Orientierungssatz
Als Unterhaltsverpflichtung nach RVO § 1265 S 2 ist auch die Leistungspflicht "aus sonstigen Gründen" zu verstehen.
Soweit die frühere Ehefrau für die Zeit der Berufstätigkeit auf Unterhalt verzichtet, handelt es sich um keinen Unterhaltsverzicht im Rechtssinn (vgl BSG vom 1979-03-28 4 RJ 3/78 = SozR 2200 § 1265 Nr 40); sie hat sich des dem Grunde nach bestehenden, wenigstens potentiellen Unterhaltsanspruchs nicht begeben.
Normenkette
RVO § 1265 S 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 S 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16; EheG § 72 Fassung: 1946-02-20
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 06.02.1979; Aktenzeichen I JBf 76/78) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 24.04.1978; Aktenzeichen 18 J 1064/77) |
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darum, ob der Klägerin als früherer Ehefrau des am 14. April 1976 verstorbenen Versicherten Hinterbliebenenrente zusteht.
Aus der Ehe der Klägerin mit dem Versicherten sind zwei Kinder, geboren 1963 und 1964, hervorgegangen. Bis zur Geburt des ersten Kindes arbeitete die Klägerin in ihrem Beruf als Kinderpflegerin; dann konnte sie eine berufliche Tätigkeit wegen der Betreuung der eigenen Kinder nicht mehr ausüben. Am 22. September 1971 wurde ihre Ehe aus der Schuld des Versicherten geschieden. Anläßlich der Scheidung schlossen die Klägerin und der Versicherte (als Beklagter jenes Verfahrens) einen Vergleich, in dem es ua hieß:
"Die Klägerin verpflichtet sich, berufstätig zu werden und jeden ihr zumutbaren Beruf auszuüben. Für diese Zeit der Berufstätigkeit verzichtet die Klägerin auf Unterhalt. Der Beklagte verpflichtet sich, an die Klägerin für die Zeit, in welcher die Klägerin keine eigenen Einkünfte hat, eine angemessene, im voraus fällige Unterhaltsrente zu zahlen ..."
Nach der Scheidung nahm die Klägerin ihre Berufstätigkeit in einem Kindertagesheim wieder auf. Sie verdiente in dem Jahr vor dem Tode des Versicherten monatlich 1.300,- DM netto. In dieser Zeit zahlte ihr der Versicherte, der nicht wieder geheiratet hatte, keinen Unterhalt.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf "Geschiedenen-Witwenrente" ab, weil aufgrund des Unterhaltsverzichts ein Rentenanspruch weder nach § 1265 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) noch nach Satz 2 der Vorschrift bestehe (Bescheid vom 19. August 1976, Widerspruchsbescheid vom 5. Oktober 1977).
Das Sozialgericht Hamburg (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente nach dem Versicherten zu gewähren. Das Landessozialgericht Hamburg (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und im Urteil vom 6. Februar 1979 ausgeführt: Die Klägerin erfülle die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO. Der Versicherte sei zur Zeit seines Todes der Klägerin gegenüber allein wegen deren Einkünften aus eigener Erwerbstätigkeit als Kinderpflegerin nicht unterhaltsverpflichtet gewesen. Das Einkommen der Klägerin von damals 1.300,- DM monatlich erscheine auch angemessen in Anbetracht dessen, daß der Versicherte im Zeitpunkt der Scheidung über kein eigenes Einkommen verfügt und zuvor 8.000,- bis 10.000,- DM jährlich verdient habe. Daran ändere auch der im Scheidungsverfahren abgeschlossene Vergleich nichts. Darin habe sich die Klägerin, obwohl sich dies bereits aus dem Gesetz ergebe, vertraglich zur Ausübung einer Berufstätigkeit verpflichtet, die ihr im Hinblick auf das damalige Alter der beiden Kinder zumutbar gewesen sei. Schon deswegen sei der Unterhaltsanspruch der Klägerin entfallen, und nicht infolge des "Unterhaltsverzichts" im Scheidungsvergleich.
Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich die Beklagte mit der - vom LSG zugelassenen - Revision. Sie meint, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (Hinweis auf SozR Nrn 42, 52 und 68 zu § 1265 RVO) sei der Klägerin wegen der Betreuung ihrer beiden Kinder nach den Vorschriften des Ehegesetzes 1946 (EheG) zumindest keine Vollzeittätigkeit zuzumuten gewesen. Demzufolge stelle sich die im Vergleich getroffene Regelung materiell-rechtlich als Verzicht dar. Durch diesen sei der Unterhaltsanspruch entfallen. Für die Anwendung des § 1265 Satz 2 RVO bestehe daher keine Grundlage.
Die Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 6. Februar 1979 sowie des Sozialgerichts Hamburg vom 24. April 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, daß der Klägerin "Geschiedenen-Witwenrente" zusteht.
Nach § 1265 Satz 1 RVO in der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr dieser zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat.
Ist - wie hier - keine Witwenrente zu gewähren, findet der vorgenannte Satz 1 auch Anwendung, wenn ua eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögensverhältnisse oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat (Satz 2 Nr 1 der Vorschrift).
Ob die Voraussetzungen des § 1265 Satz 1 RVO vorliegen, hat das LSG nicht geprüft. Seinen Feststellungen ist zu entnehmen, daß jedenfalls der letzte Regelungsfall dieser Vorschrift - (tatsächliche) Unterhaltsleistung des Versicherten im (insoweit maßgebenden) letzten Jahr vor seinem Tode - nicht vorliegt. Es hat aber, im Ergebnis zu Recht, aufgrund des Satzes 2 des § 1265 RVO den Anspruch der Klägerin bejaht.
Daß die Klägerin die persönlichen Bedingungen dieser Vorschrift erfüllt, steht außer Streit: sie hatte im Zeitpunkt der Scheidung (mindestens) ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen (Nr 2) und erzieht es den unangegriffenen, den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des LSG zufolge auch jetzt noch ("solange"; Nr 3).
Zutreffend ist das Berufungsgericht auch zu dem Ergebnis gelangt, daß eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten zur Zeit seines Todes (die insoweit ungenaue Gleichsetzung dieses Begriffes durch das LSG mit dem "letzten Jahr" vor dem Tode ist unschädlich, weil damit der maßgebende letzte wirtschaftliche Dauerzustand einbezogen wird) wegen der Einkünfte der Klägerin aus einer Erwerbstätigkeit, nämlich der Beschäftigung als Kinderpflegerin, nicht bestanden hat.
Gegen die Gültigkeit der innerhalb eines Scheidungsvergleichs der Klägerin mit dem Versicherten getroffenen Unterhaltsvereinbarung sind weder Bedenken erhoben worden noch ersichtlich (vgl § 72 EheG). Der Inhalt dieser Regelung umschreibt die den Beteiligten obliegenden Pflichten: Ausübung jedes zumutbaren Berufs durch die Klägerin und Verzicht auf Unterhalt für die Zeit der Berufstätigkeit einerseits, zum anderen Zahlung einer angemessenen, im voraus fälligen Unterhaltsrente seitens des Versicherten für die Zeit, in der die Klägerin keine eigenen Einkünfte hat. Ob nun damit - entsprechend der Ansicht des LSG - vertraglich nur nachvollzogen worden ist, was sich ohnehin aus dem Gesetz (§§ 58, 59 EheG) ergibt, ob es sich um eine Konkretisierung des gesetzlichen Anspruchs nach den Vorschriften des EheG handelt, oder ob, wie anscheinend das SG meint, eine Verbindung von gesetzlichem und vertraglichem Unterhaltsanspruch geschaffen wurde (vgl hierzu BGB-RGRK, 11. Aufl 1968 Anm 14 - 17 zu § 72 EheG), mag im einzelnen schwer abgrenzbar sein, kann aber hier letztlich als für die Entscheidung unerheblich dahingestellt bleiben. Denn als Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 Satz 2 RVO ist nicht nur der erste Regelfall des Satzes 1 der Vorschrift zu verstehen, daß der Versicherte Unterhalt "nach den Vorschriften des Ehegesetzes ... zu leisten hatte", sondern auch die Leistungspflicht "aus sonstigen Gründen" (zweiter Regelfall) jedenfall dann, wenn - wie hier - die wirtschaftlichen Verhältnisse der früheren Ehegatten Geschäftsgrundlage der Vereinbarung (gewesen) sind. Dies hat der 4. Senat des BSG im Urteil vom 28. November 1975 (= SozR 2200 § 1265 Nr 11) ausgesprochen; dem schließt sich der erkennende Senat im Ergebnis an (vgl auch Beschluß des Großen Senats des BSG vom 25. April 1979 - GS 1/79 = SozR 2200 § 1265 Nr 41, S. 133 f, wo dies zwar ausdrücklich dahingestellt blieb, gleichwohl aber Hinweise für die Auslegung im hier verstandenen Sinne enthalten sind). Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck des Gesetzes lassen vom Grundsatz her eine unterschiedliche rechtliche Würdigung der beiden Fallgruppen zu. Es kommt einzig darauf an, ob die Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögensverhältnisse oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden haben. Daß diese Ursachen für den Wegfall der Unterhaltsverpflichtung allerdings bei bestimmten Fallkonstellationen des "sonstigen Grundes" von vornherein ausscheiden, kann demgegenüber nicht ins Gewicht fallen und beruht letztlich auf der auch in § 72 EheG gewährleisteten Vertragsfreiheit, derzufolge ua der Ausschluß der Beachtlichkeit einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse (§ 323 Zivilprozeßordnung) möglich ist. Im vorliegenden Rechtsstreit bestehen indessen keine derartigen Besonderheiten; es wurde eine den §§ 58, 59 EheG zumindest ähnliche Rechtslage herbeigeführt. Andererseits kann es aber, wie aus obigen Darlegungen bereits hervorgeht, entgegen der Ansicht der Beklagten die Entscheidung nicht beeinflussen, ob die Klägerin nach den Vorschriften des EheG (§ 58 Abs 1) verpflichtet, dh, ob es ihr zumutbar war, eine Berufstätigkeit auszuüben.
Der Haupteinwand der Beklagten, § 1265 Satz 2 RVO entfalle, weil eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten nicht wegen der Einkünfte der Klägerin, sondern wegen eines im Scheidungsvergleich enthaltenen Unterhaltsverzichts nicht bestanden habe, geht fehl. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, mit dem - vom LSG mit Anführungszeichen versehenen - Begriff"Unterhaltsverzicht" habe das ausgedrückt werden sollen, was im Rechtssinne darunter zu verstehen ist, nämlich ein Erlaßvertrag und damit ein verfügendes Rechtsgeschäft, welches das unmittelbare, endgültige Erlöschen oder Teilerlöschen des Anspruchs bewirkt, so daß spätere Änderungen der Verhältnisse, insbesondere hinsichtlich der Bedürftigkeit des Berechtigten und der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten, irrelevant sind (vgl SozR 2200 § 1265 Nr 40 und Rolland, Kommentar zum 1. Eherechtsreformgesetz, § 1585c BGB, RdNrn 24, 26 mwN). So indessen war es hier gerade nicht. Die Klägerin hat sich des dem Grunde nach bestehenden, wenigstens potentiellen Unterhaltsanspruchs, der durch den Schuldausspruch begründet worden oder - nach anderer Auffassung - im Hinblick auf den Schuldausspruch bestehen geblieben ist (im einzelnen vgl BGB-RGRK aaO Anm 6 - 9 und 22 zu § 58 EheG), nicht begeben; vielmehr sind für Zeiten fehlender eigener Einkünfte Zahlungen durch den Versicherten aufgrund dieses Anspruchs ausbedungen worden. Die Klägerin hat mit der eingegangenen Verpflichtung, berufstätig zu werden und jeden ihr zumutbaren Beruf auszuüben, zum Ausdruck gebracht, daß sie sich nicht auf die Erziehung ihrer beiden Kinder als Hinderungsgrund für die Aufnahme einer Beschäftigung berufen werde, und sie hat, anknüpfend daran, mit dem "Unterhaltsverzicht" für die Zeit der Berufstätigkeit eingeräumt, insoweit keinen - etwa über die eigenen Einkünfte hinausgehenden - Unterhalt geltend zu machen. Darin liegt im Zusammenhang mit der Erklärung des Versicherten allenfalls eine vertragliche Begrenzung des Unterhaltsbedarfs. Mithin sind die Einkünfte der Klägerin aus ihrem Beschäftigungsverhältnis als Kinderpflegerin der - nach § 1265 Satz 2 RVO unschädliche - Grund für einen fehlenden "konkreten" Anspruch auf Unterhalt gegen den Versicherten in der Zeit vor dessen Tod gewesen.
Den Fällen, in denen bisher das BSG die rechtsvernichtende Wirkung des Verzichts bejaht und damit den Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 RVO verneint hat, lagen andere Sachverhalte im Sinne der oben genannten Kriterien zugrunde: Die Entscheidungen BSGE 12, 279, 280, BSGE 31, 5 = SozR Nr 54 zu § 1265 RVO und SozR Nr 35 aaO betrafen Fälle, in denen ein umfassender Verzicht den ersten Regelungsfall des § 1265 Satz 1 RVO ausschloß; in den Entscheidungen SozR 2200 Nrn 6, 40 erfaßte ein solcher Verzicht (auch) den Anspruch nach Satz 2 des § 1265 RVO. Besondere Verhältnisse lagen der Entscheidung SozR 2200 Nr 3 zugrunde, ohne daß aber ein prinzipieller Unterschied zu den anderen genannten Streitfällen bestand; dort hatte sich zwar der Versicherte zur Zahlung einer monatlichen Unterhaltsrente vom 20,- DM verpflichtet, bei Abschluß des Unterhaltsvergleichs war jedoch von den Parteien der uneingeschränkte Verzicht auf Abänderung dieses Betrages ausgesprochen worden, so daß - da 25% des zeitlich und örtlich notwendigen Unterhaltsmindestbedarfs nicht erreicht wurden - der Anspruch auf § 1265 RVO entfiel.
Nach alledem konnte die Revision keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen