Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerichtsbesetzung im Sozialgerichtsverfahren
Leitsatz (amtlich)
Ein Senat eines Landessozialgerichts ist dann unvorschriftsmäßig besetzt, wenn zwei Hilfsrichter gleichzeitig bei der Urteilsfindung mitwirken.
Normenkette
SGG § 33
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 13.01.1959) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 21.10.1955) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. Januar 1959 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der Kokereiarbeiter K. B., Ehemann der in Berlin (Ost) wohnenden Klägerin, erlitt am 15. März 1949 auf der Kokerei der Zeche Gneisenau in Dortmund-Derne einen Unfall, an dessen Folgen er an demselben Tage verstarb.
Am 11. Juli 1949 hat die Beklagte einen Rentenfeststellungsbescheid erteilt, durch den sie der Klägerin vom 15. März 1949 an bis zur etwaigen Wiederverheiratung Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung in Höhe von monatlich 54,20 DM sowie ein Sterbegeld in Höhe von 217.-- DM gewährte, hierbei aber vermerkte, daß auf Anordnung der Militärregierung Renten an Berechtigte, die ihren Wohnsitz außerhalb der drei Westzonen hätten, also auch an solche, welche in Berlin wohnten, nicht ausgezahlt werden dürften, so daß eine Auszahlung der festgestellten Leistungen an die Klägerin erst in Frage komme, wenn sie ihren Wohnsitz in eine der drei Westzonen verlege.
Den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin hat die Widerspruchsstelle der Beklagten durch Bescheid vom 16. Juni 1955 mit der Begründung zurückgewiesen, daß die Klägerin keine Auszahlung der Rente beanspruchen könne, solange sie in Berlin (Ost) wohne.
Das Sozialgericht in Dortmund hat die hiergegen erhobene Klage durch Urteil vom 21. Oktober 1955 abgewiesen. Die Beklagte habe die Rentenauszahlung zu Recht verweigert, weil der Rentenanspruch der Klägerin als ruhend zu erachten sei.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin am 5. Dezember 1955 Berufung eingelegt. Das Berufungsgericht hat am 16. Dezember 1958 in der Besetzung mit Senatspräsident ScH. als Vorsitzendem, den Sozialgerichtsräten L. und Dr. K. als weiteren Berufsrichtern sowie den Landessozialrichtern K. und H. als ehrenamtlichen Beisitzern durch Entscheidung nach Aktenlage gemäß § 126 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für Recht erkannt:
"Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts in Dortmund vom 21. Oktober 1955 mit der Maßgabe abgeändert, daß die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 5. August 1954 und Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 1955 verurteilt wird, der Klägerin mit Wirkung vom 15. März 1949 die ihr mit Bescheid vom 11. Juli 1949 gewährte Witwenrente in der zuerkannten Höhe auf ein Sperrkonto eines Westberliner Kreditinstituts nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
Im übrigen wird die Berufung als unzulässig verworfen. Die Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen sowohl für das Klage- als auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen."
Die Berufung sei, soweit sie den Sterbegeldanspruch betreffe, nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG unzulässig, weil dieser Anspruch nur eine einmalige Leistung zum Inhalt habe. Soweit sie dagegen den Rentenanspruch betreffe, sei sie zulässig und auch begründet. Der Rentenanspruch als solcher sei durch den angefochtenen Bescheid, auch wenn dieser noch nicht bindend sei, der Beklagten gegenüber bereits wirksam festgestellt. Der die Auszahlung betreffende Zusatz habe lediglich die Geltendmachung eines zeitlichen Hindernisses für die Auszahlung der Rentenbeträge zum Inhalt, dem außer bei einem etwaigen Wohnungswechsel der Klägerin in die Westzonen auch mit dem Wegfall der das Hindernis begründenden Anordnung der Militärregierung keine Bedeutung mehr zukomme. Da heute diese Anordnung der Militärregierung einer Auszahlung der Rentenbeträge in außerhalb der früheren drei Westzonen liegendes Gebiet nicht mehr im Wege stehe, habe die Auszahlung der festgestellten Rente an die Klägerin, wenn auch nur auf ein Westberliner Sperrkonto, zu erfolgen.
Gegen das ihr am 21. März 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte durch ihren Prozeßbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 1. April 1959, eingegangen beim Bundessozialgericht am 2. April 1959, Revision eingelegt und diese gleichzeitig und, nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis zum 27. Juni 1959 verlängert worden war, noch durch weiteren Schriftsatz vom 4. Juni 1959, eingegangen beim Bundessozialgericht am 6. Juni 1959, begründet.
Sie rügt, das Urteil sei entgegen § 132 Abs. 1 Satz 3 SGG erst in einem Termin, der über zwei Wochen nach dem Termin zur letzten mündlichen Verhandlung liege, verkündet worden. Außerdem sei das Berufungsgericht nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen, da bei der Urteilsfindung neben dem Vorsitzenden und den ehrenamtlichen Beisitzern zwei Hilfsrichter mitgewirkt hätten. Zudem widerspräche das angefochtene Urteil dem in der Sozialversicherung herrschenden Grundsatz, daß derjenige Versicherungsträger zur Zahlung verpflichtet sei, in dessen Bezirk der Versicherte wohne. Im übrigen sei der Bescheid der Beklagten vom 11. Juli 1949 rechtskräftig geworden; denn das Schreiben des H S vom 27. Juli 1949 könne seinem Inhalt nach nicht als Rechtsmittel angesehen werden. Der Hinweis in dem Zusatz dieses Bescheides auf die Anordnung der Militärregierung stelle zudem nur die Begründung des eigentlich wesentlichen Teiles dieses Zusatzes dar, in welchem die Rentengewährung dahin beschränkt werde, daß die Rente nur zur Auszahlung kommen solle, wenn die Klägerin ihren Wohnsitz in eine der drei Westzonen verlegen würde. Diese Gründe nähmen aber an der Rechtskraftwirkung nicht teil, so daß der Fortfall dieser Anordnung der Militärregierung nicht die Wirksamkeit des Auszahlungsverbots berühre.
Sie beantragt,
unter Aufhebung des den Rentenanspruch betreffenden Teils des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts in Dortmund vom 21. Oktober 1955 insoweit zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, daß die Rüge der Beklagten, § 132 Abs. Ziff. 3 SGG sei verletzt, unverständlich sei. Auch die Rüge der nicht ordnungsgemäßen Besetzung des Berufungsgerichts greife nicht durch.
In sachlich-rechtlicher Hinsicht sei es richtig, daß der Bescheid vom 11. Juli 1949 rechtskräftig geworden sei. Entgegen der Ansicht der Beklagten stelle aber der die Auszahlung der Rente betreffende Zusatz nur eine Belehrung dar, die dann keine Bedeutung mehr habe, wenn, wie hier, das der Auszahlung entgegenstehende Hindernis entfallen sei. Im übrigen habe im Jahre 1949 im Sozialversicherungsrecht das Wohnsitzprinzip im heutigen Sinne noch nicht bestanden. Das angefochtene Urteil sei daher zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist auch statthaft, da das Berufungsgericht sie zugelassen hat. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen somit nicht. Es konnte ihr auch der Erfolg nicht versagt bleiben.
Die Beklagte rügt zu Recht, daß der erkennende Senat des Berufungsgerichts bei der Urteilsfindung nicht ordnungsmäßig besetzt war, da - neben dem Vorsitzenden und den ehrenamtlichen Beisitzern - zwei Hilfsrichter mitgewirkt haben. Der 10. Senat des Bundessozialgerichts hat bereits im wesentlichen mit folgender Begründung entschieden, daß eine solche Besetzung unzulässig ist (BSG 9, 137 ff):
Gemäß § 33 SGG werden die Senate eines Landessozialgerichts in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei Landessozialrichtern tätig. Als Berufsrichter im Sinne dieser Vorschrift sind die ständigen Mitglieder des Landessozialgerichts, die Landessozialgerichtsräte, anzusehen. Dies folgt daraus, daß die Berufsrichter als Richter auf Lebenszeit ernannt (§ 6 Abs. 2 SGG i.V.m. § 6 des Gerichtsverfassungsgesetzes -GVG-) und in eine Planstelle bei einem bestimmten Gericht eingewiesen werden, weil erst dadurch die Vorschrift über ihre Unversetzbarkeit (§ 6 SGG i.V.m. § 8 GVG) einen Inhalt bekommt. Dies geht ferner aus § 32 Abs. 2 SGG hervor, der zur Bestellung als Hilfsrichter bei Landessozialgerichten nur "auf Lebenszeit ernannte Richter anderer Gerichte" vorsieht und damit den Gegensatz zu den Richtern des Landessozialgerichts, die in eine Planstelle bei diesem Gericht eingewiesen sind, hervorkehrt. In dieser Vorschrift kommt der allgemeine, dem GVG wie dem SGG im Interesse der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Gerichte zugrunde liegende Gedanke zum Ausdruck, daß das Richteramt grundsätzlich nur von Richtern ausgeübt wird, die auf Lebenszeit an das betreffende Gericht berufen sind (BGHZ 22, 142). Diese Richter, die ständig dem betreffenden Gericht angehören, gewährleisten die Einheitlichkeit der Rechtsprechung dieses Gerichts, und nur sie, die grundsätzlich nicht versetzt werden können, sind völlig unabhängig.
Von dem Grundsatz, daß nur ständige Mitglieder eines Gerichts in dessen Spruchkörpern als Berufsrichter mitwirken dürfen, hat das SGG Ausnahmen zugelassen. Es schreibt im § 11 Abs. 3 für die Bestellung von Hilfsrichtern bei Sozialgerichten die entsprechende Geltung des § 10 Abs. 2 GVG vor, wonach als Hilfsrichter verwendet werden kann, wer zum Richteramt befähigt ist. In § 32 Abs. 2 SGG ist für die Bestellung von Hilfsrichtern bei Landessozialgerichten die Einschränkung gemacht, daß als Hilfsrichter nur auf Lebenszeit ernannte Richter anderer Gerichte bestellt werden dürfen.
Ebenso wie das GVG (§§ 70 Abs. 1, 117) kennt auch das SGG kraft ausdrücklicher Vorschrift nur die Mitwirkung von Hilfsrichtern zur "Vertretung" von verhinderten ständigen Mitgliedern des Gerichts (§§ 27, 37 SGG). In der Literatur und in der Rechtsprechung zum GVG ist jedoch einheitlich die Auffassung vertreten, daß der § 70 GVG nur einen Fall der Mitwirkung von Hilfsrichtern in einem Spruchkörper regelt und daß der in dieser Vorschrift ausgeprägte Rechtsgedanke die Mitwirkung von Hilfsrichtern auch dann zuläßt, wenn bei einer Geschäftsüberlastung ein dringendes Bedürfnis nach richterlicher Hilfeleistung ihre Beiordnung notwendig macht. Jedoch darf die Beiordnung von Hilfsrichtern auch in den vom Gesetz nicht ausdrücklich geregelten Fällen nur Übergangscharakter besitzen und nicht dazu dienen, einen Dauerzustand herbeizuführen; sie ist nur für eine vorübergehende Zeit zulässig. Mit der Beiordnung von Hilfsrichtern wird nämlich nicht nur die Einheitlichkeit der Rechtsprechung infolge häufigen Wechsels in der Zusammensetzung der Richterkollegien gefährdet, sondern auch der in der Verfassung (Art. 97 GG) niedergelegte und im GVG wie im SGG (§ 1 SGG, § 1 GVG) nochmals zum Ausdruck gekommene Grundsatz der Unabhängigkeit der Rechtspflege von Einflüssen der Politik und der Verwaltung. Hilfsrichter sind auch dann, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, um Richter handelt, die eine Planstelle bei einem anderen Bericht haben, nicht im gleichen Umfang unabhängig wie die Richter, die bei dem betreffenden Gericht eine Planstelle einnehmen. Dadurch, daß sie jederzeit vom Widerruf ihrer Abordnung bedroht sind, ist zu besorgen, daß sie sich in ihrer sachlichen Unabhängigkeit bedroht fühlen; andererseits begegnen die Rechtsuchenden mit Mißtrauen einem Gericht, das mit Richtern besetzt ist, die auf diese Art von der Justizverwaltung abhängig sind (BVerfG 4, 331, 345). Daher dürfen in den Fällen der Vertretung, der Nachwuchsausbildung und der Geschäftsüberlastung Hilfsrichter zwar abgeordnet und verwendet werden, jedoch nur für vorübergehende Zeit. Einem nicht nur vorübergehenden Bedürfnis an zusätzlichen Richterkräften muß die Justizverwaltung dadurch abhelfen, daß sie neue Planstellen für Richter schafft und besetzt.
Diese für das Gebiet der ordentlichen Gerichtsbarkeit aus den Grundsätzen der Verfassung und des GVG hergeleiteten Beschränkungen für die Mitwirkung von Hilfsrichtern müssen auch für die Beiordnung von Hilfsrichtern auf dem Gebiet der Sozialgerichtsbarkeit gelten, weil sowohl die Verfahrensgrundsätze wie auch die Grundsätze des GVG, die im SGG lediglich eine für die Sozialgerichtsbarkeit entsprechende Formulierung gefunden haben, insoweit die gleichen sind. Auch die aus dem Wesen der Sozialgerichtsbarkeit herzuleitenden, von den Vorschriften des GVG in mancher Beziehung abweichenden Vorschriften des SGG erfordern nicht, andere Maßstäbe an die Mitwirkung von Hilfsrichtern in Spruchkörpern der Sozialgerichte anzulegen.
Auf jeden Fall ist ein Senat eines Landessozialgerichts dann unvorschriftsmäßig besetzt, wenn, wie hier, zwei Hilfsrichter gleichzeitig mitwirkten. Wenn schon durch die Mitwirkung eines Hilfsrichters in einem mehrgliedrigen Spruchkörper sowohl die Stetigkeit und Unabhängigkeit der Rechtsprechung gefährdet werden können als auch das Vertrauen der Rechtsuchenden in die Rechtsprechung beeinträchtigt werden kann, so wird diese Gefahr durch die gleichzeitige Mitwirkung zweier Hilfsrichter in nicht mehr tragbarem Maße vergrößert. Wie sich aus § 18 der Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 1960 (BGBl I 17) ergibt, wird diese Auffassung auch vom Gesetzgeber geteilt. Der erkennende Senat trug keine Bedenken, sich dieser Rechtsprechung anzuschließen.
Das angefochtene Urteil mußte daher schon aus diesem Grunde aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
Die Entscheidung konnte im Verfahren ohne mündliche Verhandlung ergehen, da die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt hatten (§ 124 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil Vorbehalten.
Fundstellen