Leitsatz (amtlich)

Einem Verfolgten kann die Anerkennung seines Auslandsaufenthaltes bis zum 1949-12-31 als Ersatzzeit nach AVG § 28 Abs 1 Nr 4 (RVO § 1251 Abs 1 Nr 4) nicht mit der Begründung versagt werden, daß er ständig als frei praktizierender Arzt tätig gewesen ist und daß er deshalb bei einem Verbleiben in Deutschland voraussichtlich auch nicht versicherungspflichtig beschäftigt oder freiwillig versichert gewesen wäre.

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. Dezember 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der am 18. April 1899 in G (Kreis G) geborene Kläger hatte vom 14. Juni 1917 an Kriegsdienst im deutschen Heer geleistet. Nach Kriegsende studierte er bis zum 28. April 1923 Medizin. Am 31. Januar 1928 schloß er seine Ausbildung als Facharzt ab.

Im Mai und Juni 1928 war er angestellter Schiffsarzt. Hierfür sind für ihn zwei Monatsbeiträge an die damalige Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) abgeführt worden. Danach ließ er sich als selbständiger Facharzt in F. nieder. Im Oktober 1935 wanderte er nach Palästina aus. Seit 1940 lebt er in N. Er ist rassisch Verfolgter im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG).

Seinen Antrag vom 5. Dezember 1966 auf Gewährung von Altersruhegeld lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 11. April 1968 ab, weil die große Wartezeit nicht erfüllt sei. Vorhanden seien nur zwei Monate Beitragszeit und 18 Monate Ersatzzeit wegen des Wehrdienstes im ersten Weltkrieg. Der verfolgungsbedingte Auslandsaufenthalt von Oktober 1935 bis Dezember 1949 könne nicht als Ersatzzeit anerkannt werden. Dem Kläger habe in dieser Zeit die rechtliche Möglichkeit zu einer wirksamen Beitragsentrichtung gefehlt. Als frei praktizierender Arzt habe er der Rentenversicherungspflicht nicht unterlegen. Freiwillig habe er sich nicht weiterversichert.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 11. April 1968 verurteilt, als Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) für den Kläger die Zeiten seines Auslandsaufenthaltes von Oktober 1935 bis Dezember 1949 zu berücksichtigen und ihm dementsprechend Altersruhegeld zu gewähren. Ein verfolgungsbedingter Auslandsaufenthalt könne als Ersatzzeit nur dann nicht auf die Wartezeit angerechnet werden, wenn es dem Verfolgten während dieser Zeit rechtlich unmöglich gewesen wäre, wirksam Beiträge zu entrichten. Die Aufnahme einer rentenversicherungspflichtigen Tätigkeit brauche nicht wahrscheinlich gewesen zu sein. Eine solche rechtliche Möglichkeit habe aber für den Kläger bestanden, weil er seine Selbständigkeit als frei praktizierender Arzt jederzeit hätte aufgeben können, um eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen. Infolgedessen läge eine Versicherungszeit von nicht nur 20 Monaten, sondern von weiteren 171 Monaten vor, so daß die große Wartezeit erfüllt und die Beklagte verpflichtet sei, Altersruhegeld zu gewähren.

Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben. Sie hat die vom Landessozialgericht (LSG) Hamburg zugelassene Revision eingelegt und beantragt,

das angefochtene Urteil vom 14. Dezember 1971 und das Urteil des SG vom 13. April 1971 aufzuheben und die Klage gegen ihren Bescheid vom 11. April 1968 abzuweisen.

Sie rügt unrichtige Anwendung des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG. Für den Kläger habe nur eine theoretische Versicherungsmöglichkeit bestanden, die außer Betracht zu bleiben habe, wie der 4. Senat des Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 13. Mai 1970, SozR § 1251 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Nr. 44 bereits entschieden habe. Als frei praktizierender, selbständiger Arzt wäre der Kläger, selbst wenn er in Deutschland geblieben wäre, niemals versicherungspflichtig gewesen. Auch die Möglichkeit zu einer freiwilligen Versicherung habe nur in sehr beschränktem Umfange bestanden. Vor allem aber habe der Kläger davon keinen Gebrauch gemacht. Die zwar vorhandene, theoretische Möglichkeit zu einer ausreichenden Versicherung, mit der die große oder doch wenigstens die kleine Wartezeit hätte erfüllt werden können, sei lediglich denkbar, aber nicht wahrscheinlich gewesen.

Der Kläger, der im Revisionsverfahren nicht durch einen vor dem BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten ist, hat sich ebenso wie die Beklagte mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Da der Kläger sein 65. Lebensjahr nach dem 1. Januar 1957 vollendet hat, ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG von § 28 AVG idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) vom 23. Februar 1957 auszugehen (vgl. ua BSG SozR § 1251 RVO Nr. 1 und 2). Danach werden für die Erfüllung der Wartezeit von 180 Kalendermonaten für das begehrte Altersruhegeld (§ 25 Abs. 4 AVG) als Ersatzzeiten ua angerechnet:

1.

Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes i.S. der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes, die aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden sind,

2.

Zeiten eines durch Verfolgungsmaßnahmen i.S. des BEG hervorgerufenen Auslandsaufenthaltes bis zum 31. Dezember 1949, wenn der Versicherte Verfolgter i.S. des § 1 BEG ist.

Voraussetzung für eine solche Anrechnung ist nach § 28 Abs. 2 AVG, daß entweder vorher eine Versicherung bestanden hat, oder daß ua innerhalb von 2 bzw. 3 Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit oder einer durch sie aufgeschobenen oder unterbrochenen Ausbildung eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist. Eine Versicherung hat vor den im § 28 Abs. 1 AVG genannten Zeiträumen immer dann bestanden, wenn ihnen wenigstens ein nach § 26 AVG auf die Wartezeit anrechenbarer Beitrag vorausgegangen ist (BSG, SozR § 1251 RVO Nr. 4). Das sind hier die Beiträge zur Angestelltenversicherung (AnV), die für den Kläger als Schiffsarzt für Mai und Juni 1928 an die RfA entrichtet worden sind. Sie bewirken zugleich, daß der Wehrdienst im 1. Weltkrieg als Ersatzzeit angerechnet werden kann (vgl. BSG 24, 49).

Die Frage, ob der Kläger die große Wartezeit für das begehrte Altersruhegeld erfüllt hat, hängt somit nur davon ab, ob die Zeit seines Auslandsaufenthaltes von § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG erfaßt wird. Das ist entgegen der Auffassung der Revision zu bejahen.

Daß es sich bei dem Aufenthalt des Klägers zunächst in Palästina und sodann in den Vereinigten Staaten von Amerika um einen durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufenen Auslandsaufenthalt handelt, hat das LSG mit Recht angenommen und bezweifelt auch die Beklagte nicht. Diese macht allein geltend, § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG könne hier gleichwohl nicht angewendet werden, weil der Kläger auch ohne die Verfolgung keine Pflichtbeiträge oder freiwilligen Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet hätte. Dieser Auffassung kann jedoch nicht zugestimmt werden.

Wie der Senat in seinem Urteil vom 17. Februar 1970 (BSG 31, 14) bereits ausgeführt hat, sollen Ersatzzeiten ihrem Wesen nach Beitragszeiten ersetzen. Die Anrechnung von Zeiten als Ersatzzeiten setzt deshalb die rechtliche Möglichkeit voraus, daß für die Zeiten ohne das Vorhandensein der jeweils maßgebenden Tatbestände auch tatsächlich Beiträge wirksam hätten entrichtet werden können. Dabei wird es sich in der Regel um Pflichtbeiträge gehandelt haben; es kann aber auch die Möglichkeit zur Entrichtung von freiwilligen Beiträgen genügen.

Daß eine Zeit nur demjenigen als Ersatzzeit angerechnet werden darf, der aus besonderen Gründen für eine bestimmte Zeit nicht in der Lage gewesen ist, Beiträge zu leisten, entsprach bereits der Auffassung des früheren Reichsversicherungsamts - RVA - (vgl. die Grundsätzlichen Entscheidungen Nr. 5458 und Nr. 5495, AN 1942, 76 und 573); es mußte sich danach bei den Ersatzzeiten immer um Zeiten handeln, für die mit Rücksicht auf einen besonderen, im Gesetz festgelegten Tatbestand die Beitragspflicht ausnahmsweise erlassen war. Hieran hat sich im Grundsatz durch die Rentenreform des Jahres 1957 nichts geändert. Was nicht als Beitragszeit entgangen sein kann, kann auch nicht ersetzt werden.

In der Rechtsprechung des BSG ist deshalb stets die Anrechnung einer der in den §§ 28 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AVG angeführten Zeiträume als Ersatzzeit dann abgelehnt worden, wenn für den Versicherten überhaupt keine rechtliche Möglichkeit bestanden hatte, für die Zeiträume gültige Pflicht- oder freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung zu entrichten, vgl. BSG, SozR § 1251 RVO Nr. 8, 12, 22, 33, 43 (= BSG 31, 14). Darüber hinaus ist vom 4. Senat des BSG in seinem bereits erwähnten Urteil vom 13. Mai 1970 (SozR § 1251 RVO Nr. 44) die Auffassung vertreten worden, es müsse auch eine theoretische Versicherungsmöglichkeit außer Betracht bleiben, wenn sie äußerst selten, d.h. praktisch nie oder so gut wie nie genutzt wurde. Dies hat der 4. Senat für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung und für den Eintritt in die Selbstversicherung durch einen Vertriebenen angenommen, der in den Jahren 1945 und 1946 volksschulpflichtig war, das 14. Lebensjahr nicht vollendet hatte und noch nicht versichert war. Der Kläger ist aber mit einer solchen Person nicht vergleichbar.

Die Beklagte muß selbst einräumen, daß der Kläger nach § 21 AVG i.V.m. § 1243 RVO idF des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 (RGBl I 1393) vom 1. Januar 1938 an als damaliger deutscher Staatsangehöriger (vgl. BVerfG 23, 98) zum freiwilligen Eintritt in die Versicherung (Selbstversicherung) berechtigt war. Außerdem wäre er entgegen der Auffassung der Beklagten alsdann nicht nur zur freiwilligen Versicherung von Januar 1938 bis April 1939 befugt gewesen, sondern auch darüber hinaus, da er eine rechtzeitig vor Vollendung des 40. Lebensjahres begonnene Selbstversicherung nach Erreichung dieses Lebensalters hätte fortsetzen können (vgl. VerbKomm. 5. Aufl. § 1244 RVO aF Anm. 3 Abs. 2; BSG 8, 60). Es trifft ferner nicht zu, daß die Selbstversicherung bei selbständigen Ärzten eine praktisch nie oder so gut wie nie genutzte Möglichkeit gewesen wäre. Diese Möglichkeit liegt nicht so fern, daß sie außer Betracht bleiben müsste. Damit scheidet eine sinngemäße Anwendung der in dem Urteil des 4. Senats entwickelten Rechtsgrundsätze für die Jahre des Auslandsaufenthalts des Klägers von 1938 bis 1949 aus.

Aber auch für die vorangegangene Zeit von Oktober 1935 bis Dezember 1937 ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß der Kläger ohne seine jüdische Abstammung als angestellter Arzt in einem Krankenhaus versicherungspflichtig beschäftigt worden wäre. Abgesehen hiervon bestand für ihn auch für diese Zeit die Möglichkeit einer Selbstversicherung nach § 22 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 1 Nr. 6 AVG aF, weil er "für eigene Rechnung" eine Tätigkeit im Beruf der "Krankenpflege" ausübte.

Nach alledem ist für die hier in Frage stehenden Zeiten von 1935 bis 1949 die vom Gesetz unterstellte Verhinderung des Klägers zur Beitragsleistung durch den hier in Betracht kommenden gesetzlichen Tatbestand, die den Grund für die Zuerkennung der Zeiten als Ersatzzeiten bildet, nicht widerlegt.

Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 26. Juni 1959 zu dem Gesetz über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 ausgeführt, daß es, obschon es als eine Ergänzung zu den Sozialversicherungsgesetzen erlassen ist, inhaltlich und ideenmäßig zu jenen Gesetzen gehört, die der Wiedergutmachung des durch nationalsozialistische Verfolgung erlittenen Unrechts dienen; bei seiner Auslegung müssen deshalb die allgemeinen Rechtsgedanken des Entschädigungsrechts mitberücksichtigt werden (BSG 10, 113). Entsprechendes muß für die Auslegung des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG gelten; er will die Altersversorgung der Verfolgten sicherstellen, die durch den Nationalsozialismus ihre bisherige Lebensgrundlage verloren haben. Dem Zweck dieser Vorschrift würde es daher widersprechen, wenn man § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG so einengend auslegen wollte, wie dies von der Beklagten vertreten wird.

Nach alledem kann der Auffassung der Beklagten nicht gefolgt werden. Vielmehr ist ihre Revision mit der Kostenfolge aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669361

Dieser Inhalt ist unter anderem im Haufe Kranken- und Pflegeversicherungs Office enthalten. Sie wollen mehr?