedingt durch Asbest verursachtes) Mesotheliom des Rippenfells - s Nr 4105 der Anlage 1 zur BKVO - hat sich zwar nicht bestätigt. Die operative Entfernung der Pleuraplaques, die nach den Feststellungen des LSG mit Wahrscheinlichkeit durch die Asbeststaubexposition der Klägerin entstanden sind, hat aber eine Beeinträchtigung der Atmungsfunktion in einem Ausmaß bewirkt, wie es für das Vorliegen einer zu entschädigenden BK nach Nr 4103 der Anlage 1 zur BKVO erforderlich ist. Im Ergebnis besteht somit bei der Klägerin eine durch Asbeststaubeinwirkung - und mittelbar durch die wesentlich auch deswegen veranlaßte Operation - verursachte Gesundheitsschädigung mit der Folge einer MdE um 20 vH Nach der Auffassung des Senats ist das bei der Klägerin vorliegende Krankheitsbild einer durch betriebliche Umstände entstandenen Asbestose (Nr 4103 der Anlage 1 zur BKVO) versicherungsrechtlich gleichzuerachten (s auch BSG Urteil vom 10. Mai 1968 - 5 RKn 13/67 - Breithaupt 1968, 824). Es kann hiernach dahingestellt bleiben, ob, wie das LSG im Gegensatz zur Auffassung der Revision angenommen hat (aA als das LSG ua Elster, Berufskrankheitenrecht, S 155), auch ohne Nachweis asbestotischer Lungengewebsveränderungen die sog pleurale Form der Asbestose (Pleuraplaques, Verschwartungen des Lungenfells) gem § 551 RVO iVm Nr 4103 der Anlage 1 zur BKVO zu entschädigen ist.

Die von der Beklagten mit der Revision erhobenen Verfahrensrügen gegen die hiernach erheblichen Feststellungen des LSG (§§ 103, 128 SGG), greifen nicht durch (§ 170 Abs 3 Satz 1 SGG).

Übereinstimmend mit den Feststellungen des LSG ist auch die Beklagte im angefochtenen Bescheid - ersichtlich aufgrund der Angaben der Klägerin und der Eternit AG (Bl 8, 12, 17 der Akten der Beklagten) - davon ausgegangen, daß die Klägerin in der Nachkriegszeit wegen Arbeitskräftemangels über etwa zwei Jahre in der Produktion des Unternehmens beschäftigt worden ist und dabei einer Asbeststaubexposition unterlegen hat. Daß insoweit das LSG dennoch gegen seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verstoßen hätte, ist mit der Revision nicht dargelegt, unabhängig davon, daß die Rüge ua irrtümlich darauf gestützt wird, die Klägerin selbst habe einen "Arbeitsmangel" als Grund für ihre praktische Tätigkeit im Unternehmen angegeben.

Auch hinsichtlich der Feststellung des LSG, bei dem im Unternehmen verwendeten Arbeitsstoff habe es sich, wie von der E mitgeteilt, um Chrysotil (sog Weißasbest) gehandelt - etwa 90 % aller in der Welt gewonnenen und industriell verarbeiteten Asbeste, s Merkblatt des BMA aaO -, deren Fasern "mit der Zeit aus dem Gewebe verschwinden", sind mit der Revision keine durchgreifenden Verfahrensrügen vorgebracht worden.

Den Antrag der Beklagten auf Ablehnung des vom SG zum Sachverständigen bestimmten Prof. Dr. W wegen Besorgnis der Befangenheit hat das SG zurückgewiesen (Beschluß vom 2. März 1982); das LSG hat die Beschwerde der Beklagten zurückgewiesen (Beschluß vom 24. Juli 1982). Der Beschluß des LSG ist unanfechtbar (§ 177 SGG). Daß gleichwohl das LSG die Aussagen des Sachverständigen Prof. Dr. W in dessen Gutachten vom 10. November 1982 bei der Überzeugungsbildung nicht hätte mitberücksichtigen dürfen, ist mit den von der Revision lediglich erneut vorgebrachten Bedenken gegen die Objektivität des Sachverständigen nicht dargetan.

Die Revision ist danach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665129

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