Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff "Kind" iS sozialrechtlicher Vorschriften

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Begriff "Kind" iS sozialrechtlicher Vorschriften trifft - unbeschadet der lebenslangen Eltern-Kind-Beziehungen und der bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtungen - nur auf solche Kinder zu, die ihren Lebensmittelpunkt in der Familie ihrer Eltern oder Erziehungsberechtigten haben oder - wenn sie selbst verheiratet sind - deren Ausbildung noch nicht beendet ist, so daß ihre Eltern weiterhin mit Unterhaltsleistungen belastet bleiben.

 

Orientierungssatz

Ein Anspruch auf Kindergeld für ein behindertes Kind besteht nur, wenn die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.

 

Normenkette

BKGG § 2 Abs. 4 Fassung: 1970-12-16, Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Fassung: 1975-12-18

 

Verfahrensgang

SG Kiel (Entscheidung vom 03.02.1977; Aktenzeichen S 5 Kg 21/76)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 3. Februar 1977 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin ist 1913, ihr Sohn K D (D.) am 27. Mai 1936 geboren. Dieser war versicherungspflichtig beschäftigt. Seit dem 12. Februar 1970 ist er dauernd erwerbsunfähig; wegen einer geistigen Erkrankung befindet er sich seitdem im Bezirkskrankenhaus A. D. ist außerstande, sich selbst zu unterhalten. Er bezieht - nach dem Inhalt der Verwaltungsakten - von der Landesversicherungsanstalt O und M, B, eine Erwerbsunfähigkeits-Rente, die 1971 451,70 DM und Anfang 1976 585,50 DM betrug. Darin ist ein Kinderzuschuß für seine Tochter G, geboren am 17. Januar 1961, enthalten. D. ist geschieden; Unterhaltsansprüche gegen die geschiedene Ehefrau bestehen nicht. Da die eigenen Einkünfte des D. zur Bestreitung der Krankenhauskosten nicht ausreichten, wurden diese u.a. in der Zeit vom 19. März 1975 bis 31. Dezember 1975 in großem Umfang von dem Bezirk M - Sozialhilfeverwaltung - getragen. Danach hat die Allgemeine Ortskrankenkasse N (AOK) die Kosten übernommen.

Am 5./9. Mai 1975 stellte der Bezirk M - Sozialhilfeverwaltung -, am 21. Mai 1975 auch die Klägerin einen Antrag auf Gewährung von Kindergeld für ihren Sohn K. Mit Bescheid vom 25. Mai 1976 lehnte das Arbeitsamt N die Gewährung von Kindergeld ab, weil die Behinderung des K D. nicht bereits vor Vollendung seines 27. Lebensjahres vorgelegen habe. Gegen diesen Bescheid legten die Klägerin und der Bezirk M - Sozialhilfeverwaltung - Widerspruch ein. Dieser wurde durch Bescheid vom 30. Juli (nicht Juni) 1976 zurückgewiesen.

Der Bezirk M - Sozialhilfeverwaltung - hat am 19. August 1976 für die Klägerin Klage erhoben mit dem Antrag, der Klägerin ab 19. März 1975 Kindergeld zu gewähren und dieses für die Zeit vom 19. März bis 31. Dezember 1975 an den Bezirk M - Sozialhilfeverwaltung - überzuleiten. Das Sozialgericht (SG) Kiel hat mit Urteil vom 3. Februar 1977 die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. In den Gründen wird ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zahlung von Kindergeld für den jetzt 41-jährigen Sohn K D. lägen gemäß § 2 Abs. 4 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) nicht vor, da die dauernde Behinderung des D. erst in seinem 35. Lebensjahr eingetreten sei und nicht schon bei Ablauf des 27. Lebensjahres bestanden habe. Diese Auffassung ergebe sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes; sie werde durch den Sinngehalt der gesamten Kindergeldregelung bestätigt. Diese (enge) Auslegung des Gesetzes verstoße auch nicht gegen die Grundsätze eines sozialen Rechtsstaates, zumal der Lebensunterhalt des Behinderten auf andere Weise, insbesondere durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) sichergestellt sei.

Die Klägerin hat am 7. April 1977 mit Zustimmung der Beklagten Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 2 Abs. 2 Nr. 3 iVm Abs. 4 BKGG und trägt dazu vor, dem Wortlaut dieser Vorschriften sei nicht zu entnehmen, daß die Behinderung bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sein müsse. Im Gegenteil zeige die Wortfassung in anderen Sozialgesetzen - zB § 45 Abs. 3 c des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), § 1262 Abs. 2 Ziff. 7 der Reichsversicherungsordnung (RVO), § 18 Abs. 3 Bayer. BesG -, daß der Gesetzgeber seinen Willen hinsichtlich der Notwendigkeit des zeitlichen Eintritts einer Anspruchsvoraussetzung immer deutlich zum Ausdruck gebracht habe. Dagegen sei in § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG keine Zeitgrenze nach oben gesetzt. § 2 Abs. 4 bringe nur eine Verschärfung hinsichtlich der Unterhaltssicherstellung. Das Kindergeld solle über das 27. Lebensjahr hinaus erhalten bleiben, wenn das Kind eigener Unterhaltsfähigkeit ermangele und ein Unterhaltsanspruch gegen Dritte, mit Ausnahme der Eltern, nicht gegeben sei. Nur so seien diese Vorschriften auch in bezug auf den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck des Familienlastenausgleichs logisch zu lesen. Auch wenn die Behinderung erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres eintrete, fielen die Lasten entsprechend dem Unterhaltsrecht im Normalfall den Eltern anheim. Da das Kindergeld dem Katalog der Sozialleistungen zugehöre (§ 25 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB-AT) und die Sozialhilfe gegenüber diesem Sozialleistungsbereich nachrangig sei, könne die Rechtsauffassung der Beklagten schon aus diesem Grunde nicht zutreffen. Zu der von ihr - der Klägerin - vertretenen Auffassung komme im übrigen auch der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit in seinem Rundschreiben vom 22. Oktober 1974 (GZ: 232-2862-450) unter Ziff. 7.4.2. Die spätere Änderung in den Vollzugsbekanntmachungen zum BKGG für den öffentlichen Dienst sei offenbar aus rein fiskalischen Gründen erfolgt.

Die Klägerin beantragt:

1.

Das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 3. Februar 1977 sowie der Bescheid des Arbeitsamtes N - Kindergeldkasse - vom 25. Mai 1976 in der Form des Widerspruchsbescheides des Arbeitsamtes N - Kindergeldkasse - vom 30. Juni (richtig: Juli) 1976 werden aufgehoben.

2.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin einen Bescheid zu erteilen, nach welchem der Klägerin ab dem 9. März 1975 Kindergeld zu gewähren und dieses Kindergeld für die Zeit vom 19. März 1975 - 31. Dezember 1975 an den Bezirk M - Sozialhilfeverwaltung in A- überzuleiten ist.

3.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie nimmt Bezug auf die Ausführungen in dem erstinstanzlichen Urteil und trägt weiter vor, die von der Klägerin vertretene Gesetzesauslegung widerspreche dem Sinn und Zweck der Kindergeldregelung. Das Kindergeld sei keine allgemeine Sozialleistung und nicht dazu bestimmt, Leistungen für erwachsene Personen jeder Altersstufe zu erbringen, bei denen die Behinderung erst im hohen Alter eingetreten sei, nachdem diese Personen bereits der elterlichen Familie entwachsen gewesen seien und eine selbständige Stellung im Leben eingenommen hätten. Gerade in den von der Klägerin zitierten Sozialgesetzen komme deutlich der Rechtsgedanke zum Ausdruck, daß die Behinderung bereits vor Erreichen einer bestimmten Altersgrenze eingetreten sein müsse. Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit habe seine frühere Auffassung in einem Gemeinsamen Rundschreiben mit dem Bundesminister des Innern vom 18. Februar 1976 wieder aufgegeben und sich der Interpretation der Beklagten angeschlossen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die (Sprung-)Revision der Klägerin ist zulässig (§§ 161, 164, 166 SGG); sie ist jedoch unbegründet. Der erkennende Senat hat bereits in seinem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 23. Juni 1977 (8/12 RKg 7/77) mit ausführlicher Begründung entschieden, daß die (zeitlich unbegrenzte) Gewährung von Kindergeld für behinderte Kinder gemäß § 2 Abs. 4 iVm Abs. 2 Nr. 3 BKGG grundsätzlich nur in Betracht kommt, wenn die dauernde Behinderung in ihren objektiven Voraussetzungen vor Vollendung des 27. Lebensjahres des Kindes eingetreten ist.

Die Ausführungen der Klägerin geben dem Senat keinen Anlaß, von dieser Auffassung abzugehen.

Nach § 2 Abs. 4 BKGG wird ein Kind, das wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG), "über das 27. Lebensjahr hinaus" berücksichtigt, wenn es ledig oder verwitwet ist oder sein Ehegatte außerstande ist, es zu unterhalten. Schon der Wortlaut dieser Vorschrift deutet darauf hin, daß die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sein muß (vgl. § 33 b Abs. 4 Satz 2 Buchst. c BVG, § 18 Abs. 3 Bundesbesoldungsgesetz - BBesG - aF), denn wenn ein Kind über ein bestimmtes Lebensalter "hinaus" berücksichtigt wird, so setzt das nach allgemeinem Sprachgebrauch voraus, daß ein Anspruch auf Kindergeld bereits vor diesem Zeitpunkt bestanden haben muß. Dabei kommt es allerdings nicht darauf an, ob das Kindergeld tatsächlich gezahlt worden ist oder nicht; entscheidend ist vielmehr der Zeitpunkt, in dem die Behinderung eingetreten ist, und dieser Zeitpunkt muß vor Vollendung des 27. Lebensjahres gelegen haben. Diese Auffassung wird durch die gesetzliche Verweisung in § 2 Abs. 4 BKGG auf Abs. 2 Nr. 3 bestätigt. Da Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in jedem Falle - auch dann, wenn sie sich nicht mehr in Berufsausbildung befinden - Anspruch auf Kindergeld haben, und in Abs. 2 bestimmte Kategorien von Kindern genannt sind, die auch dann berücksichtigt werden, wenn sie das 18. Lebensjahr überschritten haben, muß aus der gesetzlichen Verweisung gefolgert werden, daß der Tatbestand der Behinderung (spätestens) zwischen dem 18. und 27. Lebensjahr eingetreten sein muß. Der Hinweis der Klägerin auf die in Abs. 3 getroffene Regelung trägt zur Lösung des hier vorliegenden Problems nichts bei. Die in Abs. 3 genannten Fälle (Nr. 1, 2, 4 und 5 aus Abs. 2) sind dadurch gekennzeichnet, daß der Anspruch auf Kindergeld grundsätzlich mit der Vollendung des 27. Lebensjahres endet, sofern nicht besondere Sachverhalte im Rahmen der Nr. 1 vorliegen, die eine begrenzte und im Gesetz genau vorgeschriebene Überschreitung dieses Höchstalters in Fällen der Schul- oder Berufsausbildung zulassen. Dagegen ist bei den hier interessierenden Fällen der Behinderung unbestritten, daß das Kindergeld - abweichend von den sonstigen Fällen des Abs. 3 - zeitlich unbegrenzt gewährt wird. Allein aus diesem Grunde mußte eine besondere gesetzliche Regelung erfolgen. Damit wird aber nicht die Ansicht der Klägerin bestätigt, daß die zeitlich unbegrenzte Gewährung von Kindergeld auch dann Platz greift, wenn die Behinderung erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.

Die historische Entwicklung und der Ablauf der gesetzlichen Änderungen sprechen gleichfalls gegen die von der Klägerin vertretene Auffassung. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 BKGG in der ursprünglichen Fassung vom 14. April 1964 (BGBl I S. 265) waren Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, nur zu berücksichtigen, wenn sie wegen körperlicher oder geistiger Mängel außerstande waren, sich selbst zu unterhalten, und unverheiratet waren. - Diese sog. Heiratsklausel ist später durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 27. Mai 1970 (vgl. BVerfGE 28, 324) für verfassungswidrig erklärt worden. - In der Amtlichen Begründung (vgl. BT-Drucks. IV/818 vom 7. Dezember 1962) heißt es dazu, für gebrechliche Kinder solle - ebenso wie nach § 33 b Abs. 3 Satz 2 Buchst. b BVG, § 18 Abs. 3 BBesG und § 265 Abs. 2 Lastenausgleichsgesetz (LAG) - in Zukunft keine Altersgrenze mehr gelten. Werden die genannten Vorschriften einer genauen Betrachtung unterzogen, dann zeigt sich, daß sowohl in § 33 b Abs. 3 Satz 2 Buchst. b BVG (in der damals geltenden Fassung des 1. NOG vom 27. Juni 1960, BGBl I S. 453) als auch in § 18 Abs. 3 BBesG (idF vom 27. Juli 1957, BGBl I S. 993) ausdrücklich vorgeschrieben war, daß die Behinderung "bei" Vollendung des 18. Lebensjahres bestehen bzw. "vor" Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sein mußte. Lediglich nach § 265 Abs. 2 LAG (bereits in der ursprünglichen Fassung vom 14. August 1952, BGBl I S. 446) waren Kinder über die damalige Altersgrenze von 15 bzw. 19 Jahren hinaus "ohne Rücksicht auf das Lebensalter" zu berücksichtigen, wenn sie wegen Gebrechlichkeit besonderer Pflege bedurften. Dabei ist jedoch zu beachten, daß diese Regelung in anderer Weise entscheidend eingeschränkt ist. Sie betrifft nur alleinstehende Frauen, die bei Antragstellung für mindestens drei "am Tage des Inkrafttretens des Gesetzes" (am 1. September 1952) "zu ihrem Haushalt gehörende Kinder" zu sorgen haben. Die Anspruchsberechtigung endet überdies, wenn die Zahl der Kinder "unter zwei" sinkt (seit dem 11. ÄndG zum LAG vom 29. Juli 1959, BGBl I S. 545). Die Regelung ist also an so spezielle, einschränkende und in den meisten Fällen durch bloßen Zeitablauf sich erledigende Voraussetzungen geknüpft, daß sie nicht auf die vorliegende Regelung des BKGG übertragen werden kann.

In der Amtlichen Begründung zur Neufassung des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG (BT-Drucks. VI/1316 vom 27. Oktober 1970) wird gleichfalls nur darauf abgestellt, daß für gebrechliche Kinder keine Höchstaltersgrenze gilt, weil die Gebrechlichkeit und damit die Belastung der Eltern in der Regel zeitlich nicht begrenzt ist. Mit keinem Wort wird jedoch darauf hingewiesen, daß der Anspruch auf Kindergeld evtl. noch im hohen Alter und nach einem (fast) erfüllten Arbeitsleben "wiederaufleben" oder erstmals zur Entstehung gelangen kann. Im Gegenteil läßt sich aus der weiteren Begründung zu den Artikeln 2 bis 4, wonach in den Bereichen der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) und der gesetzlichen Rentenversicherung (RV) die (absolute) Höchstaltersgrenze (Vollendung des 25. Lebensjahres) für sämtliche Gruppen von Kindern und Waisen, also auch für Gebrechliche, gilt, entnehmen, daß auch im Kindergeldrecht eine unbegrenzte Ausdehnung der Anspruchsberechtigung für Behinderte nicht beabsichtigt war. Auch in dem Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des Familienlastenausgleichs und zur Änderung des BKGG (BT-Drucks. VII/2032 vom 24. April 1974) wird lediglich ausgeführt, daß die Verlängerung zahlreicher Ausbildungsgänge es erforderlich mache, die Höchstaltersgrenze in Anlehnung an die entsprechenden Höchstaltersgrenzen des Steuer- und Besoldungsrechts von 25 auf 27 Lebensjahre zu erhöhen.

Allenfalls das Einkommensteuerreformgesetz (EStRG) vom 5. August 1974 (BGBl I S. 1769) könnte einen Hinweis darauf geben, daß der (erstmalige) Eintritt der Behinderung nicht an die Höchstaltersgrenze des 27. Lebensjahres gebunden ist. Nach § 32 Abs. 6 EStG wird ein Kind, das zu Beginn des Veranlagungszeitraumes das 18. Lebensjahr, aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, berücksichtigt, wenn es ... 6. wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung dauernd erwerbsunfähig ist. Darüber hinaus schreibt Abs. 7 vor, daß auch ein Kind, das zu Beginn des Veranlagungszeitraumes das 27. Lebensjahr vollendet hat, berücksichtigt wird, wenn es ... 2. wegen Behinderung dauernd erwerbsunfähig und ledig oder verwitwet ist oder keinen Unterhalt von seinem Ehegatten oder geschiedenen Ehegatten erhalten kann. Diese Regelung ist offenbar dem Zivilrecht nachgebildet, denn nach §§ 1601 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) besteht zwischen Verwandten gerader Linie eine (zeitlich unbegrenzte) Unterhaltspflicht. Abgesehen davon aber, daß die Regelung in § 32 Abs. 7 EStG nicht eindeutig erkennen läßt, ob ein "Wiederaufleben" der Berücksichtigungsfähigkeit gemeint ist oder ob Abs. 7 Nr. 2 nur eine "Fortsetzung" der in Abs. 6 Nr. 6 getroffenen Regelung darstellt, ist zu beachten, daß die zivil- und steuergesetzliche Regelung nicht unbedingt mit der sozialrechtlichen Regelung übereinstimmen muß und daß eine zeitliche Begrenzung im Sozialrecht gerade in den hier einschlägigen Fällen durchaus üblich ist (vgl. § 33 b Abs. 4 Satz 2 Buchst. c BVG und insbesondere §§ 1262 Abs. 3, 1267 Satz 2, 583 Abs. 3, 595 Abs. 2 RVO; § 44 Satz 2 AVG). Zu der letztgenannten Vorschrift hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 18. Juni 1975 (BVerfGE 40, 121 = NJW 1975, 1691) ausgesprochen, daß es mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist, daß Waisen, die sich infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen nicht selbst unterhalten können, Waisenrente aus der Angestelltenversicherung nur bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres erhalten. Ist aber eine (absolute) Höchstaltersgrenze mit den sozialen Grundnormen durchaus vereinbar, dann kann aus einer steuerrechtlichen Regelung ein zwingender Rückschluß auf die Auslegung und Anwendung von sozialrechtlichen Normen jedenfalls dann nicht gezogen werden, wenn andere Sozialrechtsnormen für vergleichbare Fälle (Behinderte) eine eindeutige und einschränkende Regelung enthalten.

Der Sinn und der Zweck der gesamten Kindergeldregelung sprechen gleichfalls gegen die von der Klägerin vertretene Auffassung. Das Kindergeld als staatliche Leistung soll es (vorzugsweise) den Eltern bzw. den sonst nach §§ 1 und 2 BKGG Anspruchsberechtigten erleichtern, ihre Kinder zu erziehen und ihnen eine angemessene und abgeschlossene Berufsausbildung zukommen zu lassen. Diese Aufgabe wird nicht mehr allein als private (familienrechtliche) Angelegenheit, sondern als wichtige gesellschaftliche (staatliche) Verpflichtung eines sozialen Rechtsstaates angesehen. Gerade deshalb ist die Kindergeldgewährung, die es zunächst nur im Beamtenrecht gab und die eine vergleichbare Lösung längst im Institut der Waisenrente bzw. der Kinderzuschüsse (§ 1262 RVO), Kinderzuschläge (§ 33 b BVG) und der Kinderzulagen (§ 583 RVO) gefunden hatte, vom (zunächst) dritten Kind (vgl. KGG vom 13. November 1954, BGBl I S. 333) auf alle Kinder vom ersten Kind an (vgl. BKGG idF des EStRG) - wenn auch in unterschiedlicher Höhe - ausgedehnt worden. Die wirtschaftlichen Belastungen der Familien mit Kindern sollen im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten des Staates gemildert und zum Teil von der Allgemeinheit getragen werden ("Familienlastenausgleich"). Andererseits ist der Staat jedoch nicht gehalten, jegliche die Familie treffende Belastung auszugleichen oder jeden Unterhaltsleistenden finanziell zu entlasten (vgl. BVerfGE 23, 258, 264; 28, 104, 113, 114). Daß alleiniger Bezugspunkt die familiären Belastungen durch die Erziehung und Berufsausbildung der Kinder sind, wird durch die wechselvolle Entwicklung der maßgebenden Vorschriften und die in verschiedener Weise erfolgte Anhebung der Höchstaltersgrenzen bestätigt (vgl. zB § 265 Abs. 2 LAG in der ursprünglichen Fassung; § 2 Abs. 2 und 3 BKGG idF des Art. 2 EStRG). Zugleich wird damit ein weiteres impliziert: Der Begriff "Kind" trifft - unbeschadet der lebenslangen Eltern-Kind-Beziehungen und der bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtungen - nur auf solche Kinder zu, die ihren Lebensmittelpunkt (in bezug auf Erziehung und Ausbildung) in der Familie ihrer Eltern oder Erziehungsberechtigten haben, oder die, wenn sie selbst verheiratet sind, ihre Ausbildung noch nicht beendet haben, so daß ihre Eltern weiterhin mit Unterhaltszahlungen belastet bleiben.

Von diesem Ausgangspunkt her ist es durchaus sachgerecht und entspricht dem Schutzgedanken des Art. 6 Abs. 1 GG, wenn die vermehrten wirtschaftlichen Belastungen nur bei Familien mit solchen behinderten Kindern ausgeglichen werden, die entweder von vornherein schwerbehindert waren und somit in besonderem Maße in die Familie eingebunden sind, oder die innerhalb oder unmittelbar nach Beendigung ihrer Ausbildung, jedoch noch innerhalb der vom Gesetzgeber vorgesehenen Ausbildungs-Höchstgrenze, schwerbehindert geworden sind. Auch bei diesen Kindern kann der Gesetzgeber bei der gebotenen typisierenden Betrachtungsweise (vgl. BVerfGE 40, 121, 135) davon ausgehen, daß die Kinder entweder in die Familie zurückkehren oder daß das Familiengefühl die weitere Betreuung, auch unter finanziellen Opfern, zu einer zwingenden Notwendigkeit oder gar Selbstverständlichkeit macht. Wesentlich anders ist jedoch die Sachlage, wenn das Kind seine Ausbildung beendet hat, ins Leben getreten ist, einen Beruf ergriffen und eine eigene Familie gegründet hat. Hier ist nicht nur der Bezugspunkt der früheren Familie weitgehend in den Hintergrund getreten, sondern der Gesetzgeber kann auch davon ausgehen, daß das "Kind" im Regelfall durch eigene Arbeitsleistung eine eigenständige soziale Sicherung (Krankenversicherung, Rentenversicherung) erworben hat. - Aus diesem Grunde ist auch das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl I S. 1061) geschaffen worden. -

Der vorliegende Fall ist ein typisches Beispiel für ein derartiges Lebensschicksal. Der Sohn der Klägerin war verheiratet und hat ein eigenes Kind. Er war langfristig versicherungspflichtig beschäftigt und bezieht ein eigenes Renteneinkommen von (1976) 585,50 DM. Wenn dieses Renteneinkommen zur Bestreitung seines Lebensunterhalts nicht ausreicht, so ergibt sich das vor allem daraus, daß er in einer Anstalt untergebracht ist und die Anstaltskosten relativ hoch sind, jedenfalls eindeutig höher als die Unkosten in einem Familienhaushalt. Fälle der vorliegenden Art müßten, im Sinne der Klägerin konsequent zu Ende gedacht, dazu führen, daß jeder vorzeitige Rentner und sogar mancher Altersrentner, sofern seine Eltern oder ein Elternteil noch leben, bei Heimunterbringung Anspruch auf Kindergeld erheben könnte. Gewiß gehört die Fürsorge für Hilfsbedürftige und Behinderte zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates (vgl. BVerfGE 40, 121, 133). Diese Pflicht gebietet es jedoch nicht, neben der zeitlich unbegrenzten Leistung für Kinder, deren Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist, auch auf jede zeitliche Begrenzung hinsichtlich des Eintritts der Behinderung zu verzichten. Eine derartige Pflicht besteht um so weniger, da der Staat in diesem Falle und in vergleichbaren Fällen - die nicht typischerweise das Eltern-Kind-Verhältnis betreffen - andere staatliche Hilfen in ausreichendem Maße zur Verfügung stellt. Speziell für Behinderte sind die Eingliederungshilfe (§§ 39 ff BSHG) und die Hilfe zur Pflege (§§ 68 ff BSHG) vorgesehen (vgl. BVerfGE 40, 121, 138). Diese Hilfen sind schon von der gesetzlichen Aufgabenstellung her so umfassend und kostenaufwendig (vgl. dazu Schellhorn/Jirasek/Seipp, Das Bundessozialhilfegesetz, § 68 Anm. 1 und 2), daß daneben das Kindergeld - insbesondere bei eigenem Renteneinkommen unter Berücksichtigung einer Zurechnungszeit (vgl. § 1260 RVO) - kaum ins Gewicht fällt. Im übrigen träte in diesen Fällen häufig keine Entlastung der Eltern ein, sondern es ergäbe sich lediglich ein Ausgleichseffekt zwischen zwei öffentlichen Leistungsträgern bzw. öffentlichen Kassen.

Die "Verzahnung", die gemäß § 8 BKGG zwischen dem Kindergeldrecht und dem Sozialversicherungsrecht besteht, verbietet es gleichfalls, den Kinderbegriff im Rahmen des BKGG allzu sehr auszuweiten und losgelöst von jedem Lebensalter zu betrachten. Wenn einerseits das Kindergeld nicht gezahlt wird, sofern (u.a.) Kinderzulagen aus der gesetzlichen UV oder Kinderzuschüsse aus der gesetzlichen RV zustehen, und wenn andererseits diese Leistungen an eine (absolute) Höchstaltersgrenze geknüpft sind, dann hätte nicht nur - wie geschehen - die zeitlich unbegrenzte Zahlung für behinderte Kinder, sondern ebenso der zeitlich unbegrenzte Eintritt der Behinderung einer eindeutigen gesetzlichen Regelung bedurft. Dazu hätte insbesondere auch die Regelung im BVG (§ 33 b Abs. 4 Satz 2 Buchst. c) und im BBesG (§ 18 Abs. 3 idF vom 5. August 1971, BGBl I S. 1281) Anlaß gegeben. Da dies nicht geschehen ist, muß aus den dargelegten Gründen davon ausgegangen werden, daß die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sein muß. Die von der Klägerin vertretene Auffassung findet daher im Gesetz keine Stütze. Ob etwas anderes dann gilt, wenn das Kind sich nach Vollendung des 27. Lebensjahres noch in Ausbildung befindet (§ 2 Abs. 3 Satz 2 BKGG) bzw. noch vor Eintritt in das Erwerbsleben gebrechlich wird, d.h. ob dann ein Anspruch in entsprechender Anwendung des § 2 Abs. 4 BKGG zu bejahen wäre, war hier nicht zu entscheiden.

Nach den Feststellungen des SG, die von der Revision nicht angegriffen und daher gemäß § 163 SGG für den Senat bindend sind, ist die Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 4 iVm § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG bei dem Sohn der Klägerin erst nach Vollendung seines 27. Lebensjahres - "seit dem 35. Lebensjahre" - eingetreten. Demnach sind die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld an die Klägerin für ihren Sohn Kurt nicht gegeben. Die Beklagte hat den entsprechenden Antrag der Klägerin zu Recht abgelehnt (§ 25 BKGG). Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des SG, das die Ablehnung bestätigt hat, erweist sich sonach als unbegründet und ist zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653287

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