Entscheidungsstichwort (Thema)

Feststellung einer Behinderung. Bewertung des Grades der Behinderung. ärztliches Gutachten. "Heilungsbewährung". Fachkunde der Richter der Sozialgerichtsbarkeit

 

Orientierungssatz

1. Zur Beurteilung des Umfangs der Behinderungen und über den durch sie bedingten Grad der Behinderung - GdB - fehlt den Richtern der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig eine ausreichende Sachkunde. Endgültig über Behinderungen und ihre Auswirkungen zu entscheiden haben zwar im Rechtsstreit die Richter der Tatsacheninstanzen. Aber sie können dies im allgemeinen nicht ohne die Hilfe medizinischer Sachverständiger (vgl BSG vom 9.3.1988 - 9/9a RVs 14/86).

2. Als eine Änderung der Verhältnisse, die zur Aufhebung und neuen Entscheidung nach § 48 Abs 1 SGB 10 berechtigt und verpflichtet, kann auch ein Zeitablauf ohne Krankheitsanzeichen zu werten sein, wenn dadurch der Verdacht weggefallen ist, daß die Krankheit wieder aufflackert - früher irrtümlich als "Heilungsbewährung" bezeichnet - (vgl BSG vom 11.11.1987 - 9a RVs 1/87 = SozR 1300 § 48 Nr 42 und vom 23.3.1988 - 3 RK 9/87 = BSGE 63, 107 = SozR 1300 § 47 Nr 2).

3. Die Heranziehung medizinischer Sachverständiger ist insbesondere dann geboten, wenn die vorgelegten ärztlichen Gutachten grundlegend voneinander abweichen und in ihnen ausreichende Angaben darüber fehlen, welche Auswirkungen die festgestellten Störungen in körperlicher, geistiger und seelischer Hinsicht haben.

 

Normenkette

SchwbG § 3 Abs. 1 Fassung: 1986-08-26, § 4 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1986-08-26; SGG §§ 103, 128 Abs. 1 S. 1; SGB 10 § 48 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 22.04.1986; Aktenzeichen L 4 Vs 72/85)

SG Mainz (Entscheidung vom 04.07.1985; Aktenzeichen S 3 Vs 13/84)

 

Tatbestand

Der Kläger wurde wegen einer Urogenitaltuberkulose mit Zystenniere links und Harnröhrenstriktur als Schwerbehinderter mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH anerkannt (Bescheid vom 3. März 1980). Wegen "Heilungsbewährung" stellte das Versorgungsamt fest, die Urogenitaltuberkulose sei nicht mehr als Behinderung zu berücksichtigen und die Zystenniere links sowie die Harnröhrenstriktur bedingten eine MdE von weniger als 25 vH (Bescheid vom 3. August 1983, Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1983). Abweichend von einem Gutachten und einer ergänzenden Stellungnahme des Internisten Dr. W.  , der den Grad der MdE mit 75 vH bewertete, hat das Sozialgericht (SG) den Beklagten verurteilt, den Grad der Behinderung auf 40 vH festzusetzen (Urteil vom 4. Juli 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 22. April 1986). Es hat ohne weitere ärztliche Beweiserhebung die Bewertung der Behinderung durch das SG bestätigt.

Der Kläger rügt mit seiner - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision eine Verletzung der §§ 103 und 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG habe die Sache unzureichend aufgeklärt. Über den Umfang der Funktionsbeeinträchtigungen hätte das Gericht - wie schon das SG - entsprechend dem Antrag des Klägers Dr. W.   zur Erläuterung seines Gutachtens oder auch nach § 109 SGG einen anderen Sachverständigen hören müssen. Ohne solche fachlichen Erkenntnisse hätten die Tatsacheninstanzen mangels eigener Sachkunde nicht selbst über den Grad der Behinderung entscheiden können und dürfen.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers mit 75 vH, hilfsweise mit 50 vH festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insoweit erfolgreich, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Für eine Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch fehlen ausreichende Tatsachenfeststellungen. Wie die Revision zutreffend rügt, hätte das LSG über den umstrittenen Umfang der Behinderungen und über den durch sie bedingten Grad der MdE - seit 1. August 1986: der Behinderung, von dem die Schwerbehinderteneigenschaft abhängt, nicht ohne weitere medizinische Sachaufklärung nach § 103 SGG entscheiden dürfen (Urteil des Senats vom 9. März 1988 - 9/9a RVs 14/86 -). Für die Beurteilung dieses Zustandes in medizinischer Hinsicht und besonders einer wesentlichen Veränderung gegenüber demjenigen, der dem Bescheid vom 3. März 1980 über die Anerkennung als Schwerbehinderter zugrunde lag (§§ 1 und 3 Abs 1 Schwerbehindertengesetz -SchwbG- vom 8. Oktober 1979 - BGBl I 1649 - iVm § 48 Abs 1, Art II § 15 Nr 1, § 16 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - SGB 10 - vom 18. August 1980 - BGBl I 1469 -; Urteil des Senats vom 11. November 1987 - 9a RVs 1/87 -) fehlt den Richtern regelmäßig eine ausreichende Sachkunde. Endgültig über Behinderungen und ihre Auswirkungen zu entscheiden haben zwar im Rechtsstreit die Richter der Tatsacheninstanzen. Aber sie können dies im allgemeinen nicht ohne die Hilfe medizinischer Sachverständiger. In diesem Rechtsstreit haben die beteiligten Richter nicht dargetan, daß sie eine notwendige Sachkunde ausnahmsweise besitzen. Vielmehr hätten sie wegen der enormen Abweichung der medizinischen Beurteilungen durch den Sachverständigen Dr. W.   und durch den versorgungsärztlichen Dienst mindestens Dr. W.   nochmals erschöpfend zur Erläuterung hören (§ 118 SGG iVm § 411 Abs 3 Zivilprozeßordnung, hilfsweise nach § 116 SGG) oder, falls dadurch keine widerspruchsfreie Erkenntnis gewonnen werden konnte, einen weiteren Sachverständigen befragen müssen. Dieser hätte die vorliegenden Äußerungen kritisch zu bewerten gehabt. Vor allem fehlt eine klare medizinische Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen. Eine ausreichende Sachaufklärung von Amts wegen erübrigte eine Beweiserhebung auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG. Die Gutachten beschränken sich im wesentlichen auf die Darstellung der Befunde und Diagnosen. Es fehlen ausreichende Angaben darüber, welche Auswirkungen die festgestellten Störungen in körperlicher, geistiger und seelischer Hinsicht haben. Die Feststellung dieser Auswirkungen verlangt im allgemeinen medizinische Sachkunde. Erst auf der Grundlage dieser Auswirkungen sind die Auswirkungen in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (§ 3 Abs 1 Satz 1 und Überschrift des SchwbG) festzustellen. Hier ist die rein medizinische Sachkunde nicht entscheidend. Es handelt sich vielmehr um soziale Auswirkungen, die das insoweit fachkundig besetzte Gericht der Sozialgerichtsbarkeit selbst oder mit Hilfe eines berufskundigen Sachverständigen abschätzen kann.

Das LSG hat nun die notwendige Sachaufklärung nachzuholen.

In sachlich-rechtlicher Hinsicht ist in erster Linie der Umfang der als Behinderungen zu wertenden Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen; nicht jede gesundheitliche Störung als solche ist eine Behinderung (§ 3 Abs 1 SchwbG 1979, jetzt § 3 Abs 1 und § 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG idF vom 26. August 1986 - BGBl I 1421 -; BSG SozR 3870 § 3 Nr 26; Urteil des Senats vom 10. Dezember 1987 - 9a RVs 11/87 -). Sodann ist der durch die rechtserheblichen Behinderungen bedingte Grad der MdE - seit August 1986: der Behinderung festzulegen (§ 3 Abs 1 SchwbG 1979 iVm § 30 Bundesversorgungsgesetz, jetzt § 3 Abs 2 und 3 SchwbG 1986). Das Zusammenwirken verschiedener einander wechselseitig beeinflussender Funktionsbeeinträchtigungen ist nach seinem gesamten tatsächlichen Ausmaß zu beurteilen, hingegen nicht nach irgendeinem mathematischen Schema (BSGE 48, 82 = SozR 3870 § 3 Nr 4; SozR 3870 § 3 Nrn 5 und 26; § 4 Abs 3 SchwbG 1986). Abweichend vom Antrag des Klägers ist nach Zehnergraden abzustufen (jetzt § 3 Abs 2 SchwbG 1986).

In diesem Fall sind Besonderheiten zu beachten, die sich für die Entscheidung nach § 48 Abs 1 SGB 10 ergeben.

Als eine Änderung der Verhältnisse, die zur Aufhebung und neuen Entscheidung nach dieser Vorschrift berechtigt und verpflichtet, kann auch ein Zeitablauf ohne Krankheitsanzeichen zu werten sein, wenn dadurch der Verdacht weggefallen ist, daß die Krankheit wieder aufflackert - früher irrtümlich als "Heilungsbewährung" bezeichnet - (Urteil vom 11. November 1987 - 9a RVs 1/87 - und Urteil vom 23. März 1988 - 3 RK 9/87 -, beide zur Veröffentlichung vorgesehen). Dies wird sich aber auf die Urogenitaltuberkulose beschränken. Die neue Feststellung hängt vom Ausmaß der Änderungen gegenüber der rechtsverbindlichen Festsetzung ab (BSGE 60, 287, 290 = SozR 1300 § 48 Nr 29). Dies ist auch dann maßgebend, wenn sich einerseits vorhandene Behinderungen gebessert haben oder weggefallen, andererseits neue hinzugetreten sind (BSG SozR 3100 § 62 Nr 21). Noch nicht festgestellte Behinderungen können außerdem, falls sie schon 1980 bestanden, nach § 44 SGB 10 zusätzlich anzuerkennen und bei dem Grad der MdE oder Behinderung zu berücksichtigen sein. Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658023

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