Entscheidungsstichwort (Thema)
Entziehung der Elternrente
Orientierungssatz
Elternrente ist nur zu gewähren, wenn der Verstorbene die Verwandten vor dem Arbeitsunfall wesentlich unterhalten hat oder ohne den Arbeitsunfall wesentlich unterhalten würde. Die Frage der Wesentlichkeit des Unterhalts ist im Verhältnis zum Unterhaltsbedarf der Berechtigten zu beurteilen (Nach italienischem Recht ist es zwar möglich, daß Eltern einen Unterhaltsanspruch gegen ihren Sohn haben, auch wenn dieser eine eigene Familie zu unterhalten hat, jedoch wäre dieser Unterhaltsanspruch nur geringfügig, da die Höhe des Unterhalts unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Kinder und der Ehefrau des Verstorbenen festgesetzt würde. Nach einem allgemeinen Erfahrungssatz ist bei einem Arbeiter mit durchschnittlichem Einkommen, der eine eigene Familie mit Kindern zu unterhalten hat, nicht anzunehmen, daß er seine Eltern durch laufende Zahlungen aus seinem Arbeitsverdienst wesentlich unterstützen könnte (vgl BSG 1974-06-27 8 RU 292/73 = SozR 2200 § 596 Nr 3).
Normenkette
RVO § 596 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 12.10.1977; Aktenzeichen L 3 U 75/77) |
SG Speyer (Entscheidung vom 10.12.1976; Aktenzeichen S 16 U 136/76 Mz) |
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Oktober 1977 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Elternrente der Kläger entziehen durfte.
Die Kläger sind in Italien wohnende italienische Staatsangehörige. Ihr am 18. Oktober 1940 geborener Sohn, O G (O.G.), starb am 23. Mai 1967 im Alter von 26 1/2 Jahren an den Folgen eines in Deutschland erlittenen Arbeitsunfalls. Die Beklagte gewährte ihnen daraufhin mit Bescheid vom 28. Oktober 1969 ab dem Todestage Elternrente. Mit Bescheid vom 26. März 1976 entzog die Beklagte die Elternrente nach § 622 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) mit Ablauf des Monats April 1976. Der Verstorbene hätte inzwischen eine eigene Familie gegründet und deshalb keinen Unterhalt mehr leisten können. Der Widerspruch der Kläger blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 1976).
Das Sozialgericht (SG) Speyer hat den Entziehungsbescheid aufgehoben (Urteil vom 10. Dezember 1976). Der Verstorbene sei im Zeitpunkt seines Todes bereits 26 1/2 Jahre alt gewesen. In diesem Alter seien bereits 70 % der Eheschließenden verheiratet, so daß es unwahrscheinlich sei, daß der Verstorbene noch geheiratet hätte. Man könne daher nicht davon ausgehen, daß seine Unterhaltsfähigkeit entfallen wäre.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. Oktober 1977). Es hat ausgeführt, daß grundsätzlich die Neufeststellung nach § 622 Abs 1 RVO zulässig sei, auch wenn nur eine mutmaßliche Änderung eines gedachten Geschehensablaufs unterstellt werde. Hier liege eine solche wesentliche Änderung vor. Die Kläger hätten inzwischen keinen Unterhaltsanspruch mehr gegen den Verstorbenen, wie § 596 Abs 1 RVO voraussetze, da die Leistungsfähigkeit des Verstorbenen wegen der mutmaßlichen Gründung einer eigenen Familie entfallen wäre. Dies sei hinreichend wahrscheinlich. Konkrete Anhaltspunkte für oder gegen eine Heirat des Verstorbenen seien zwar nicht festzustellen, es könnten aber statistische Unterlagen herangezogen werden. Die Wahrscheinlichkeit einer Eheschließung nehme mit zunehmendem Alter stark ab, wie sich ua aus dem Statistischen Jahrbuch des Landes Rheinland-Pfalz ergäbe. Der Verstorbene habe aber mit 26 1/2 Jahren entgegen der Auffassung des SG noch nicht zu einer Ausnahmegruppe gehört, die zu einem erheblichen Anteil unverheiratet bleibe. Immerhin seien nach dem Tod des Verstorbenen etwa 9 Jahre verstrichen. Angesichts des durchschnittlichen Erwerbseinkommens und der durchschnittlichen Vermögensverhältnisse des Verstorbenen reiche diese Frist aus, um eine Heirat und Familiengründung zu unterstellen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Kläger haben diese Rechtsmittel eingelegt. Sie rügen eine Verletzung der §§ 622 Abs 1 und 596 RVO. § 622 Abs 1 RVO könne nicht Rechtsgrundlage für die Entziehung einer Elternrente sein, wenn die Entziehung mit Tatbeständen begründet werde, die bei Erteilung des Rentenbescheids bereits überschaubar und bestimmbar gewesen seien. In einem solchen Fall müsse die Rente - wie im Zivilrecht - bereits im Rentenbescheid kalendermäßig begrenzt werden. Da dies nicht geschehen sei, müsse die Rente unbegrenzt weitergewährt werden. Außerdem habe das LSG zu Unrecht angenommen, daß der Verstorbene mutmaßlich geheiratet hätte. Eine so spät eingegangene Ehe wäre zudem wahrscheinlich kinderlos geblieben. Schließlich habe das LSG statistische Unterlagen über das Heiratsalter der in Deutschland lebenden Italiener heranziehen müssen. Dieses liege weit niedriger als das allgemeine Heiratsalter der deutschen Bevölkerung.
Die Kläger beantragen (sinngemäß),
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 12. Oktober 1977 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Speyer vom 10. Dezember 1976 zurückzuweisen,
hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, grundsätzlich könne § 622 Abs 1 RVO auf den vorliegenden Fall angewandt werden, denn der Versicherungsträger sei nicht verpflichtet, die Elternrente von vornherein zeitlich zu begrenzen. Es stünde ihm vielmehr frei, eine Zeitrente oder eine unbefristete Rente zu gewähren. Eine wesentliche Änderung im Sinne des § 622 Abs 1 RVO sei hier eingetreten. Das LSG habe in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu Recht angenommen, daß der Verstorbene inzwischen mutmaßlich eine Familie gegründet hätte und seine Unterhaltsfähigkeit deshalb entfallen wäre.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 SGG).
Die zulässige Revision der Kläger ist nicht begründet. Der Entziehungsbescheid vom 26. März 1976 ist rechtmäßig.
Nach § 622 Abs 1 RVO ist eine Leistung neu festzustellen - also auch zu entziehen -, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Leistung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt, die die Neufeststellung rechtfertigt. Nach § 596 Abs 1 RVO besteht ein Anspruch auf Elternrente, wenn und solange die Anspruchsberechtigten ohne den Arbeitsunfall gegen den Verstorbenen einen Anspruch auf Unterhalt hätten geltend machen können. Damit ist nach allgemeiner Ansicht das mutmaßliche Bestehen eines familienrechtlichen Unterhaltsanspruchs Voraussetzung für die Gewährung von Elternrente (vgl Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 596 RVO Anm 6b und 10; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl, S 590). Das Gesetz stellt auf einen Geschehensablauf ab, der in Wirklichkeit nicht eintreten kann.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß auch die mutmaßliche Änderung eines nur gedachten Geschehensablaufs eine wesentliche Änderung im Sinne des § 622 Abs 1 RVO sein kann (entgegen Zehe, SGb 1975, 134 und 1976, 237; Andreas, ZfS 1974, 361). Die mutmaßliche Änderung eines nicht Wirklichkeit gewordenen Geschehensablaufs rechtfertigt eine Neufeststellung, wenn der hypothetische Geschehensablauf für die Feststellung der Leistung maßgeblich gewesen ist (vgl BSG SozR 2200 § 622 Nr 6 und § 596 Nr 3). In einem solchen Fall ist es nicht gerechtfertigt, zwischen tatsächlich eingetretenen und mutmaßlichen Ereignissen, die zu der mutmaßlichen Änderung des gedachten Geschehensablaufs führen, zu unterscheiden. Zwar hat das BSG entschieden, daß es für die Feststellung einer wesentlichen Änderung iS des § 622 Abs 1 RVO nicht ausreicht, daß eine solche unter Umständen eingetreten sein könnte (SozR Nr 12 zu § 622 RVO). Dies betraf jedoch einen Fall, in dem die Feststellung der Leistung nicht von einem mutmaßlichen Geschehensablauf abhing. Wie der 8. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 22. Oktober 1975 (SozR 2200 § 622 Nr 6, S. 13) bereits ausgeführt hat, ist das Eintreten der Umstände, die zu der mutmaßlichen Änderung führen, nicht immer mit einer solchen Sicherheit vorhersehbar, daß die zeitliche Begrenzung der Rente bereits im Bescheid vorgenommen werden könnte. Selbst statistische Aussagen über das Heiratsalter können sich im Verlauf des zu beurteilenden Zeitraums wesentlich ändern, da das Heiratsverhalten der Bevölkerung nicht gleichbleibt (vgl zB Höhn, Wirtschaft und Statistik - WiSta -, 1976, 717, 721). Auch ist es für den Berechtigten nicht unbedingt günstiger, wenn die Rente gleich im Bewilligungsbescheid zeitlich begrenzt wird, da das Bewilligungsverfahren sich dadurch in die Länge ziehen kann (vgl Urteil des 8. Senats aaO).
Das LSG hat auch zu Recht angenommen, daß eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 622 Abs 1 RVO vorgelegen hat, da der Unterhaltsanspruch der Kläger gegen den Verstorbenen im Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheids mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entfallen wäre. Die Frage, ob die Kläger weiterhin einen Unterhaltsanspruch gegen den Verstorbenen gehabt hätten, ist gemäß Art 19 EGBGB nach italienischem Recht zu beurteilen, da der Vater des Verstorbenen italienischer Staatsangehöriger ist (BSG SozR 2200 § 596 Nr 2; Soergel/Siebert, BGB, 10. Aufl, Art 19 EGBGB Anm 1; Palandt, BGB, 37. Aufl, Art 19 EGBGB Anm 2). Da das LSG über den Inhalt des nicht revisiblen italienischen Rechts keine Feststellungen getroffen hat, kann dies ausnahmsweise vom Revisionsgericht nachgeholt werden (BSGE 7, 122, 125; Meyer-Ladewig, SGG, § 162 Anm 7; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 162 SGG Anm II 3, S. III/80 - 86). Nach italienischem Recht ist der Unterhaltsanspruch der Kläger gegen den Verstorbenen ähnlich wie nach deutschem Recht von der Bedürftigkeit des Berechtigten und der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten abhängig (Art 438 des italienischen Codice civile; vgl dazu BSG Urteil vom 19. Mai 1978 - 8 RU 102/77; Grunsky/Wuppermann, Italienisches Familienrecht, 1971, S. 141 f. und 218; Tölzer, SozSich 71, 166, 169). Allerdings ist die Reihenfolge der Unterhaltsberechtigung im italienischen Recht anders geregelt als im deutschen Recht. Während nach § 1609 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) Ehegatte und Kinder vorrangig vor den Eltern unterhaltsberechtigt sind, bestimmt Art 442 Cc, daß das Gericht geeignete Vorkehrungen treffen muß, um die Unterhaltsleistungen des Verpflichteten angemessen unter die Berechtigten zu verteilen (abgedruckt bei Grunsky/Wuppermann aaO, S. 219). Nach italienischem Recht ist es somit möglich, daß Eltern einen Unterhaltsanspruch gegen ihren Sohn haben, auch wenn dieser eine eigene Familie zu unterhalten hat. Dennoch hätten die Kläger ohne den Arbeitsunfall gegen den Verstorbenen keinen Unterhaltsanspruch mehr geltend machen können, sobald der Verstorbene geheiratet und Kinder bekommen hätte. Nach § 596 Abs 1 RVO wird Elternrente nämlich nur gewährt, solange die Anspruchsberechtigten ohne den Arbeitsunfall gegen den Verstorbenen einen Anspruch auf Unterhalt in wesentlicher Höhe hätten geltend machen können. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Vorlaut der Vorschrift, aber aus deren Sinn und Zweck. Elternrente ist nur zu gewähren, wenn der Verstorbene die Verwandten vor dem Arbeitsunfall wesentlich unterhalten hat oder ohne den Arbeitsunfall wesentlich unterhalten würde. Es wäre nicht gerechtfertigt, für das Andauern der Rentenberechtigung geringere Voraussetzungen zu fordern als für den Beginn der Rente. Die Frage der Wesentlichkeit des Unterhalts ist im Verhältnis zum Unterhaltsbedarf der Berechtigten zu beurteilen (vgl RVA AN 1922, 262 zu § 593 RVO aF). Der Unterhaltsanspruch, den die Kläger gegen den Verstorbenen noch hätten, nachdem dieser eine Familie gegründet hätte, wäre jedoch nur geringfügig, da die Höhe des Unterhalts unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Kinder und der Ehefrau des Verstorbenen festgesetzt würde. Nach einem allgemeinen Erfahrungssatz ist bei einem Arbeiter mit durchschnittlichem Einkommen, der eine eigene Familie mit Kindern zu unterhalten hat, nicht anzunehmen, daß er seine Eltern durch laufende Zahlungen aus seinem Arbeitsverdienst wesentlich unterstützen könnte (vgl BSG SozR 2200 § 596 Nr 3, S 13 mwN; OLG Düsseldorf, NJW 61, 1408; Staudinger, BGB, 10./11. Aufl, § 849 Anm 157 a).
Die Feststellung des LSG, daß der Verstorbene im Zeitpunkt der Rentenentziehung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Familie gegründet hätte, ist eine Tatsachenfeststellung, die das Revisionsgericht auf Rüge nur daraufhin nachprüfen kann, ob das Tatsachengericht bei der Beweiswürdigung allgemeine Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt hat (vgl Meyer-Ladewig aaO § 162 Anm 3; Peters/Sautter/Wolff, aaO, § 162 Anm II 6 S. III/80-90). Das ist hier nicht der Fall. An die Erbringung des Beweises dürfen keine hohen Anforderungen gestellt werden, wie sich aus einer entsprechenden Anwendung des § 287 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ergibt (ähnlich schon BSG SozR 2200 § 596 Nr 3, S. 14). Nach dieser Vorschrift, die im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar ist (vgl Peters/Sautter/Wolff, aaO, § 128 Anm 2b S. II/134; Meyer-Ladewig, aaO, § 118 Anm 14, § 128 Anm 3), kann das Gericht die Schadenshöhe auf der Grundlage der tatsächlichen Anhaltspunkte nach freiem Ermessen schätzen. Die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, daß ein Schaden gerade in der Höhe vorliegt, ist nicht erforderlich (vgl Stein/Jonas, ZPO, 19. Aufl, § 287 Anm III 1; Wieczorek, ZPO, 2. Aufl, § 287 Anm D IV). Auch die Dauer einer Rente- die hier vom Vorliegen des mutmaßlichen Unterhaltsanspruchs der Kläger abhängt - kann nach allgemeiner Ansicht im Rahmen des § 287 Abs 1 ZPO geschätzt werden (zB BGH in JZ 1951, 113, 114; Wieczorek aaO, § 287 Anm C IV a 1; Stein/Jonas aaO, § 287 Anm I 2 b und Fußnote 20). Dies gilt insbesondere dann, wenn die Schadenshöhe, dh die Dauer der Rente, von hypothetischen Geschehensabläufen abhängt. Eine Beweislastentscheidung kann in solchen Fällen in der Regel nicht ergehen, da das Gericht die Schätzung aufgrund der vorhandenen Anhaltspunkte treffen muß, auch wenn diese kein genaues Bild ergeben (vgl zB Wieczorek aaO, § 287 ZPO Anm B II a). Hier ist zwar nicht ein Schadensersatzanspruch in zivilrechtlichem Sinn streitig, die gleiche Sachlage rechtfertigt jedoch eine Anwendung der für § 287 ZPO entwickelten Grundsätze.
Nachdem das LSG festgestellt hatte, daß keine konkreten Anhaltspunkte für oder gegen eine mutmaßliche Heirat sprechen, hat es - entsprechend der Rechtsprechung des BSG in SozR 2200 § 596 Nr 3 und § 622 Nr 6 - sich zu Recht auf statistische Erwägungen gestützt. Dabei brauchte es besondere Umstände im Heimatland des Verstorbenen nicht zu berücksichtigen (vgl 8 RU 102/77 vom 19. Mai 1978, S. 12). Die deutschen Statistiken sind jedenfalls zum Teil unter Einbeziehung der in Deutschland wohnenden Ausländer erstellt, außerdem kann bei länger in der Bundesrepublik wohnenden Italienern angenommen werden, daß sie sich an die deutschen Verhältnisse allmählich anpassen. Im Rahmen einer Schätzung nach § 287 ZPO sind zudem auch Anhaltspunkte verwertbar, die kein ganz genaues Bild ergeben.
Die Tatsache, daß das statistische Heiratsalter etwa 26 Jahre beträgt, ist wenig aussagekräftig. Sie bedeutet lediglich, daß etwa die Hälfte aller Männer mit 26 Jahren verheiratet ist. In Fällen wie dem vorliegenden kommt es jedoch darauf an, festzustellen, wie lange ein lediger Mann in einem bestimmten Alter wahrscheinlich noch ledig bleibt und mit welcher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, daß er bis zu einem bestimmten Zeitpunkt heiratet. Nach Schwarz, "Heiratstafeln für Ledige, Verwitwete und Geschiedene 1960/62 "(Wirtschaft und Statistik - WiSta - 1965, 709 ff) und der dazu veröffentlichten Tabelle (WiSta, Statistische Monatszahlen, 1965, S. 730) ergibt sich, daß ein 26-jähriger lediger Mann mit einer Wahrscheinlichkeit von 92 % noch heiratet und, wenn er heiratet, durchschnittlich 30,47 Jahre alt ist. Das Ergebnis läßt sich dadurch überprüfen, daß anhand der Spalte 5 der Tabelle festgestellt wird, wieviele von 100.000 Männern im Alter von 26 Jahren überhaupt noch ledig sind und wieviele von diesen in den folgenden Jahren heiraten (Spalte 3 der Tabelle, vgl die Erläuterungen in WiSta 1965, S. 714, linke Spalte unten). Insgesamt läßt sich aus der Heiratstafel ablesen, daß der Verstorbene wahrscheinlich, dh mit über 50 % Wahrscheinlichkeit, mit 31 Jahren verheiratet gewesen wäre. Allerdings muß bei der Anwendung dieser Statistiken berücksichtigt werden, daß sich das Heiratsverhalten im Laufe der Zeit wesentlich geändert hat und deshalb auch für die Zukunft nicht sicher vorhersehbar ist. Die Heiratstafel 1960/62 ist mit Vorsicht anzuwenden, sofern lange Zeiträume zu beurteilen sind, die nahe an die Gegenwart heranreichen. Zur Überprüfung kann die Heiratstafel lediger männlicher Personen 1972/74 herangezogen werden (Aufsatz: WiSta 1976, 717 ff.; Tabelle WiSta, Statistische Monatszahlen 1976, S. 766). Diese Heiratstafel berücksichtigt zwar nur die deutsche Wohnbevölkerung, sie kann aber zum Vergleich der Ergebnisse aus der Heiratstafel 1960/62 dienen. Daraus ergibt sich für den vorliegenden Fall keine erhebliche Abweichung. Nach der Heiratstafel 1972/74 heiratet ein lediger 26-jähriger zwar nur noch mit einer Wahrscheinlichkeit von 75,9 % und ist, wenn er heiratet, 31,44 Jahre alt. Angesichts der Tatsache, daß nach dem Tod des Verstorbenen 9 Jahre vergangen waren, bis die Rente entzogen wurde, ist diese Abweichung jedoch nicht von Bedeutung. Anhaltspunkte ergeben sich auch aus Tabellen in den "Statistischen Jahrbüchern für die Bundesrepublik Deutschland" über "Eheschließende nach bisherigem Familienstand und Heiratsziffern Lediger" (zB Jahrbuch 1969, S. 46 für 1967; Jahrbuch 1970, S. 47 für 1968; Jahrbuch 1971, S. 47 für 1969 usw). Demnach haben 1967 18 % der in diesem Jahr ledigen 26- bis 27-jährigen Männer geheiratet. Von den verbleibenden Ledigen (82 %), die im nächsten Jahr 28 bis 29 Jahre alt waren, haben 15,4 % geheiratet; dh 12,6 % der ursprünglich im Jahre 1967 ledigen 26- bis 27-jährigen Männer. Nach 2 Jahren waren demnach 30,6 % der im Jahre 1967 ledigen 26- bis 27-jährigen Männer verheiratet, nach 3 Jahren 40,7 %, nach 4 Jahren 48,6 %, nach 5 Jahren 53,8 %. Das stimmt mit den Zahlen der Heiratstafeln insofern überein, als das durchschnittliche Heiratsalter nach etwa 5 Jahren erreicht ist.
Selbst wenn weiter berücksichtigt wird, daß die Unterhaltsfähigkeit des Verstorbenen nicht schon mit der Eheschließung, sondern erst mit der Geburt des ersten Kindes im ersten oder zweiten Ehejahr (vgl BSG, Urteil vom 29. Juli 1978, 2 RU 83/77; Schur, SGb 1975, 326), also etwa 7 Jahre nach dem Tod des Verstorbenen, weggefallen wäre, ist das vom LSG gewonnene Ergebnis nicht zu beanstanden. Auch dann hätten die Kläger 9 Jahre nach dem Arbeitsunfall keinen Unterhaltsanspruch mehr geltend machen können. Die Revision der Kläger mußte daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen