Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Überprüfung des Aktenbestandes bei unrichtiger Rechtsanwendung. Beurteilungszeitpunkt für Rechtsanwendung. Verfallklausel. Neuberechnung trotz Verjährungseinrede. Gefahrklasse bei wechselseitiger Beschäftigung
Leitsatz (amtlich)
1. Unter den Voraussetzungen des § 44 Abs 1 SGB 10 sind auch Beitragsbescheide der Unfallversicherungsträger zurückzunehmen.
2. Für den Beitragserstattungsanspruch nach § 26 Abs 1 SGB 4 findet die Verfallklausel des Abs 1 S 1 in der gesetzlichen Unfallversicherung jedenfalls dann keine Anwendung, wenn die Rechtswidrigkeit der Beitragserhebung auf einer unrichtigen Einstufung in die Gefahrklassen des Gefahrtarifs beruht.
Orientierungssatz
1. Ergibt sich in einem Einzelfall die unrichtige Rechtsanwendung, ist der Leistungsträger von der Verpflichtung befreit, regelmäßig oder aus besonderem Anlaß den gesamten Aktenbestand daraufhin zu überprüfen, ob sich ein Anlaß zu einem Vorgehen nach § 44 SGB 10 ergibt. Stattdessen ist er nur in einem Einzelfall verpflichtet, nach § 44 Abs 1 SGB 10 vorzugehen, wenn ein bestimmter Verwaltungsakt zur Überprüfung gestellt wird.
2. Die Frage, ob das Recht unrichtig angewandt wurde, ist nicht nach der bei Erlaß des Verwaltungsaktes bestehenden oder herrschenden Rechtsauffassung, sondern im Lichte einer - eventuell geläuterten - Rechtsauffassung in rückschauender Betrachtungsweise zu beurteilen.
3. Ob die Verfallklausel des § 26 Abs 1 SGB 4 in der Unfallversicherung niemals anzuwenden ist, wenn zu Unrecht entrichtete Beiträge im Umlageverfahren (§§ 740 ff RVO) erhoben worden sind, läßt der Senat offen.
4. Der Ablauf der Verjährungsfrist nach § 27 Abs 2 SGB 4 hat keinen Einfluß auf das Bestehen des Erstattungsanspruchs, sondern berechtigt den Versicherungsträger lediglich, die Erstattung zu verweigern. Es besteht ein Anspruch auf Beitragsneuberechnung trotz Verjährungseinrede.
5. Zur Frage, welcher Gefahrklasse des Gefahrtarifs die Entgelte der wechselseitig im kaufmännischen und verwaltenden Teil (Büroteil) und im gewerblichen Teil Beschäftigten zuzuordnen sind.
Normenkette
SGB 4 § 26 Abs 1 S 1; SGB 10 § 44 Abs 1 S 1 Alt 1; RVO § 734 Abs 2, § 740; SGB 4 § 27 Abs 2 S 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin verlangt von der Beklagten die Änderung bindend gewordener Beitragsbescheide und die Erstattung überzahlter Beiträge.
Die Klägerin wurde für die Jahre 1970 bis 1974 und aufgrund des Veranlagungsbescheides vom 17. Juli 1975 für die Jahre 1975 bis 1979 mit dem kaufmännischen und verwaltenden Teil (Büroteil) ihres Unternehmens zu der Gefahrklasse 0,7 und mit dem gewerblichen Teil zu der Gefahrklasse 3,5 des Gefahrtarifs der Beklagten veranlagt. Bis einschließlich 1973 hatte die Beklagte diejenigen Versicherten, die sowohl im Büroteil als auch im gewerblichen Teil Tätigkeiten verrichteten (wechselseitig Beschäftigte), bei der Berechnung der Beiträge entsprechend den Anteilen ihrer Tätigkeiten sowohl in der Gefahrklasse 0,7 als auch in der Gefahrklasse 3,5 berücksichtigt, sofern ihre gewerbliche Tätigkeit nicht überwog. Bei der Beitragsberechnung für die Umlagejahre ab 1974 ordnete die Beklagte wechselseitig Beschäftigte ohne Rücksicht auf den Umfang ihrer Tätigkeiten im Büroteil des Unternehmens ausschließlich der Gefahrklasse 3,5 zu und berechnete aufgrund dieser Einstufung die von der Klägerin zu entrichtenden Beiträge.
Die Klägerin hatte ihre Klage gegen die in dem Beitragsbescheid für 1974 vorgenommene Änderung der Zuordnung zu den Gefahrklassen im erstinstanzlichen Verfahren zurückgenommen. Sie ließ auch die Beitragsbescheide für die Jahre 1975 bis 1979 bindend werden.
Im Juni 1982 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31. März 1981 (BSGE 51, 260 = SozR 2200 § 730 Nr 2), die Beitragsbescheide für 1974 bis 1979 zurückzunehmen, die Beiträge neu zu berechnen und die überzahlten Beiträge zurückzuerstatten. Das lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 22. Juli und 24. September 1982 sowie mit dem nach Klageerhebung erlassenen Widerspruchsbescheid vom 11. November 1983 unter Hinweis auf die Bindungswirkung der Beitragsbescheide und die Verjährung der Erstattungsansprüche für die Jahre 1974 bis 1977 ab.
Während die Klage in erster Instanz erfolglos geblieben ist (Urteil des Sozialgerichts -SG- Hamburg vom 19. Dezember 1984), hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg die Beklagte unter Änderung der Beitragsbescheide für die Jahre 1974 bis 1979 verurteilt, die Berechnung der auf wechselseitig Beschäftigte entfallenden Beiträge nach der bis zum Ablauf des Jahres 1973 geübten Verwaltungspraxis vorzunehmen und die für die Jahre 1977 bis 1979 zuviel gezahlten Beiträge zu erstatten (Urteil vom 17. September 1986): Die der Klägerin für die Jahre 1974 bis 1979 erteilten Beitragsbescheide seien insoweit rechtswidrig, als abweichend von der bis 1973 geübten Praxis wechselseitig Beschäftigte ausschließlich der Gefahrklasse für den gewerblichen Teil zugeordnet worden seien. Aufgrund des Urteils des BSG vom 31. März 1981 (aaO) stehe fest, daß die bis 1973 praktizierte Verfahrensweise ohne eine ausdrückliche andere Regelung im Gefahrtarif nicht habe geändert werden können. Die rechtswidrigen Beitragsbescheide seien nach § 44 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), zurückzunehmen. Die Rücknahme der Beitragsbescheide für 1974 bis 1979 begründe die Verpflichtung der Beklagten, zuviel erhobene Beiträge, soweit sie nicht verjährt seien, zu erstatten. Die von der Beklagten erhobene Verjährungseinrede greife nur für die Jahre 1974 bis 1976 durch.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG), § 44 SGB X und Art II § 40 Abs 2 SGB X. § 44 SGB X finde nach der Übergangsvorschrift des Art II § 40 Abs 2 Satz 3 SGB X auf vor dem Inkrafttreten des Gesetzes bindend gewordene Beitragsbescheide keine Anwendung, da dies einer mit dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit nicht zu vereinbarenden rückwirkenden Anwendung eines belastenden Gesetzes gleichkäme. Dem stehe der von der Rechtsprechung entwickelte Grundsatz entgegen, daß in der Vergangenheit abgeschlossene, zurückliegende Versicherungsverhältnisse nicht nachträglich umgestaltet werden dürften. Das schließe auch die Rückabwicklung verbindlicher Beitragsbescheide aus, selbst wenn sie rechtswidrig seien. Auch aus § 734 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), der eine Neuveranlagung während der Tarifzeit nur unter besonders engen Voraussetzungen zulasse, folge der Ausschluß der Rücknahme bindender Beitragsbescheide für die vergangenen Tarifperioden. Eine Anwendung des § 44 SGB X auf in der Vergangenheit liegende Beitragsbescheide wäre mit einer nachträglichen Mehrbelastung anderer Mitglieder verbunden, würde die Rechtssicherheit bedrohen und das gesicherte Finanzierungssystem der Berufsgenossenschaften in höchstem Maße gefährden; denn dann müßte auch geprüft werden, ob anderen Mitgliedern aus den gleichen Gründen Beiträge zu erstatten seien. Eine rückwirkende Beseitigung der Bestandskraft von Beitragsbescheiden der Berufsgenossenschaften könne nicht durch die allgemeinen Regelungen des § 44 SGB X und des Art II § 40 Abs 2 SGB X bewirkt werden, sondern hätte einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung bedurft. Darüber hinaus seien auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 44 SGB X nicht erfüllt. Die Entscheidung des BSG vom 31. März 1981 (aaO) habe einen Einzelfall betroffen, an dem die Klägerin des vorliegenden Rechtsstreites nicht beteiligt gewesen sei. Das BSG habe auch nur die Verfahrensweise, nämlich das Fehlen einer Neuregelung im Gefahrtarif, beanstandet, nicht jedoch die materielle Regelung mißbilligt. Ihr könne bis zu der Entscheidung des BSG keine unrichtige Rechtsanwendung iS des § 44 SGB X vorgeworfen werden, da sie lediglich zu einem Verfahren zurückgekehrt sei, das bis zu diesem Zeitpunkt von niemandem ernstlich in Frage gestellt worden sei und der Praxis der Sozialversicherungsträger sowie den Grundsätzen und Richtlinien des Reichsversicherungsamtes (RVA) vom 23. März 1939 (I G 1430/39-25) entsprochen habe. Dem Erstattungsanspruch der Klägerin stehe die im Unfallversicherungsrecht geltende Ausnahmeregelung des § 26 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) entgegen. Schließlich habe die Klägerin ihr Antrags- und Klagerecht dadurch verwirkt, daß sie, nachdem sie die Klage gegen den Beitragsbescheid für 1974 zurückgenommen und die späteren Beitragsbescheide nicht angefochten habe, erst mehr als ein Jahr nach dem Urteil des BSG vom 31. März 1981 (aaO) einen Erstattungsanspruch geltend gemacht habe.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 17. September 1986 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Die Entscheidungsformel des angefochtenen Urteils ist anhand der Urteilsgründe dahin auszulegen, daß das LSG die seiner Entscheidung entgegenstehenden, angefochtenen Verwaltungsakte vom 22. Juli und 24. September 1982 idF des Widerspruchsbescheides vom 11. November 1983 aufgehoben hat. Die Verurteilung der Beklagten hat zum Inhalt, die auf wechselseitig Beschäftigte entfallenden Beiträge nach der bis zum Ablauf des Jahres 1973 geübten Verwaltungspraxis neu zu berechnen und insoweit die Beitragsbescheide für die Veranlagungsjahre 1974 bis 1979 zu ändern; außerdem muß die Beklagte der Klägerin die für die Veranlagungsjahre 1977 bis 1979 zuviel gezahlten Beiträge erstatten. Zutreffend hat das LSG diese Klageansprüche gemäß § 44 Abs 1 SGB X und § 26 Abs 1 SGB IV bejaht.
Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt ... ist, und soweit deshalb ... Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Gemäß § 44 Abs 3 SGB X entscheidet über die Rücknahme nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts die zuständige Behörde.
Die Vorschrift findet Anwendung, obwohl die umstrittenen Beitragsbescheide vor dem Inkrafttreten des SGB X am 1. Januar 1981 erlassen worden sind. Nach Art II § 40 Abs 2 Satz 1 und 2 SGB X ist § 44 SGB X auf alle Verfahren anzuwenden, in denen nach dem 31. Dezember 1980 ein Verwaltungsakt zur Aufhebung ansteht, auch wenn er vor dem 1. Januar 1981 ergangen ist (BSGE 54, 223, 228 - Großer Senat - = SozR 1300 § 44 Nr 3 - auch zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit -, seitdem ständige Rechtsprechung des BSG). Die Beitragsbescheide, deren Änderung die Klägerin anstrebt, sind belastende Verwaltungsakte, für die Art II § 40 Abs 2 Satz 3 SGB X nicht gilt (BSGE aaO S 229).
Ob und unter welchen Voraussetzungen die Neufeststellung von Beiträgen mit Wirkung für die Vergangenheit zugunsten der Beitragsschuldner zulässig ist, richtet sich nach § 44 Abs 1 SGB X als einer allgemeinen Vorschrift des sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrens. Sie ist auch auf Beitragsbescheide der Berufsgenossenschaften anzuwenden, weil der Gesetzgeber des SGB X hier bewußt auf Sonderregelungen verzichtet hat, die von ihm in anderen Bereichen für erforderlich gehalten worden sind.
So hat er im Arbeitsförderungsrecht und im Kindergeldrecht durch Änderung des § 152 Abs 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) und durch Einfügung des § 20 Abs 5 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) abweichend von § 44 Abs 1 SGB X die Verpflichtung zur Rücknahme rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakte nur mit Wirkung für die Zukunft vorgeschrieben und die rückwirkende Rücknahme solcher Verwaltungsakte in das Ermessen der Behörde gestellt (vgl § 20 Abs 5 Halbs 2 BKGG; zu § 152 Abs 1 AFG: BSG SozR 1300 § 44 Nr 26). Im Beitragsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung sind zwar § 734 Abs 2 und § 749 RVO - letzterer unter Streichung der Nr 4 - beibehalten worden, die die Neuveranlagung für die Tarifzeit und die Änderung von Beitragsbescheiden zuungunsten der Beitragsschuldner regeln. Jedoch ist keine Sonderregelung getroffen, die es ausschließt oder einschränkt, daß generell Beitragsbescheide zugunsten der Beitragsschuldner mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Während § 622 Abs 1 und § 627 RVO aF, die die Neufeststellung von Leistungen regelten, im Hinblick auf die §§ 48 und 44 SGB X durch Art II § 4 Nr 1 SGB X aufgehoben wurden, hat sich der Gesetzgeber für die Beibehaltung von § 734 Abs 2 und § 749 RVO entschieden. Indessen berührt weder § 749 RVO noch § 734 Abs 2 RVO den Regelungsbereich des § 44 SGB X in Bezug auf Beitragsbescheide.
§ 749 RVO schreibt vor, unter welchen Voraussetzungen die Berufsgenossenschaft nach Zustellung des Beitragsbescheides den Beitrag zuungunsten des Beitragsschuldners "noch anders feststellen" kann. Die Vorschrift schließt als lex specialis lediglich die Anwendung des § 45 SGB X aus, der die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte regelt (vgl auch Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl, § 749 Rdnr 2; Wiesner, SGb 1984, 95; LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1984, 657, 659). § 749 RVO enthält jedoch keine Regelung darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen fehlerhafte Beitragsbescheide zugunsten der Beitragsschuldner geändert werden können. Den Anspruch auf Rücknahme fehlerhafter Beitragsbescheide zugunsten des Beitragsschuldners regelt allein § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X (Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, aaO; Wiesner, aaO, S 96; LSG Rheinland-Pfalz, aaO).
Auch § 734 Abs 2 RVO schließt die Anwendung des § 44 SGB X auf bestandskräftige rechtswidrige Beitragsbescheide nicht aus. Die Vorschrift regelt lediglich, unter welchen Voraussetzungen ein Bescheid über die Veranlagung zu den Gefahrklassen zugunsten oder zuungunsten des Beitragsschuldners für die Tarifzeit geändert werden kann. Der Senat hat in seinem Urteil vom 12. Dezember 1985 (SozR 2200 § 734 Nr 5) offengelassen, ob in den Fällen, in denen eine Neuveranlagung zuungunsten des Unternehmers nach § 734 Abs 2 RVO nicht zulässig ist, noch eine Rücknahme des Veranlagungsbescheides aufgrund der allgemeinen Vorschrift des § 45 SGB X in Betracht kommt. Indessen bedarf im vorliegenden Fall weder diese Frage einer Entscheidung noch die Frage, ob über § 734 Abs 2 RVO hinaus Veranlagungsbescheide für die laufende Tarifzeit oder für abgelaufene Tarifzeiträume zugunsten des Unternehmers nach § 44 SGB X zurückgenommen werden können (bejahend: LSG Rheinland-Pfalz, aaO; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, aaO, § 734 Rdnr 6; Wiesner, aaO, S 97). Streitig ist nicht die unrichtige Veranlagung der Klägerin zu den Gefahrklassen des Gefahrtarifs, sondern das erst aufgrund einer solchen Veranlagung vorgenommene Verfahren der Beitragsberechnung, nach dem die Entgelte wechselseitig Beschäftigter ausschließlich in die Gefahrklasse für den gewerblichen Teil des Betriebs eingeordnet werden. Die Klägerin begehrt dementsprechend nur die Änderung der Beitragsbescheide für die Jahre 1974 bis 1979, nicht jedoch die Rücknahme der ihnen zugrundeliegenden Veranlagungsbescheide. Sie will nicht durch eine nachträgliche Änderung von Beitragsbescheiden rückwirkend in die erstrebte Stetigkeit und Sicherheit der Veranlagung eingreifen, was im Interesse sowohl des Unternehmens als auch der Berufsgenossenschaft grundsätzlich vermieden werden soll (Urteil des Senats vom 12. Dezember 1985, aaO). Deshalb bestehen auch insoweit keine Bedenken gegen die Anwendung des § 44 SGB X auf Beitragsbescheide.
Ebensowenig schränken allgemeine Grundsätze im Beitragsrecht der Unfallversicherung den Geltungsbereich des § 44 SGB X ein. Der Grundsatz, daß in schon begründete und sogar zum Teil abgewickelte Versicherungsverhältnisse nicht rückwirkend ändernd oder aufhebend eingegriffen werden darf (vgl BSGE 24, 45, 48; 35, 195, 198; 50, 129, 131; BSG SozR 2600 § 121 Nr 3), hat allgemein seit dem Inkrafttreten des § 26 Abs 1 SGB IV am 1. Juli 1977 und des § 44 SGB X am 1. Januar 1981 nur noch begrenzte Bedeutung im gesetzlich festgelegten Rahmen. Im Beitragsrecht der Unfallversicherung ist seine Bedeutung seit jeher eingeschränkt, weil sich eine rückwirkende Neufestsetzung der von einem Unternehmer im Umlageverfahren zu entrichtenden Beiträge auf den Umfang der Leistungen, die den bei ihm beschäftigten Versicherten zu gewähren sind, nicht auswirkt. Ihre Leistungsansprüche bemessen sich nicht nach der Höhe der von ihren Arbeitgebern zu zahlenden Beiträge. Da eine Neufeststellung der Beiträge nicht zu einer Rückabwicklung bereits erbrachter Leistungen führen kann, ist auch insoweit die rückwirkende Rücknahme der Beitragsbescheide nicht ausgeschlossen.
Die Urteile des 5. Senats des BSG (BSGE 50, 129 = SozR 2600 § 121 Nr 2 und BSG SozR 2600 § 121 Nr 3) stehen dieser auf das Beitragsrecht der Unfallversicherung bezogenen Ansicht des Senats nicht entgegen.
Auch mit dem Einwand, eine Anwendung des § 44 SGB X auf in der Vergangenheit liegende Beitragsbescheide würde zu einer nachträglichen Mehrbelastung anderer Mitglieder führen und das gesicherte Finanzierungssystem der Berufsgenossenschaften gefährden, kann die Revision nicht durchdringen. Der erstere allgemeine Gesichtspunkt ist vom Gesetzgeber als unerheblich in Kauf genommen worden. Andernfalls führte er zu einer Unanwendbarkeit des § 44 SGB X auf Beitragsbescheide. Denn auch in anderen Sozialversicherungszweigen treten Mehrbelastungen der übrigen Mitglieder ein, wenn frühere Beitragsbescheide zuungunsten des Versicherungsträgers geändert werden. Es darf nämlich nicht übersehen werden, daß sich auch in anderen Versicherungszweigen nicht alle Leistungsansprüche der Versicherten nach den gezahlten Beiträgen bemessen, in der Krankenversicherung zB das Krankengeld, das etwa 10 vH der Gesamtaufwendungen ausmacht. Eine Gefährdung des Finanzierungssystems ist in der Unfallversicherung deshalb nicht zu besorgen, weil die infolge nachträglicher Änderungen von Beitragsbescheiden vorzunehmenden Beitragserstattungen an einzelne Mitglieder als Bedarf des abgelaufenen Geschäftsjahres durch entsprechend bemessene Beiträge abgedeckt werden (§ 724 Abs 1 RVO). Von einer deswegen eventuell notwendig werdenden Anhebung des Beitragsfußes und einer Erhöhung der Beiträge werden alle Mitglieder gleichermaßen betroffen. Die Belastung der anderen Mitglieder mit höheren Beiträgen findet grundsätzlich einen ausreichenden Ausgleich. Zum einen war ihre Beitragsbelastung in der Vergangenheit infolge der überhöhten Beitragsfestsetzung zuungunsten der nun erstattungsberechtigten Mitglieder entsprechend geringer und außerdem kommen ihnen Beitragsnachforderungen ihres Unfallversicherungsträgers im laufenden Jahr zugute.
Wie das LSG im Ergebnis zutreffend erkannt hat, sind die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 Alternative 1 SGB X erfüllt. Bei den Beitragsbescheiden für die Jahre 1974 bis 1979 hat die Beklagte das Recht unrichtig angewandt. Vor allem ergibt sich das in einem Einzelfall. Diese Voraussetzung befreit den Leistungsträger von der Verpflichtung, regelmäßig oder aus besonderem Anlaß den gesamten Aktenbestand daraufhin zu überprüfen, ob sich ein Anlaß zu einem Vorgehen nach § 44 SGB X ergibt (vgl Hauck/Haines/Vöcking, SGB X, 1, 2, Stand: 1. Februar 1987, K § 44 Rdnr 14). Stattdessen ist der Leistungsträger nur in einem Einzelfall wie dem vorliegenden verpflichtet, nach § 44 Abs 1 SGB X vorzugehen, wenn ein bestimmter Verwaltungsakt zur Überprüfung gestellt wird.
Im Gegensatz zur Rechtsauffassung der Revision wäre eine unrichtige Rechtsanwendung iS des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X nicht ausgeschlossen, wenn sich die Beklagte für die von ihr in den Jahren 1974 bis 1979 vorgenommene Einstufung wechselseitig Beschäftigter in die Gefahrklassen des Gefahrtarifs auf die im Zeitpunkt des Erlasses der Beitragsbescheide geübte Praxis der Sozialversicherungsträger und auf die Grundsätze und Richtlinien des RVA vom 23. März 1939 berufen könnte (vgl die dafür sprechenden "Grundsätze und Richtlinien für die Aufstellung der Tarifunterlagen, des Tarifentwurfs usw zu der Nachprüfung der berufsgenossenschaftlichen Gefahrtarife" vom 23. März 1939 - I G 1430/39-25 -). Darin heißt es unter den allgemeinen Grundsätzen für die Sammlung der zahlenmäßigen Tarifunterlagen -II F-: "Der Entgelt und die Entschädigungen der Versicherten, die regelmäßig in kaufmännischen und verwaltenden Teile und in technischen Teile der Betriebe beschäftigt werden, sind ungeteilt dem technischen Betriebsteile - Hauptbetriebe - zuzurechnen." Indessen wird diese Bestimmung in den "Richtlinien" des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften "für die Nachprüfung der Gefahrtarife" (aufgestellt im Oktober 1949 - Rundschreiben VB 108/49 vom 30. Dezember 1949 -) nicht mehr wiederholt. Es wäre auch unerheblich, ob die Beitragsbescheide der bei ihrem Erlaß herrschenden Rechtsauffassung entsprächen. Denn die Frage, ob das Recht unrichtig angewandt wurde, ist nicht nach der bei Erlaß des Verwaltungsaktes bestehenden oder herrschenden Rechtsauffassung, sondern im Lichte einer - eventuell geläuterten - Rechtsauffassung in rückschauender Betrachtungsweise zu beurteilen (Hauck/Haines/Vöcking, aaO, K § 44 Rdnr 8; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 232 d IV). Wesentlich ist nur, ob der Verwaltungsakt bei der Entscheidung über die Anwendung des § 44 SGB X als rechtswidrig anzusehen ist (BSG SozR 1300 § 44 Nr 13). Ob gleichzeitig die Voraussetzungen des § 48 Abs 2 SGB X insoweit erfüllt sind, daß das BSG in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlaß des Verwaltungsaktes und sich dies zugunsten des Berechtigten auswirkt, kann dahinstehen. Denn der 2. Halbsatz der Norm: "§ 44 bleibt unberührt", stellt klar, daß beide Vorschriften nebeneinander anwendbar sind und daß der Geltungsbereich des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X, der eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit zwingend vorschreibt, durch § 48 Abs 2 SGB X nicht eingeengt werden sollte (BSG aaO).
Der Senat hat bereits entschieden, daß die vom Vorstand und der Vertreterversammlung der Beklagten gefaßten Beschlüsse vom 7. November 1972 bzw 15. Dezember 1972 zu der neuen Nachweisung der Entgelte für wechselseitig Beschäftigte ab dem Beitragsjahr 1974 (veröffentlicht in Nr 1/1974 der Beilage zu ihrem Mitteilungsblatt "Unfall-stop") den maßgebenden Gefahrtarif vom 18. September 1974 unrichtig auslegen (BSGE 51, 260 = SozR 2200 § 730 Nr 2). Daran ist auch weiterhin festzuhalten. Der für die Beitragsrechnung der Jahre 1974 bis 1979 gültige Gefahrtarif enthielt keine Regelungen über die Einstufung wechselseitig Beschäftigter. Diese Lücke ist durch Auslegung des Gefahrtarifs zu schließen. Hierbei ist davon auszugehen, daß weder der Beklagten ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zusteht noch den von ihrem Vorstand und ihrer Vertreterversammlung zuvor gefaßten und veröffentlichten Beschlüssen eine Bindungswirkung zukommt. Der Einteilung des für die Beitragsberechnung der Jahre 1974 bis 1979 maßgeblichen Gefahrtarifs in einen Büroteil und einen gewerblichen Teil des Unternehmens entspricht es, die Tätigkeiten eines wechselseitig Beschäftigten jeweils dem Unternehmensteil zuzuordnen, dem sie dienen. Deshalb ist - mangels einer anderweitigen Bestimmung im Gefahrtarif - bei einem wechselseitig Beschäftigten nur der dem Büroteil nicht dienende Teil der Tätigkeiten in die für den gewerblichen Teil maßgebende Gefahrklasse einzustufen. Ob die Beklagte in dem Gefahrtarif eine Regelung, daß wechselseitig Beschäftigte ausschließlich dem gewerblichen Teil zuzuordnen sind, hätte treffen können, ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Beitragsbescheide unerheblich. Sie hat dies in dem von ihrer Vertreterversammlung am 23. November 1979 beschlossenen und vom Bundesversicherungsamt gemäß § 732 RVO genehmigten, zur Beitragsberechnung ab 1. Januar 1980 gültigen Gefahrtarif getan.
Die von der Beklagten in den Beitragsbescheiden für 1974 bis 1979 vorgenommene Eingruppierung wechselseitig Beschäftigter ausschließlich in die Gefahrklasse für den gewerblichen Teil (3,5) war somit rechtswidrig. Die Beitragsbescheide beruhen insoweit auf einer unrichtigen Anwendung des Gefahrtarifs, der objektives Recht ist (BSG SozR 2200 § 731 Nr 1 und § 734 Nr 5). Da infolge dieser unrichtigen Rechtsanwendung Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, sind die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X erfüllt.
Die zu Unrecht entrichteten Beiträge für die Jahre 1977 bis 1979 hat die Beklagte der Klägerin gemäß § 26 Abs 1 SGB IV zu erstatten; der Erstattungsanspruch für die Jahre 1974 bis 1976 ist verjährt (§ 27 Abs 2 SGB IV).
Nach § 26 Abs 1 SGB IV sind zu Unrecht entrichtete Beiträge zu erstatten, es sei denn, daß der Versicherungsträger bis zur Geltendmachung des Erstattungsanspruchs aufgrund dieser Beiträge oder für den Zeitraum, für den die Beiträge zu Unrecht entrichtet worden sind, Leistungen erbracht oder zu erbringen hat. Diese Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt. Denn die Beklagte ist einerseits nach § 44 Abs 1 SGB X verpflichtet, die rechtswidrigen Beitragsbescheide aufzuheben, ohne daß ihr andererseits die Voraussetzungen des § 26 Abs 1 Teilsatz 2 SGB IV zur Seite stehen. Die letztgenannte Ausnahmeregelung entspricht dem bereits zu § 44 SGB X erörterten allgemeinen Rechtsgrundsatz im Beitragsrecht der Sozialversicherung und modifiziert vornehmlich die bisher in der Rentenversicherung getroffene Regelung des § 1424 RVO aF (vgl die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines SGB IV, BT-Drucks 7/4122 S 34 zu § 27). Die Verfallklausel beruht auf der Vorstellung einer wechselseitigen Abhängigkeit von Beiträgen und Leistungen (vgl Hauck/Haines/Gleitze, SGB IV 1, § 26 Rdnr 5). Das folgt aus dem Entwicklungsansatz bei § 1424 RVO aF, der dem in der Rentenversicherung geltenden Grundsatz der Gegenseitigkeit entsprach (BSG SozR 2200 § 1424 Nr 1). Ob die Verfallklausel des § 26 Abs 1 SGB IV deshalb in der Unfallversicherung niemals anzuwenden ist, wenn zu Unrecht entrichtete Beiträge im Umlageverfahren (§§ 740 ff RVO) erhoben worden sind (so Hauck/Haines/Gleitze, aaO, § 26 Rdnr 8; aA Schwerdtfeger in SGB-SozVers-GesKomm, § 26 SGB IV Anm 7a und 7c), läßt der Senat offen. Jedenfalls kann die Verfallklausel dann keine Anwendung finden, wenn es an jeder Form eines Zusammenhangs zwischen den zu erstattenden Beiträgen und erbrachten oder zu erbringenden Leistungen fehlt. Das trifft auf den vorliegenden Rechtsstreit zu, in dem sich die Rechtswidrigkeit der Beitragserhebung aus einer unrichtigen Einstufung in die Gefahrklassen des Gefahrtarifs ergibt (ebenso auch Schwerdtfeger, aaO, § 26 SGB IV Anm 7c).
Wie das LSG zutreffend erkannt hat, ist der Erstattungsanspruch der Klägerin nur für die Jahre 1974 bis 1976 verjährt. Nach § 27 Abs 2 Satz 1 SGB IV verjährt der Anspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge entrichtet worden sind. Da die Beklagte den Beitrag für das Jahr 1977 erst durch Beitragsbescheid vom 18. April 1978 festgesetzt hat, kann der Beitrag frühestens im Jahre 1978 entrichtet worden sein. Die Verjährungsfrist für den Anspruch auf Erstattung der für das Jahr 1977 zu Unrecht geleisteten Beiträge wäre am 31. Dezember 1982 abgelaufen. Sie ist durch den von der Klägerin im Juni 1982 gestellten Erstattungsantrag unterbrochen worden (§ 27 Abs 3 Satz 2 SGB IV).
Die Verjährung des Anspruchs der Klägerin auf Erstattung der für die Jahre 1974 bis 1976 zuviel entrichteten Beiträge hindert nicht die Verurteilung der Beklagten zur Neuberechnung der Beiträge für diese Zeiträume. Insbesondere fehlt es hierfür nicht an einem Rechtsschutzinteresse der Klägerin (aA für die Aufhebung von Bescheiden: LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1984, 657, 661). Der Ablauf der Verjährungsfrist hat keinen Einfluß auf das Bestehen des Erstattungsanspruchs, sondern berechtigt den Versicherungsträger lediglich, die Erstattung zu verweigern. Er hat über die Erhebung der Verjährungseinrede nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (BSGE 58, 154, 159 = SozR 2100 § 27 Nr 4; BSGE 61, 226, 229 = SozR 1200 § 39 Nr 5; BSG-Urteil vom 26. März 1987 - 11a RLw 2/86 -, nicht veröffentlicht). Obwohl die Beklagte in dem vorliegenden Verfahren die Verjährungseinrede erhoben hat, kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Klägerin im späteren Rückabwicklungsverfahren Gründe vorzutragen vermag, die die Beklagte veranlassen, ihr Ermessen dahin auszuüben, auf die Einrede der Verjährung zu verzichten.
Die Klägerin hat ihr Recht nicht verwirkt, von der Beklagten die Überprüfung der bindend gewordenen Beitragsbescheide nach § 44 SGB X zu beantragen. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat sie sich nach dem Inkrafttreten dieser Norm am 1. Januar 1981 (Art II § 40 Abs 1 Satz 1 SGB X) gegenüber der Beklagten nicht so verhalten, daß diese darauf vertrauen durfte, die Klägerin werde von der ihr durch § 44 SGB X eröffneten Möglichkeit keinen Gebrauch machen (vgl BSGE 34, 211, 214 = SozR Nr 14 zu § 242 Bürgerliches Gesetzbuch; BSGE 38, 187, 193 = SozR 2200 § 664 Nr 1; BSGE 51, 260, 262 = SozR 2200 § 730 Nr 2).
Die Revision der Beklagten war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen