Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschiedenen-Witwenrente. Scheidung aus beiderseitigem Verschulden. Unterhaltsanspruch aus § 60 EheG

 

Orientierungssatz

Sind beide Ehegatten schuld an der Scheidung, richtet sich ein Unterhaltsanspruch der geschiedenen Ehefrau zu Lebzeiten ihres früheren Ehemannes nach § 60 EheG. Hiernach kann dem Ehegatten, der sich nicht selbst unterhalten kann, ein Beitrag zu seinem Unterhalt zugebilligt werden, wenn und soweit dies mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des anderen Ehegatten und der nach § 63 EheG unterhaltspflichtigen Verwandten des Bedürftigen der Billigkeit entspricht. Die Verpflichtung, einen solchen Unterhaltsbeitrag zu leisten, stellt eine Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 S 2 RVO (= § 65 S 2 RKG) dar (vgl BSG 1979-04-25 GS 1/78 = SozR 2200 § 1265 Nr 41).

 

Normenkette

RKG § 65 S 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1265 S 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16; EheG § 60 Fassung: 1946-02-20, § 63 Fassung: 1946-02-20

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.09.1981; Aktenzeichen L 2 Kn 6/81)

SG Dortmund (Entscheidung vom 21.11.1980; Aktenzeichen S 24 Kn 217/80)

 

Tatbestand

Die im Jahre 1922 geborene Klägerin beansprucht Hinterbliebenenrente nach § 65 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes, des Versicherten.

Die Ehe zwischen der Klägerin und dem Versicherten wurde 1950 geschlossen. Daraus sind drei Kinder hervorgegangen. Im Dezember 1976 wurde die Ehe aus beiderseitigem Verschulden geschieden. Der Versicherte hat nicht wieder geheiratet. Er bezog seit Juli 1972 von der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Klägerin verrichtete nach der Scheidung vorübergehend Teilzeitarbeiten. Im Urteil vom 10. Januar 1978 sah das Oberlandesgericht (OLG) Hamm den Versicherten nicht als verpflichtet an, Unterhalt an die Klägerin zu leisten. Diese sei zwar unterhaltsbedürftig, ihr geschiedener Ehemann habe jedoch infolge einer schweren Herzerkrankung einen derart gesteigerten Bedarf, daß er im Rahmen der Billigkeitsabwägung nach § 60 Ehegesetz (EheG) keinen Unterhalt zahlen müsse. Am 23. März 1980 ist der Versicherte verstorben. Die Klägerin bezieht seit Januar 1981 aus eigener Versicherung aufgrund eines im Dezember 1979 eingetretenen Versicherungsfalls Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von monatlich 83,40 DM zZt des Rentenbeginns. Den Antrag der Klägerin, ihr Hinterbliebenenrente zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Mai 1980 ab.

Der dagegen gerichtete Widerspruch der Klägerin und ihre Klage vor dem Sozialgericht (SG) sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 3. September 1980 und Urteil vom 21. November 1980). Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 10. September 1981 die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. April 1980 Hinterbliebenenrente nach § 65 RKG zu gewähren. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Zwar seien die Voraussetzungen des § 65 Satz 1 RKG nicht erfüllt, wohl aber die des Satzes 2 dieser Vorschrift. Die Ansicht der Beklagten, daß im Rahmen des Satzes 2 bei einer nach § 60 EheG in Betracht kommenden Leistung stets geprüft werden müsse, ob der Versicherte aus Billigkeitsgründen tatsächlich zur Leistung eines Unterhaltsbeitrages verpflichtet gewesen sei, könne nicht geteilt werden.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie trägt vor, das Berufungsgericht habe sich auf den Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. April 1979 (BSGE 48, 146) bezogen. Darin sei aber lediglich festgestellt worden, daß auch ein Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG eine Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 Satz 2 Nr 1 Reichsversicherungsordnung (RVO), der dem § 65 Satz 2 Nr 1 RKG entspreche, sei. Darüber hinaus müsse in jedem Einzelfall konkret geprüft werden, ob die Einkommensverhältnisse des Versicherten zur Zeit seines Todes eine Verpflichtung nach sich zögen, einen Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG zu leisten.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gem § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der Klägerin steht die beanspruchte Hinterbliebenenrente nach § 65 Satz 2 RKG zu.

Zutreffend hat das LSG die Voraussetzung des § 65 Satz 1 RKG nicht als erfüllt angesehen. Darüber besteht auch zwischen den Beteiligten kein Streit. Anspruchsgrundlage ist im Falle der Klägerin jedoch Satz 2 dieser Vorschrift, die anzuwenden ist, weil die Ehe vor dem 1. Juli 1977 geschieden worden ist. Eine Witwenrente ist nicht zu gewähren. Zur Zeit der Scheidung hatte die Klägerin das 45. Lebensjahr vollendet. Auch ist sie seit Dezember 1979 erwerbsunfähig (§ 65 Satz 2 Nrn 2 und 3 RKG). Darüber hinaus sind die Voraussetzungen der Nr 1 des § 65 Satz 2 RKG erfüllt. Eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten bestand im Hinblick auf seine Vermögens- und Erwerbsverhältnisse sowie wegen der Erträgnisse der Klägerin aus ihrer Erwerbstätigkeit nicht.

Da nach dem Schuldausspruch des Scheidungsurteils beide Ehegatten schuld an der Scheidung waren und keiner von ihnen die überwiegende Schuld trug, richtete sich ein Unterhaltsanspruch der Klägerin zu Lebzeiten ihres früheren Ehemannes nach § 60 EheG. Diese Vorschrift ist zwar ab 1. Juli 1977 außer Kraft getreten, sie ist im Falle der Klägerin aber noch anzuwenden, weil deren Ehe vor diesem Zeitpunkt nach den bis dahin geltenden Vorschriften geschieden worden ist (Art 12 Ziff 3 Abs 2 des Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts - 1. EheRG -). Nach § 60 EheG kann dem Ehegatten, der sich nicht selbst unterhalten kann, ein Beitrag zu seinem Unterhalt zugebilligt werden, wenn und soweit dies mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des anderen Ehegatten und der nach § 63 EheG unterhaltspflichtigen Verwandten des Bedürftigen der Billigkeit entspricht. Die Verpflichtung, einen solchen Unterhaltsbeitrag zu leisten, stellt nach der Entscheidung des Großen Senats des BSG (BSGE 48, 146 = SozR 2200 § 1265 Nr 41) iS des § 1265 Satz 2 RVO, dem § 65 Satz 2 RKG entspricht, eine Unterhaltsverpflichtung dar.

Die Beklagte vertritt nun mit der Revision die Ansicht, aus der Entscheidung des Großen Senats (aaO) folge keineswegs, daß sich die Unterhaltspflicht iS des § 65 Satz 2 Nr 1 RKG zwangsläufig aus dem Scheidungsurteil ergebe. Vielmehr müsse in jedem Einzelfall konkret geprüft werden, ob die Einkommensverhältnisse des Versicherten im Zeitpunkt seines Todes eine Verpflichtung zum Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG nach sich gezogen hätten. Maßgebend sei beim beiderseitigen Verschulden nicht die abstrakte, sondern die konkrete Möglichkeit Unterhalt von dem früheren Ehegatten zu erhalten. Dieser Standpunkt der Beklagten entspricht nicht der Rechtsprechung des BSG. Danach ist bei der Prüfung der Frage, ob wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erwerbstätigkeit der früheren Ehefrau eine Unterhaltsverpflichtung nicht bestanden hat, die Leistungsfähigkeit des Versicherten zu unterstellen und etwaige Einkünfte der früheren Ehefrau aus Erwerbstätigkeit sind hinweg zu denken (so BSG in SozR 2200 § 1265 Nrn 18 und 55). Konnte die Klägerin nicht selbst ihren Unterhalt bestreiten und hätte ihr geschiedener Ehemann über entsprechend hohe Einkünfte verfügt, so hätte der Klägerin nach § 60 EheG ein Unterhaltsanspruch gegen ihn zugestanden.

Der Beklagten kann auch nicht darin zugestimmt werden, daß in solchen Fällen abzuklären ist, ob nicht vorrangig unterhaltspflichtige Verwandte iS des § 63 EheG vorhanden seien. Dazu hat das BSG mit Urteil vom 26. November 1981 (SozR aaO Nr 59) bereits entschieden, daß auch im Falle einer Unterhaltsverpflichtung iS des § 60 EheG wegen des hier zu unterstellenden Leistungsvermögens auf Seiten des Versicherten bei der Prüfung des Hinterbliebenenrentenanspruchs der geschiedenen Ehefrau eine womöglich aus § 63 Abs 1 Satz 2 EheG herzuleitende Unterhaltspflicht der Verwandten außer Betracht zu bleiben hat (ebenso für den Fall einer Unterhaltsverpflichtung nach § 61 Abs 2 EheG; BSG in SozR aaO Nr 18. Diese mußten nur dann für den Unterhalt der Klägerin einstehen, wenn die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten dazu nicht ausreichten. Dieser Fall soll aber gerade nach § 65 Satz 2 RKG nicht zum Ausschluß der Hinterbliebenenrente führen. Mit ihrer Revision hat die Beklagte keine Argumente vorgebracht, die dem Senat Veranlassung geben, von der bisherigen Rechtsprechung des BSG abzuweichen.

Da somit das Urteil des LSG nicht zu beanstanden ist, mußte die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660319

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