Leitsatz (amtlich)
1. In den Fällen des § 72 Abs 1 S 2 RKG (= § 1276 Abs 1 S 2 RVO) idF des HBegleitG 1983 vom 20.12.1982 kommt es nicht mehr darauf an, daß auch die in S 1 dieser Vorschrift geforderte begründete Aussicht der Behebung des Versicherungsfalles in absehbarer Zeit besteht.
2. Die von Art 2 § 16 KnVNG (= Art 2 § 22 ArVNG) idF des HBegleitG 1983 angeordnete Rückwirkung des § 72 Abs 1 S 2 RKG (= § 1276 Abs 1 S 2 RVO) nF auf seit dem 1.7.1977 eingetretene Versicherungsfälle ist mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatz des Vertrauensschutzes vereinbar.
Normenkette
RKG § 72 Abs 1 S 2 Fassung: 1982-12-20; RVO § 1276 Abs 1 S 2 Fassung: 1982-12-20; KnVNG Art 2 § 16 Fassung: 1982-12-20; ArVNG Art 2 § 22 Fassung: 1982-12-20; GG Art 20 Abs 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.10.1982; Aktenzeichen L 15 Kn 83/80) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 11.04.1980; Aktenzeichen S 25 (14) Kn 195/78) |
Tatbestand
Der 1929 geborene Kläger gelangte im März 1978 als Spätaussiedler aus Polen in die Bundesrepublik und beantragte im April 1978 Knappschaftsrente. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 26. Juli 1978 und Widerspruchsbescheid vom 13. November 1978 in bezug auf die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit und wegen Erwerbsunfähigkeit wegen der dem Kläger noch möglichen Tätigkeiten ab, bewilligte ihm aber während des Klageverfahrens mit Bescheid vom 18. Juni 1979 ab 1. April 1978 Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit.
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Dortmund mit der Begründung abgewiesen, der Kläger sei nach den medizinischen Gutachten noch imstande, die Tätigkeit als Magazinarbeiter vollschichtig zu verrichten. Im Berufungsverfahren hat die Beklagte dem Kläger nach weiteren medizinischen Ermittlungen angeboten, bei ihm ab 16. März 1981 Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bis zum 30. November 1982 anzunehmen und entsprechende Rente zu zahlen. Die zeitliche Begrenzung sei erforderlich, weil der Versicherungsfall durch Arbeitsvermittlung behoben werden könne. Der Kläger hat sich zwar mit dem Zeitpunkt des Versicherungsfalls nicht aber mit der zeitlichen Begrenzung der Rente einverstanden erklärt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Annahme des Versicherungsfalls am 16. März 1981 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) komme die Gewährung einer Zeitrente allgemein - also auch, wenn die Erwerbsunfähigkeit auf dem praktisch verschlossenen Arbeitsmarkt beruhe - nur dann in Frage, wenn "begründete Aussicht" auf Behebung des Zustandes bestehe. Für die zeitliche Begrenzung der Rente genüge es also entgegen der Auffassung der Beklagten nicht, daß die Erwerbsunfähigkeit auf dem praktisch verschlossenen Arbeitsmarkt beruhe. Die beabsichtigte gesetzliche Klarstellung im Sinne der Beklagten könne wegen ihrer Abweichung vom bisherigen Wortlaut des Gesetzes nur für die Zukunft gelten.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 72 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) und beantragt, das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen dahin abzuändern, daß die Berufung des Klägers zurückgewiesen wird, soweit er die Gewährung der Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne die Einschränkungen des § 72 RKG begehrt.
Die Beklagte weist darauf hin, daß sie dem Kläger durch Bescheid vom 11. Januar 1983 die Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit vom 15. September 1981 bis zum 31. Dezember 1983 und wegen Verschlechterung des Gesundheitszustandes ab 1. Januar 1984 ohne zeitliche Begrenzung zuerkannt habe.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision mit dem Ziel, die zeitlich unbegrenzte Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit durch eine im Rahmen des § 72 RKG (= § 1276 Reichsversicherungsordnung) liegende zeitliche Begrenzung zu ersetzen, ist begründet.
Maßgebend für die zeitliche Begrenzung und damit auch für den Beginn der Rente ab der 27. Woche nach Eintritt des Versicherungsfalles ist bei dem im übrigen nicht mehr streitigen Rentenanspruch des Klägers § 72 Abs 1 Satz 2 RKG in der durch Art 21 Nr 11 Buchst a des Gesetzes zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts (Haushaltsbegleitgesetz 1983) vom 20. Dezember 1982 (BGBl I S 1857) geänderten Fassung (nF). Sie lautet: "Beruht die verminderte bergmännische Berufsfähigkeit, die Berufsunfähigkeit oder die Erwerbsunfähigkeit nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Berechtigten, ist die Rente auf Zeit zu leisten, es sei denn, der Berechtigte vollendet innerhalb von zwei Jahren nach Rentenbeginn das 60. Lebensjahr". Diese Bestimmung gilt nach der durch Art 24 Nr 6 des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 erfolgten Neufassung des § 16 des Knappschaftsversicherungs-Neuregelungsgesetzes (KnVNG nF) auch für Versicherungsfälle in der Zeit vom 1. Juli 1977 bis zum 31. Dezember 1982. Dies gilt nur dann nicht, wenn über einen Anspruch eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen worden ist.
An einer nicht mehr anfechtbaren Entscheidung über den Anspruch des Klägers auf zeitlich unbegrenzte Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit fehlt es hier. Nach den Feststellungen des LSG zum Eintritt des Versicherungsfalls der Erwerbsunfähigkeit beim Kläger am 16. März 1981, die gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG- für den Senat bindend sind, wird der Rechtsstreit von § 16 KnVNG nF erfaßt. Deshalb darf die Beklagte nach § 72 Abs 1 Satz 2 RKG nF die Rente des Klägers wegen Erwerbsunfähigkeit nur auf Zeit leisten, weil die Erwerbsunfähigkeit des Klägers nicht ausschließlich auf seinem Gesundheitszustand beruht. Auch insoweit ist der Senat an die mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG gebunden. Der Kläger kann danach seit dem 16. März 1981 nur noch halbschichtig leichte Tätigkeiten verrichten. Die Unfähigkeit des Klägers, nach diesem Zeitpunkt noch eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen, beruht - wie das LSG weiter unbeanstandet festgestellt hat - nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Klägers, sondern auch auf den Verhältnissen des Arbeitsmarktes. Deshalb muß die vom LSG ausgesprochene Verurteilung der Beklagten, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne zeitliche Begrenzung zu gewähren, geändert und mit der sich aus § 72 Abs 1 Satz 2 RKG nF ergebenden zeitlichen Begrenzung versehen werden. Insoweit hat das Revisionsgericht das erst nach der Verkündung des Berufungsurteils erlassene Haushaltsbegleitgesetz 1983 zu beachten, weil es durch seine rückwirkende Änderung des § 72 Abs 1 RKG das vorliegende Streitverhältnis erfaßt (vgl Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar, 2. Aufl Anm 8 zu § 162).
Die gleichwohl schon in den Entscheidungsgründen des LSG zum Ausdruck gelangten und vom Kläger geteilten Bedenken gegen die Rückwirkung der Regelung des § 72 Abs 1 Satz 2 RKG nF auf Versicherungsfälle aus der Zeit vor seinem Inkrafttreten greifen nicht durch. Das ergibt sich aus der Rechtsentwicklung. § 72 Abs 1 RKG maß ursprünglich dem Umstand, daß die Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Berechtigten beruhte, keine rechtliche Bedeutung zu. Rechtserheblich wurde dies erst durch Art 2 § 3 Nr 19 des 20. Rentenanpassungsgesetzes vom 27. Juni 1977 (BGBl I S 1040) mit Wirkung ab 1. Juli 1977 (Art 3 § 6 aaO). Der Gesetzgeber fügte nämlich nunmehr der bislang allein geltenden allgemeinen Regel, die bei begründeter Aussicht auf Behebung der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit die Rente auf Zeit vorsah, den Gedanken an, daß dies insbesondere dann gelte, wenn die Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Berechtigten beruhe. Diese erweiterte Gesetzesfassung haben der 4. und der 11. Senat des BSG (SozR 2200 § 1276 Nrn 4 und 7) vom Wortlaut her ausgelegt: Auch wenn die Erwerbsunfähigkeit nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Berechtigten beruhe, sei für die zeitliche Begrenzung der Rente erforderlich, daß die vom Gesetz grundsätzlich geforderte "begründete Aussicht" auf Änderung der die Erwerbsunfähigkeit begründenden Verhältnisse bestehe. Der 11. Senat hat nach Erörterung der für und gegen seine am Wortlaut orientierte Auslegung sprechenden Gründe ausgeführt, der Gesetzgeber hätte "Klartext formulieren müssen", wenn er bei den Versicherten, deren Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit nicht ausschließlich auf ihrem Gesundheitszustand beruhe, immer nur Zeitrente hätte gewähren wollen.
Die durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 herbeigeführte Änderung des § 72 Abs 1 RKG muß als Reaktion des Gesetzgebers auf die genannte Rechtsprechung des BSG verstanden werden. Er hat den Strichpunkt am Ende des ursprünglichen Satzes 1 durch einen Punkt ersetzt und die verbindende Wendung am Beginn des zweiten Halbsatzes "dies gilt insbesondere, wenn..." durch einen eigenen Satz mit eigenem Tatbestand und eigener Rechtsfolge ersetzt. Damit ist deutlich zum Ausdruck gelangt, daß die Voraussetzungen des Satzes 1 in den nunmehr von Satz 2 erfaßten Fällen nicht maßgebend sind. Wie in der Gesetzesbegründung der neuen Vorschrift (vgl BT-Drucks 9/2140 S 103) betont, dient die Neufassung der Klarstellung der Rechtslage, die nach dem Willen des Gesetzgebers bereits mit Wirkung ab 1. Juli 1977 eintreten sollte. Dafür spricht auch die in § 16 KnVNG nF angeordnete Rückwirkung des § 72 Abs 1 Satz 2 RKG nF auf die seit diesem Zeitpunkt eingetretenen Versicherungsfälle.
Die Rückwirkung der Norm verstößt hier nicht gegen das dem Rechtsstaatsprinzip zu entnehmende Gebot des Vertrauensschutzes. Denn abgesehen davon, daß die Rückwirkung kraft des gesetzlichen Vorbehalts in § 16 KnVNG nF entfällt, wenn über einen Anspruch bereits eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen und damit eine Vertrauensbasis geschaffen worden ist, auf die sich die Beteiligten einrichten durften, sind auch die Voraussetzungen gegeben, unter denen das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausnahmsweise echte Rückwirkungen von Gesetzen zuläßt. Bei verworrener oder zumindest unklarer Rechtslage hat das BVerfG dem Gesetzgeber wiederholt die Befugnis zuerkannt, für in der Vergangenheit liegende Tatbestände eine in die Vergangenheit zurückreichende geänderte Rechtsfolge zu statuieren (vgl BVerfGE 11, 64, 72, 77; 13, 261, 272; 50, 193, 194). Deshalb sind keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Anwendung der Norm zu erheben, die die Geltung des § 72 Abs 1 Satz 2 RKG nF auch für Versicherungsfälle in der Zeit vom 1. Juli 1977 bis zum 31. Dezember 1982 in den Fällen vorsieht, in denen - wie hier - über einen Anspruch eine unanfechtbare Entscheidung noch nicht getroffen worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen