Leitsatz (amtlich)
Wird zur Begründung einer Stützrente (§ 581 Abs 3 RVO) die Anerkennung eines weiteren Arbeitsunfalls erstmalig im gerichtlichen Verfahren begehrt, ist der für diesen Arbeitsunfall zuständige Versicherungsträger beizuladen. Dem Kläger ist nach Aussetzung des Verfahrens Gelegenheit zu geben, das Verwaltungsverfahren durchzuführen. Der sodann ergehende Bescheid wird Gegenstand des anhängigen Verfahrens (§ 96 SGG).
Orientierungssatz
Der jeweils zuständige Versicherungsträger ist im Hinblick auf § 581 Abs 3 RVO gehalten, die förmlichen Feststellungen der Unfallfolgen und der daraus erwachsenden MdE festzulegen, wenn die Erwerbsfähigkeit um mindestens 10 vH gemindert ist.
Normenkette
SGG § 96 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 75 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 114 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 581 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30, Abs. 3 Fassung: 1963-04-30, § 1569a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 08.12.1982; Aktenzeichen L 4 U 31/81) |
SG Itzehoe (Entscheidung vom 12.03.1981; Aktenzeichen S 1 U 89/80) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Zuerkennung einer sogenannten Stützrente (§ 581 Abs 3 Reichsversicherungsordnung -RVO-).
Er erlitt am 2. April 1979 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich eine Prellung im linken Schultergelenk zuzog. Zuvor schon hatte der Kläger zwei Unfälle - am 19. Februar 1969 und am 29. Januar 1970 - erlitten. Der hierfür zuständigen Berufsgenossenschaft (BG) für Fahrzeughaltungen waren diese Unfälle gemeldet worden; sie hatten zu keiner Rentenleistung geführt. An Unterlagen über diese Unfälle sind lediglich noch Durchgangsarztberichte vorhanden. Die beklagte BG lehnte mit Bescheid vom 25. April 1978 die Gewährung einer Verletztenrente ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat ua ausgeführt: Der Hauptantrag des Klägers, ihm Verletztenrente aus Anlaß des Unfalls vom 2. April 1979 zu gewähren, sei nicht begründet. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei durch die Unfallfolgen nicht um wenigstens 20 vH gemindert; sie sei nach dem Ergebnis der medizinischen Beweiserhebung nur mit 10 vH zu bewerten. Die Frage von Vorschäden durch die Unfälle aus den Jahren 1969 und 1970 sei nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits. Folgen jener Unfälle müßten jeweils im gesonderten Verfahren festgestellt werden. Erst dann könne über die Frage einer Stützrente im Sinne des § 581 Abs 3 RVO entschieden werden.
Mit der - zugelassenen - Revision rügt der Kläger ua eine Verletzung des § 581 Abs 3 RVO. Sein Begehren - meint der Kläger - ziele nicht darauf ab, ein einzelnes Tatbestandsmerkmal - den Grad der MdE - festzustellen. Vielmehr gehe es um eine der Voraussetzungen für die Gewährung einer Stützrente. Diese lägen vor. Nach der medizinischen Beweiserhebung sei bei einer Gesamt-MdE von 20 vH eine Einzel-MdE von 10 vH dem Unfall vom 2. April 1979 anzulasten.
Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. April 1979 aufzuheben und "festzustellen", daß hinsichtlich des Unfalles vom 2. April 1979 die Voraussetzungen des § 581 Abs 3 Satz 1 und 2 RVO vorliegen; hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist.
Zwischen den Beteiligten steht außer Streit, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch den Arbeitsunfall vom 2. April 1979 nicht um wenigstens 20 vH gemindert ist. Demzufolge liegen die Voraussetzungen für die Gewährung von Verletztenrente nach § 581 Abs 1 Nr 2 RVO, wonach die Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 1/5 (= 20 vH) gegeben sein muß, nicht vor. Indessen hätte das LSG es nicht dabei bewenden lassen dürfen. Nach seinen Feststellungen, die auch im Revisionsverfahren unangetastet geblieben sind (§ 163 SGG), sind die Unfallfolgen mit 10 vH zu bewerten. Unter Hinweis darauf ist dem Vortrag des Klägers, er habe zuvor schon zwei Arbeitsunfälle erlitten, sowie insbesondere aus seinen Prozeßanträgen zu entnehmen, daß er die Zuerkennung einer Stützrente nach § 581 Abs 3 RVO begehrt (§ 123 iVm §§ 165 und 153 SGG). In Fällen dieser Art, in denen die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge mehrerer Arbeitsunfälle gemindert und der Vomhundertsatz der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit zusammen wenigstens die Zahl 20 erreicht, ist für jeden - auch einem früheren Arbeitsunfall - Verletztenrente zu gewähren. Die Folgen eines Arbeitsunfalls sind allerdings nur zu berücksichtigen, wenn die Erwerbsfähigkeit jeweils um wenigstens 10 vH gemindert ist (§ 581 Abs 3 Satz 2 RVO). Mithin hängt der Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 2. April 1979 davon ab, ob es sich bei den Unfällen vom 19. Februar 1969 bzw vom 29. Januar 1970 um Arbeitsunfälle (§ 548 RVO) handelt und dadurch die Erwerbsfähigkeit des Klägers ebenfalls um wenigstens 10 vH gemindert ist.
Das LSG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß nach § 581 Abs 3 Satz 1 RVO für jeden Arbeitsunfall eine gesonderte Festsetzung einer Teilrente durch den jeweils zuständigen Unfallversicherungsträger (hier die BG für Fahrzeughaltungen) zu erfolgen hat und nicht die für den zuletzt eingetretenen Arbeitsunfall vom 2. April 1979 zuständige BG auch für die Entschädigung der anderen Unfälle zuständig ist (vgl Urteil des 2. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. April 1982 - 2 RU 19/82; siehe im übrigen auch Lauterbach 3. Auflage 1983, Unfallversicherung, Bd I, Anm 16 Buchst e zu § 581; Brackmann 9. Auflage 1984, Handbuch der Sozialversicherung, Bd II, S 571). Daraus läßt sich entgegen dem LSG nicht ableiten, daß im vorliegenden Rechtsstreit die Unfälle des Klägers aus dem Jahre 1969 und 1970 außer Betracht zu bleiben hätten. Das hätte zur Folge, daß dem Kläger nur die Möglichkeit verbliebe, bei dem zuständigen Unfallversicherungsträger eine förmliche Feststellung in bezug auf die Unfälle von 1969 und 1970 zu beantragen, und dies außerhalb des anhängigen Rechtsstreits. Das würde dem Sinn und Zweck des § 581 Abs 3 RVO nicht entsprechen.
Der Anspruch auf eine sogenannte kleine Rente gegen die Beklagte setzt gemäß § 581 Abs 3 RVO gerade voraus, daß die MdE nicht nur infolge des Unfalles vom 2. April 1979, für dessen Entschädigung die Beklagte zuständig ist, sondern auch infolge des Unfalles von 1969 oder 1970, für dessen Feststellung die Zuständigkeit eines anderen Unfallversicherungsträgers gegeben ist, jedenfalls wenigstens 10 vH beträgt. Sachlich-rechtlich und verfahrensrechtlich ist zwar der Anspruch des Klägers auf eine Stützrente unabhängig davon, ob auch aus anderen Unfällen eine Verletztenrente zusteht. Jedoch erwachsen Wechselbeziehungen zwischen den jeweils zuständigen Versicherungsträgern insofern, als jeder von ihnen zur Gewährung einer Rente nach einer MdE um nur 10 vH nur dann verpflichtet ist, wenn und solange auch der von dem anderen Versicherungsträger zu entschädigende Arbeitsunfall eine MdE um wenigstens 10 vH zur Folge hat (so o. g. Urteil des 2. Senats vom 29. April 1982).
Daraus hat das LSG nicht die verfahrensrechtlichen Konsequenzen gezogen. In einem solchen Fall ist nicht die Klage als insoweit unzulässig abzuweisen, was zur Folge hätte, daß Ansprüche auf eine sogenannte kleine Rente nach § 581 Abs 3 RVO letztlich nie oder nur sehr schwer durchsetzbar wären. Vielmehr hat das Prozeßgericht den anderen, für die Feststellung und Entschädigung der Unfälle aus den Jahren 1969 und 1970 zuständigen Versicherungsträger zu dem Rechtsstreit notwendig beizuladen (§ 75 Abs 2 erste Alternative SGG), weil auch ihm gegenüber die Entscheidung über den Rechtsstreit nur einheitlich ergehen kann (so auch 2. Senat im o. g. Urteil vom 29. April 1982). Daraufhin hat das Prozeßgericht diesem Versicherungsträger Gelegenheit zu geben, das Feststellungsverfahren nach § 1569a RVO durchzuführen und wegen Vorgreiflichkeit des hier zu erwartenden Bescheides für den vorliegenden Rechtsstreit das Verfahren nach § 114 Abs 2 SGG auszusetzen (vgl hierzu die Rechtsprechung zur Nachholung des Widerspruchsverfahrens nach Klageerhebung, SozR 1500 § 78 Nr 16). Die grundsätzlich im Ermessen des Gerichts liegende Aussetzung ist bei der gegebenen Sachlage geboten.
Der für die Unfälle 1969 und 1970 zuständige Unfallversicherungsträger ist zur Durchführung eines förmlichen Feststellungsverfahrens gesetzlich verpflichtet. Zwar haben die Versicherungsträger nicht wegen jedes Unfalls ein förmliches Feststellungsverfahren zu betreiben. Vielmehr sieht § 1569a RVO eine förmliche Feststellung - abgesehen von dem Fall eines entsprechenden Antrags des Berechtigten oder der Anweisung der Aufsichtsbehörde (§ 1569a Abs 2 RVO) - nur für die "Gewährung von Rente" sowie außerdem bei der Änderung, der Entziehung und des Ruhens der Rente vor, nicht aber für einzelne Voraussetzungen des Rentenanspruches. Im Verfahren nach § 581 Abs 3 RVO geht es jedoch für den jeweiligen Unfallversicherungsträger nicht um eine von der Rentengewährung unabhängige, selbständige Feststellung eines bestimmten Grades der MdE, sondern um die "Gewährung von Rente". Denn die Rechtspositionen der für die Unfälle jeweils zuständigen Versicherungsträger sind nach § 581 Abs 3 RVO - wie ausgeführt - wechselseitig insoweit miteinander verknüpft, als jeder von ihnen zur Gewährung einer Rente nach einer MdE um nur 10 vH nur dann verpflichtet ist, wenn und solange auch der von dem anderen Versicherungsträger zu entschädigende Arbeitsunfall eine MdE von wenigstens 10 vH hinterlassen hat. Es geht hier also um die Rentengewährung als solche. Daraus folgt, daß der jeweils zuständige Versicherungsträger im Hinblick auf § 581 Abs 3 RVO gehalten ist, die förmlichen Feststellungen der Unfallfolgen und der daraus erwachsenden MdE festzulegen (so auch Lauterbach aaO Bd II, Anm 14 zu § 581; aA Brackmann, aaO, S 570 l, der allein auf dem Wortlaut des § 581 Abs 3 RVO abhebt). Die Rechtsprechung des BSG, wonach es in der gesetzlichen Unfallversicherung eine Rechtsgrundlage für eine unabhängig von einer Rentengewährung getroffenen Feststellung einer ziffernmäßig bestimmten MdE nicht gibt (BSGE 55, 32 ff = SozR 2200 § 581 Nr 17 mwN) steht jedenfalls im Rahmen des § 581 Abs 3 RVO nicht entgegen.
Der vom zuständigen und beizuladenden Versicherungsträger ergehende Bescheid wird entsprechend § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des anhängigen Berufungsverfahrens. Die hierfür nach der Rechtsprechung des BSG zu fordernden Voraussetzungen (ua BSGE 47, 168 = SozR 1500 § 96 Nr 13; SozR 1500 § 96 Nr 27) sind erfüllt. Zum einen beeinflußt der Bescheid den Streitstoff des anhängigen Rechtsstreits unmittelbar; nach § 581 Abs 3 RVO ist davon die Gewährung einer Stützrente abhängig. Zum anderen wird der Grundgedanke dieser Vorschrift, nämlich durch eine sinnvolle Prozeßökonomie ein schnelles und zweckmäßiges Verfahren im Interesse des Rechtsuchenden zu bewirken, in besonderer Weise Rechnung getragen; ein zweites gerichtliches Verfahren erübrigt sich dadurch.
Das LSG wird den für die Feststellung der Unfälle 1969 und 1970 zuständigen Unfallversicherungsträger beizuladen und dann das Verfahren bis zu dessen Entscheidung nach § 114 Abs 2 SGG auszusetzen haben.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen