Orientierungssatz
RVO § 1236 aF hat für die knappschaftliche Rentenversicherung nicht gegolten.
Normenkette
RVO § 1236 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Juni 1965 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der am 26. September 1897 geborene Kläger bezog seit dem 1. Januar 1954 von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) das Ruhegeld mit Leistungsanteilen der Invalidenversicherung wegen Berufsunfähigkeit und Invalidität. Im August 1954 nahm er eine Arbeitertätigkeit bei einem Montageunternehmen auf; nachdem er zunächst außerhalb des Bergbaus gearbeitet hatte, war er vom 3. Januar 1955 bis zum 31. Mai 1957 bei dieser Firma in knappschaftlichen Betrieben tätig. Danach arbeitete er noch bis September 1962 meist in knappschaftlichen Betrieben. Die Beklagte bewilligte ihm antragsgemäß mit Bescheid vom 29. April 1963 das Knappschaftsruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres als Gesamtleistung vom 1. September 1962 an. Mit diesem Bescheid beanstandete sie zugleich die für die Zeit vom August bis Dezember 1954 zur Invalidenversicherung und für die Zeit von Januar 1955 bis Mai 1957 zur knappschaftlichen Rentenversicherung entrichteten Beiträge; sie hat diese Beitragszeiten auch bei der Rentenberechnung nicht berücksichtigt. Der Widerspruch, mit dem sich der Kläger gegen die Beanstandung und Nichtberücksichtigung dieser Beiträge wandte, wurde mit der Begründung zurückgewiesen, er sei während der genannten Zeiträume gemäß § 1236 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF wegen festgestellter Invalidität versicherungsfrei gewesen; das habe sich erst durch die am 1. Juni 1957 in Kraft getretenen Vorschriften der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze geändert.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides und Abänderung ihres Bescheides vom 29. April 1963 verurteilt, bei Berechnung des Knappschaftsruhegeldes die zur knappschaftlichen Rentenversicherung in der Zeit vom 1. Januar 1955 bis zum 31. Mai 1957 entrichteten Beiträge bei Rückzahlung dieser dem Kläger erstatteten Beiträge zu berücksichtigen. Hinsichtlich der beanstandeten Beiträge zur Invalidenversicherung hat es die Klage abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten - der Kläger hatte kein Rechtsmittel eingelegt - zurückgewiesen. Der Kläger sei - so wird in den Urteilsgründen ausgeführt - in der Zeit von Januar 1955 bis Mai 1957, in der für ihn Beiträge zur knappschaftlichen Rentenversicherung entrichtet wurden, nicht versicherungsfrei gewesen. Keine der in § 29 Abs. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) aF als entsprechend anwendbar genannten Vorschriften der RVO treffe auf ihn zu; da diese Bestimmung des RKG die Versicherungsfreiheit erschöpfend regele, sei § 1236 RVO aF für die knappschaftliche Rentenversicherung nicht anwendbar. Auch wenn man davon ausgehe, daß die in § 29 Abs. 1 RKG aF genannten Vorschriften der RVO durch die Vereinfachungsverordnung vom 17. März 1945 (VereinfVO) weggefallen seien, ändere sich in der Beurteilung des vorliegenden Falles nichts; das RKG sei insoweit nicht geändert worden. Die beanstandeten Beiträge müßten daher bei der Berechnung des Knappschaftsruhegeldes berücksichtigt werden.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Die VereinfVO, die seit dem 7. September 1949 im gesamten Bundesgebiet gelte, habe die Vorschriften über die Versicherungspflicht, die Versicherungsfreiheit und die Befreiung von der Versicherungspflicht für die Krankenversicherung, die Rentenversicherung der Arbeiter und die der Angestellten grundlegend geändert und aufeinander abgestimmt. Die Versicherungsfreiheit des Klägers, der Invalidenrente (Ruhegeld) bezogen habe, ergebe sich für die hier streitige Zeit aus den §§ 172 Abs. 1 Nr. 7 und 1226 RVO idF der VereinfVO. Allerdings sei der § 29 RKG durch die VereinfVO nicht ausdrücklich geändert und dem in den anderen Rentenversicherungszweigen geltenden Recht angepaßt worden. Dadurch sei eine Gesetzeslücke entstanden, die durch berichtigende Auslegung geschlossen werden müsse. Da der Kläger bei einer Beschäftigung außerhalb des Bergbaus versicherungsfrei gewesen wäre und kein vernünftiger Grund für eine unterschiedliche Behandlung vorliege, sei er unter entsprechender Anwendung der Vorschriften der RVO als versicherungsfrei anzusehen.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 13. Januar 1965, soweit dieses Urteil angefochten ist, aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig.
II
Die Revision ist unbegründet. Die Beklagte hat die Beiträge zur knappschaftlichen Rentenversicherung für die Zeit von Januar 1955 bis Mai 1957, um die es hier allein noch geht, zu Unrecht beanstandet und bei der Rentenberechnung nicht berücksichtigt. Die Beiträge sind zwar innerhalb der Zehnjahresfrist des § 139 RKG beanstandet worden, jedoch war dies sachlich nicht begründet, weil sie nicht, wie nach § 143 Abs. 1 RKG vorausgesetzt wird, "zu Unrecht geleistet sind". Der Kläger war wegen seiner Beschäftigung in einem knappschaftlichen Betrieb zu dieser Zeit nicht versicherungsfrei.
Bis zum Inkrafttreten der entsprechenden Vorschriften des Knappschaftsrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (KnVNG) am 1. Juni 1957 (Art. 3 § 6 KnVNG) galten für die Versicherungsfreiheit in der knappschaftlichen Rentenversicherung die §§ 29, 30 RKG aF, von denen § 30 nur die hier nicht in Betracht kommenden vorübergehenden Dienstleistungen betraf. Nach § 29 galten für Arbeiter die Vorschriften der §§ 1235 Nr. 3, 1237 Abs. 1, 1238, 1239 RVO entsprechend; hiervon betraf aber nur die erstgenannte die Versicherungsfreiheit, nämlich der Personen, die während ihrer wissenschaftlichen Berufsausbildung gegen Entgelt tätig sind. Die Vorschrift des § 1236 RVO aF, welche die Versicherungsfreiheit der Invaliden sowie der Renten der Invaliden- und der Angestelltenversicherung regelte, war in § 29 RKG aF nicht aufgeführt. Der Umstand, daß aus einem Komplex von Bestimmungen der RVO nur eine - noch dazu ganz spezielle - Vorschrift ausdrücklich für entsprechend anwendbar erklärt wurde, läßt es nicht zu, die Vorschriften der RVO über die Versicherungsfreiheit allgemein im Bereich des Knappschaftsrechts anzuwenden. Vielmehr war die Regelung der Versicherungsfreiheit in den §§ 29, 30 RKG aF erschöpfend (so Geselle RKG, I zu § 29). Allerdings betraf diese Regelung ursprünglich nur die Pensionsversicherung, nicht auch die Invalidenversicherung der Bergleute, für die nach § 101 Abs. 2 RKG aF hinsichtlich der Versicherungsfreiheit die Vorschriften des Vierten Buches der RVO, also auch § 1236 RVO aF, galten. Als durch die 4. Verordnung über die Neuregelung der Rentenversicherung im Bergbau vom 4. Oktober 1942 (RGBl I 569) an die Stelle der bisherigen Doppelversicherung (knappschaftliche Pensionsversicherung und Invalidenversicherung) der Arbeiter in knappschaftlichen Betrieben die einheitliche knappschaftliche Rentenversicherung trat, hätte es vielleicht nahegelegen, die damalige Regelung der RVO über die Versicherungsfreiheit für die knappschaftliche Rentenversicherung zu übernehmen. Das ist jedoch nicht geschehen; vielmehr wurde der oben erwähnte § 101 RKG aF durch § 18 der Verordnung ausdrücklich aufgehoben, während die §§ 29, 30 RKG unberührt blieben. Das läßt nur den Schluß zu, daß diese bisher für die Pensionsversicherung geltenden Vorschriften nunmehr für die knappschaftliche Rentenversicherung gelten sollten. Eine Gesetzeslücke ist in dieser Regelung nicht zu erkennen. Auch widerspricht es nicht allgemeinen versicherungsrechtlichen Grundsätzen, daß der Empfänger einer Rente wegen Berufsunfähigkeit und Invalidität aus der Angestellten- oder der Invalidenversicherung noch in der knappschaftlichen Rentenversicherung versichert war, da diese Versicherungszeiten - wie im vorliegenden Fall - noch zu knappschaftlichen Leistungen bei Vollendung des 65. Lebensjahres führen konnten. Dementsprechend sind auch nach jetzt geltendem Recht (§ 31 RKG nF) nur die Bezieher von Knappschafts- oder Altersruhegeld versicherungsfrei.
Allerdings sind dann später die Vorschriften über die Versicherungspflicht, die Versicherungsfreiheit und die Befreiung von der Versicherungspflicht durch die Bestimmungen in Teil I der VereinfVO vom 17. März 1945 für die Krankenversicherung, die Invalidenversicherung und die Angestelltenversicherung grundlegend geändert und aufeinander abgestimmt worden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind diese Vorschriften spätestens seit dem 7. September 1949 im gesamten Bundesgebiet geltendes Recht geworden (BSG 15, 65). Sie sind aber für die Frage der Versicherungsfreiheit des Klägers im vorliegenden Fall ohne Bedeutung. Zwar war ein Arbeiter, der eine Invalidenrente (Ruhegeld) bezog, bei einer an sich versicherungspflichtigen Beschäftigung nach § 1226 i.V.m. § 172 Nr. 7 RVO idF der VereinfVO versicherungsfrei; entsprechendes galt nach § 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) i.V.m. § 172 Nr. 7 RVO idF der VereinfVO für Angestellte. Es ist aber nicht zu erkennen, daß diese Regelung auch eine Änderung der entsprechenden Vorschriften in der knappschaftlichen Rentenversicherung bewirkt hat. Gemäß Teil I Abschn. 2 Art. 4 der VereinfVO sind zwar die §§ 1232 bis 1242 RVO, also auch die in § 29 Abs. 1 RKG aF für entsprechend anwendbar erklärten Vorschriften der RVO, weggefallen. Ob hierdurch hinsichtlich dieser bestimmten Vorschriften für die knappschaftliche Rentenversicherung eine Lücke im Gesetz entstanden und wie diese gegebenenfalls auszufüllen ist, braucht hier aber nicht geprüft zu werden. Denn nur eine dieser Vorschriften betraf einen - noch dazu ganz speziellen - Fall der Versicherungsfreiheit (Tätigkeit während der wissenschaftlichen Berufsausbildung) und keine derselben befaßte sich mit dem Personenkreis der Rentner oder Invaliden. Die "Aushöhlung" des § 29 Abs. 1 RKG aF durch die oa Vorschrift der VereinfVO konnte daher für die Versicherungsfreiheit dieses Personenkreises auch keine Bedeutung haben. Da die diese Fälle der Versicherungsfreiheit regelnde Vorschrift des § 1236 RVO aF ohnehin nicht für die knappschaftliche Rentenversicherung galt, konnte ihr Wegfall auch nicht dazu führen, nunmehr die entsprechende Neuregelung (§ 1226 i.V.m. § 172 Nr. 7 RVO idF d. VereinfVO) hier anzuwenden. Da kein Anlaß zu der Annahme ersichtlich ist, der Verordnungsgeber habe für die knappschaftliche Rentenversicherung hinsichtlich der Versicherungspflicht der Rentner die bisherige Rechtslage ändern wollen, ist insoweit auch keine Gesetzeslücke festzustellen. Die Neuregelung durch die VereinfVO läßt vielmehr erkennen, daß es insoweit bei der unterschiedlichen Behandlung der erwerbstätigen Rentner in der knappschaftlichen Rentenversicherung einerseits und in den Rentenversicherungszweigen der Arbeiter und der Angestellten andererseits verbleiben sollte. Ob die Beibehaltung dieser unterschiedlichen Regelung aus damaliger Sicht vernünftig und zweckmäßig war, braucht hier nicht untersucht zu werden. Sie verstößt jedenfalls selbst nach heutiger Auffassung nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Versicherten, da das Recht der knappschaftlichen Versicherung eben - und zwar damals noch erheblich stärker als heute - in vielen Punkten wesentliche Unterschiede gegenüber den anderen Zweigen der Rentenversicherung aufweist.
Da der Kläger wegen seiner Beschäftigung in knappschaftlichen Betrieben auch für die Zeit vor dem 1. Juni 1957 somit nicht versicherungsfrei war und die für diese Zeit entrichteten Beiträge zur knappschaftlichen Rentenversicherung daher nicht zu Unrecht geleistet worden sind, durften sie nicht beanstandet werden. Sie sind vielmehr bei der Berechnung des Knappschaftsruhegeldes zu berücksichtigen.
Demgemäß war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen