Leitsatz (amtlich)
Eine Waise, deren Schul- oder Berufsausbildung durch einen an Stelle des Grundwehrdienstes geleisteten Polizeivollzugsdienst unterbrochen oder verzögert wurde, hat bei Fortsetzung oder Aufnahme der Ausbildung für einen entsprechenden Zeitraum nach Vollendung des 25. Lebensjahres Anspruch auf Waisenrente.
Normenkette
RVO § 1267 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1964-04-14; WehrPflG § 3 Fassung: 1965-05-14, § 42 Fassung: 1965-05-14; BVG § 45 Abs. 3
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. August 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten für die Revisionsinstanz zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger über das vollendete 25. Lebensjahr hinaus einen Anspruch auf Waisenrente nach § 1267 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.
Der am 2. Februar 1946 geborene Kläger bezog aus der Versicherung seines verstorbenen Vaters die Waisenrente. Die Beklagte stellte die Zahlung dieser Rente mit Ablauf des Monats Februar 1971 ein, weil der Kläger in diesem Monat das 25. Lebensjahr vollendet hatte. Dies teilte sie ihm am 15. Januar 1971 schriftlich mit. Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 25. Januar 1971 die Weitergewährung der Waisenrente über das 25. Lebensjahr hinaus, weil sich sein noch fortdauerndes Studium an der Universität K durch den freiwilligen Polizeivollzugsdienst vom 4. April 1966 bis zum 14. Oktober 1967 verzögert habe. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 15. März 1971 ab, weil es sich bei dem Polizeivollzugsdienst nicht um die Erfüllung der gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstpflicht i. S. des § 1267 RVO gehandelt habe.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15. März 1971 verurteilt, dem Kläger über den 28. Februar 1971 hinaus Waisenrente zu bewilligen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, durch den vom Kläger geleisteten Polizeivollzugsdienst sei die Pflicht des Klägers, Grundwehrdienst zu leisten, erloschen und damit auch erfüllt. Selbst wenn man das Tatbestandsmerkmal "Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht" eng dahin auslege, daß nur das Ableisten des Grundwehrdienstes und nicht jede Art des Erlöschens der Pflicht hierzu darunter falle, so müsse angenommen werden, daß insofern eine Gesetzeslücke vorliege, als § 1267 Satz 3 RVO seinem Wortlaut nach nicht alle Fälle erfasse, die nach dem Wehrpflichtgesetz zum Erlöschen der Wehrdienstpflicht führen. Diese Lücke sei in verständiger Würdigung von Interessenlage und Gesetzeszweck auszufüllen. Dies könne nur in dem Sinne geschehen, daß die Sonderregelung für Polizeivollzugsbeamte in § 42 Abs. 1 Satz 2 des Wehrpflichtgesetzes idF vom 14. Mai 1965 (BGBl I, 391) im Hinblick auf § 1267 Satz 3 RVO analog den Fällen der §§ 3 und 4 des Wehrpflichtgesetzes zu behandeln sei, denn es handele sich um vergleichbare Sachverhalte. Diese weite Auslegung bestätige auch ein Vergleich mit der Sonderregelung für Polizeivollzugsbeamte, die als Kriegsdienstverweigerer anerkannt seien und für die das Gesetz über den zivilen Ersatzdienst maßgebend sei. Im übrigen weise aber auch ein Vergleich mit der entsprechenden Vorschrift des § 45 Abs. 3 Satz 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) darauf hin, daß es grundsätzlich dem Willen des Gesetzgebers entspreche, der Ableistung des Polizeivollzugsdienstes für die Gewährung der verlängerten Waisenrente eine Bedeutung beizumessen. Wolle man dieser Beurteilung nicht folgen, so beständen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, ob der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) dadurch verletzt sei, daß im Gegensatz zum Kriegsopferrecht bei der gesetzlichen Rentenversicherung einem abgeleisteten Polizeivollzugsdienst, der zum Erlöschen der Wehrpflicht führe, als Verlängerungstatbestand für die Waisenrente überhaupt keine Bedeutung zukomme.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, aus § 3 des Wehrpflichtgesetzes ergebe sich, daß die gesetzliche Wehrpflicht nur durch den Wehrdienst oder den Ersatzdienst erfüllt werde. Wenn der Gesetzgeber auch den Polizeivollzugsdienst als Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht angesehen hätte, so hätte er dies in § 3 des Wehrpflichtgesetzes geregelt. Dafür spreche auch der Sinn des § 1267 Satz 3 RVO, wonach eine Entschädigung für den Zeitverlust geschaffen werden solle, der durch die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht in der Ausbildung eines Wehrpflichtigen eintrete. Nicht entschädigt werden dagegen solle die Tätigkeit, die als normale Berufstätigkeit anzusehen sei, möge sie auch im öffentlichen Interesse eine Freistellung vom Wehrdienst rechtfertigen. Die Regelung im Kriegsopferrecht zeige, daß der Gesetzgeber dort, wo er über die Tatbestände des Wehr- und Ersatzdienstes hinausgehen wolle, eine ausdrückliche Regelung treffe. Diese fehle aber im Recht der Rentenversicherung. Wegen der Verschiedenheit der Rechtsgebiete sei der Gleichheitsgrundsatz durch die unterschiedliche Regelung nicht verletzt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG und das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.
II
Der Senat kann nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben.
Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht das der Klage stattgebende Urteil des SG bestätigt. Der Kläger hat nach § 1267 Satz 3 RVO einen Anspruch auf Weitergewährung der Waisenrente über das vollendete 25. Lebensjahr hinaus.
Nach § 1267 Satz 2 RVO wird die Waisenrente im Falle der Schul- oder Berufsausbildung längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewährt. Ist die Schul- oder Berufsausbildung durch Erfüllung der gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstpflicht verzögert oder unterbrochen worden, so wird die Waisenrente nach Satz 3 aaO auch für einen der Zeit dieses Dienstes entsprechenden Zeitraum über das 25. Lebensjahr hinaus gewährt. Diese Voraussetzung liegt vor, denn der vom Kläger geleistete Polizeivollzugsdienst ist als Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht i. S. des § 1267 RVO anzusehen. Nach § 3 Abs. 1 des Wehrpflichtgesetzes in der hier anzuwendenden Fassung vom 14. Mai 1965 (BGBl I, 391) wird die Wehrpflicht durch den Wehrdienst oder durch den zivilen Ersatzdienst erfüllt. Der aufgrund der Wehrpflicht zu leistende Wehrdienst umfaßt nach § 4 Abs. 1 den Grundwehrdienst, die Wehrübung und im Verteidigungsfall den unbefristeten Wehrdienst. Von diesen Arten des Wehrdienstes kommt im vorliegenden Fall nur der Grundwehrdienst in Betracht. Der Grundwehrdienst betrug nach § 5 Abs. 1 des Wehrpflichtgesetzes in der hier anzuwendenden Fassung 18 Monate. Nach § 45 des Wehrpflichtgesetzes erlosch die Pflicht zur Ableistung des Grundwehrdienstes durch einen geleisteten Polizeivollzugsdienst von mindestens 18 Monaten. Es bestehen im vorliegenden Fall deshalb auch keine Zweifel daran, daß der Kläger nicht mehr zum Grundwehrdienst herangezogen werden kann, weil die Verpflichtung hierzu nach § 42 des Wehrpflichtgesetzes erloschen ist. Wenn der Kläger auch keinen Wehrdienst, sondern an seiner Stelle einen anderen Dienst geleistet hat, so ist das Erlöschen des Grundwehrdienstes doch seiner Erfüllung i. S. des § 1267 RVO gleichzustellen. Die Argumentation des LSG, die gesetzliche Wehrpflicht könne nur durch Erfüllung erlöschen, so daß das Ableisten von Polizeivollzugsdienst als Erfüllung des Wehrdienstes anzusehen sei, ist zwar nicht zwingend. Es kann durchaus andere Erlöschenstatbestände geben als die Erfüllung, wie im bürgerlichen Recht insbesondere die §§ 387, 397 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zeigen. Gleichwohl ist dem LSG im Ergebnis zuzustimmen, weil das Erlöschen der Pflicht zum Grundwehrdienst seiner Erfüllung gleichzustellen ist. Die Frage, was unter Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht i. S. des § 1267 RVO zu verstehen ist, muß aus dem Sinn dieser Vorschrift ermittelt werden. Die Waisenrente will es den Waisen ermöglichen, ohne Gefährdung ihres Unterhalts eine Schul- oder Berufsausbildung abzuschließen. Da eine solche Ausbildung im allgemeinen mit dem vollendeten 25. Lebensjahr abgeschlossen sein kann, hat der Gesetzgeber die Bezugsdauer der Waisenrente bis zum 25. Lebensjahr begrenzt. Ausnahmsweise kann diese Altersgrenze dann unbillig sein, wenn die Waise die Schul- oder Berufsausbildung unverschuldet und im Interesse der Allgemeinheit nicht bis zum 25. Lebensjahr beenden kann, weil sie der gesetzlichen Wehrpflicht nachkommt. Dieser Grund trifft aber nicht nur auf solche Waisen zu, die ohne ihr eigenes Zutun zum Grundwehrdienst einberufen werden. Er gilt zunächst selbstverständlich auch für solche Waisen, die aufgrund freiwilliger Verpflichtung den Grundwehrdienst leisten, denn nach § 4 Abs. 3 des Wehrpflichtgesetzes haben sie die Rechtsstellung eines Soldaten, der aufgrund der Wehrpflicht Wehrdienst leistet. Die freiwillige Erfüllung des Grundwehrdienstes steht also in vollem Umfang der Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht gleich. Es kann daher also auch für § 1267 RVO nicht darauf ankommen, ob die Waise freiwillig oder unfreiwillig der gesetzlichen Wehrpflicht genügt. Der Umstand, daß der Gesetzgeber in § 1267 RVO neben der Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht auch den Ersatzdienst genannt hat, zeigt deutlich, daß er alle die Waisen berücksichtigen will, die ihrer gesetzlichen Wehrpflicht in irgendeiner Weise nachgekommen sind und dadurch einen Nachteil in ihrer Ausbildung erfahren haben. Ebenso wie in § 1267 RVO war die Weitergewährung der Waisenrente früher in § 45 BVG geregelt. Der Gesetzgeber hat aber später erkannt, daß diese Regelung bei ihrer wörtlichen Auslegung zu eng ist und hat daher in § 45 Abs. 3 Satz 3 BVG n.F. neben der Erfüllung der gesetzlichen Wehr- und Ersatzdienstpflicht ausdrücklich auch den freiwilligen Wehrdienst von nicht mehr als drei Jahren und den diesem freiwilligen Wehrdienst entsprechenden Vollzugsdienst der Polizei als Verlängerungstatbestand für die Waisenrente anerkannt. Damit hat er klargestellt, daß es sich nach seinem Willen auch beim freiwilligen Wehrdienst und beim Polizeivollzugsdienst in dem genannten Umfang um Tatbestände handelt, die - weil sie der Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht gleichstehen - zum verlängerten Bezug der Waisenrente berechtigen. Die Übertragung dieser Gedanken auf § 1267 RVO bedeutet keine analoge Anwendung des § 45 Abs. 3 Satz 3 BVG, sondern nur die Auslegung des unklaren Tatbestandes "Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht". Die gleiche Auslegung würde § 1267 Satz 3 RVO auch erfahren müssen, wenn der Gesetzgeber diesen Tatbestand nicht ausdrücklich in § 45 Abs. 3 Satz 3 BVG aufgenommen und damit zu erkennen gegeben hätte, daß er auch andere Dienstleistungen, die zum Erlöschen der Pflicht zum Grundwehrdienst führen, weil sie ihm gleich- oder nahestehen, der Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht gleichstellen will. Es kann für die verlängerte Waisenrente nach § 1267 Satz 3 RVO nicht darauf ankommen, durch welchen Tatbestand die Waise der Pflicht zum Grundwehrdienst genügt. Entscheidend ist nur, daß die Schul- oder Berufsausbildung wegen der gesetzlichen Wehrpflicht verzögert oder unterbrochen worden ist. Das ist aber auch dann der Fall, wenn sich die Waise wegen des Bestehens der gesetzlichen Wehrpflicht zu einem anderen Dienst verpflichtet, der zum Erlöschen der Pflicht zum Grundwehrdienst führt. Das liegt um so näher, als eine einheitliche Regelung und eine Angleichung der RVO an § 45 Abs. 3 Satz 3 BVG beabsichtigt ist (vgl. BT-Drucks. VI/1126 S. 35). Auf die Auslegung des § 1267 Satz 3 RVO hat es keinen Einfluß, ob die Waise während des Dienstes, mit dem sie ihrer gesetzlichen Wehrpflicht genügt, ein Entgelt erhalten hat, mit dem ihr Unterhalt während dieser Zeit sichergestellt war. Entscheidend ist, daß während der Schul- oder Berufsausbildung der Unterhalt eben wegen dieser Ausbildung nicht gesichert ist.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Beklagten zurückgewiesen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen