Entscheidungsstichwort (Thema)

Witwenrentenabfindung bei 2. Wiederheirat. Zusage des Versicherungsträgers im Bescheid

 

Orientierungssatz

1. Einer Witwe ist die Abfindung des Rentenanspruchs nur bei ihrer ersten Wiederheirat zu gewähren (vgl BSG 1977-07-21 GS 1/76 = BSGE 44, 151, 155 ff). Diese Auslegung des § 1302 Abs 1 RVO ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl BVerfG 1980-07-01 1 BvR 464/78).

2. Enthält der Bescheid über die Witwenrente eine Erklärung, daß im Falle der Wiederheirat die Witwe eine Abfindung erhalte, dann ist dies als eine Zusage aufzufassen. Handelt es sich um eine Zusage (jetzt Zusicherung), dann kann die Abfindung nicht ohne weiteres mit der Begründung abgelehnt werden, es fehle an der Rechtmäßigkeit des zugesagten Verwaltungshandeln. Grundsätzlich ist der Versicherungsträger aus Gründen des Vertrauensschutzes regelmäßig an die Zusage gebunden. Die Bindung entfällt aber dann, wenn die Zusage fehlerhaft ist und offensichtlich gegen geltendes Recht verstoßen würde (vgl BSG 1974-07-18 5 RKn 13/73 = BSGE 38, 50, 53), denn der Versicherungsträger kann durch die Erfüllung der Zusage nicht zu einem gesetzwidrigen Verhalten gezwungen werden (vgl BSG 1978-10-25 1 RA 1/78 = SozR 2200 § 1237 Nr 10 mwN).

 

Normenkette

RVO § 1302 Abs 1 Fassung: 1957-02-23; RKG § 83 Abs 2 Fassung: 1957-05-21; SGB 10 § 34 Fassung: 1980-08-18

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.01.1978; Aktenzeichen L 2 Kn 142/76)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 22.07.1976; Aktenzeichen S 9(11) Kn 119/75)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine Witwenrentenabfindung (§ 83 Abs 3 Reichsknappschaftsgesetz -RKG-) aus Anlaß ihrer dritten Eheschließung.

Nach dem Tode ihres ersten Ehemannes bezog die Klägerin Witwenrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung von 1940 bis zu ihrer zweiten Eheschließung im März 1946. Als diese Ehe 1958 geschieden worden war, gewährte die Ruhrknappschaft als Rechtsvorgängerin der Beklagten mit Bescheid vom 12. Mai 1960 der Klägerin die wiederaufgelebte Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes. Der Bescheid erhält vorgedruckt unter anderem folgende Ausführungen:

"Im Falle der Wiederheirat erhalten Sie eine

Abfindung. Diese beträgt das Fünffache des

Jahresbetrages der bisher bezogenen Rente.

Unabhängig davon, ob die Abfindung gezahlt ist

oder nicht, lebt der Anspruch auf Witwenrente

mit Ablauf des Monats, in dem die neue Ehe ohne

Ihr alleiniges oder überwiegendes Verschulden

aufgelöst oder für nichtig erklärt wird, wieder auf".

Am 29. April 1975 schloß die Klägerin die dritte Ehe. Den Antrag vom 30. April 1975, ihr eine Witwenrentenabfindung zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26. Mai 1975 ab, weil die Bezieher einer wiederaufgelebten Witwenrente aus Anlaß einer dritten Eheschließung keinen Abfindungsanspruch hätten. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23. September 1975).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin gemäß § 83 Abs 2 RKG die Witwenrentenabfindung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren (Urteil vom 22. Juli 1976). Auf die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. Januar 1978). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfasse § 83 Abs 2 RKG (= § 1302 Abs 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-) nur den Fall der zweiten, nicht aber den einer dritten Eheschließung. Der geltend gemachte Anspruch könne auch nicht aus einer Zusage des Versicherungsträgers hergeleitet werden; es fehle an einer entsprechenden Selbstverpflichtung der Beklagten, an die sie im übrigen auch nicht gebunden wäre, weil die Rechtmäßigkeit des zugesagten Verwaltungshandelns zu verneinen sei.

Dieses Urteil hat die Klägerin mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, die Witwenrentenabfindung stehe ihr aufgrund des § 83 Abs 2 RKG auch anläßlich ihrer dritten Eheschließung zu und im übrigen enthalte der Bescheid vom 12. Mai 1960 eine entsprechende bindende Zusage der Beklagten. Das Berufungsgericht habe den Anspruch nicht mit der Begründung verneinen dürfen, die Ruhrknappschaft habe keinen Anlaß zu einer Selbstbindung durch die Zusage gehabt. Die gesamten Umstände des Falles sprächen vielmehr für eine konkrete Zusage.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land

Nordrhein-Westfalen vom 19. Januar 1978 aufzuheben

und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil

des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 22. Juli 1976

zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Die Tatsachenfeststellungen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.

Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf Abfindung der Witwenrente kann zwar nicht aus § 83 Abs 2 RKG hergeleitet werden, weil nach der ständigen Rechtsprechung des BSG einer Witwe die Abfindung des Rentenanspruchs nur bei ihrer ersten Wiederheirat zu gewähren ist (vgl BSGE 44, 151, 155 ff = SozR 2200 § 1302 Nr 3 mwN). Diese Auslegung des § 1302 Abs 1 RVO, dem in der knappschaftlichen Rentenversicherung § 83 Abs 2 RKG entspricht, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -BVerfG- vom 1. Juli 1980 - 1 BvR 179/78 und 1 BvR 464/78 -).

Der Senat hat aber bereits entschieden, daß die im Bescheid über die Witwenrente enthaltene Erklärung, im Falle der Wiederheirat erhalte die Witwe eine Abfindung, nach dem eindeutigen Wortlaut als Zusage aufgefaßt werden müsse, ihr bei Wiederheirat die Witwenrentenabfindung gewähren zu wollen (Urteil vom 28. Januar 1971 - 5 RKn 64/69 - in SozR Nr 12 zu § 1302 RVO; zustimmend Tannen, Höchstrichterliche Rechtsprechung in der gesetzlichen Rentenversicherung, DRV 1971, 245, 249 f). In den insoweit maßgebenden Bescheiden stimmen die entscheidenden Passagen in dem vom Senat am 28. Januar 1971 entschiedenen Rechtsstreit und im Falle der Klägerin wörtlich überein. Seinerzeit hatte das LSG festgestellt, daß der Versicherungsträger mit dieser Erklärung ein bindendes Leistungsversprechen habe abgeben wollen. Das habe nicht nur der damaligen Verwaltungspraxis entsprochen, vielmehr habe man auch der Witwe die Sicherheit geben wollen, bei der Wiederheirat anstelle der fortfallenden Witwenrente eine Abfindung zu erhalten.

Im Falle der Klägerin hat dagegen das LSG nicht festgestellt, daß die Rechtsvorgängerin der Beklagten eine bindende Zusage hat abgeben wollen. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, ob einer Witwe die Abfindung des Rentenanspruchs nur bei ihrer ersten oder auch bei jeder weiteren Wiederheirat zustehe, sei im Jahre 1960 höchstrichterlich noch nicht geklärt gewesen. Die Ruhrknappschaft sei jedoch in ständiger Verwaltungspraxis von der letzteren Alternative ausgegangen und habe diese Rechtsauffassung im Bescheid vom 12. Mai 1960 ausgedrückt. Der entsprechende Hinweis sei in Erfüllung der allgemeinen Betreuungs- und Aufklärungspflicht des Versicherungsträgers allen Bezieherinnen der Witwenrente formularmäßig gegeben worden. Dadurch habe sich die Ruhrknappschaft nicht dem genannten Personenkreis gegenüber mit besonderen Leistungszusagen binden wollen. Das LSG wird demnach noch eindeutige Tatsachenfeststellungen zu der Frage nachzuholen haben, ob die Rechtsvorgängerin der Beklagten die Erklärung im Bescheid vom 12. Mai 1960 bewußt abgegeben hat, oder ob es bei der Ruhrknappschaft lediglich versäumt worden ist, die entsprechende Passage im Vordruck zu streichen.

Ergeben die Feststellungen, daß es sich im Falle der Klägerin um eine Zusage (jetzt Zusicherung, vgl § 38 Verwaltungsverfahrensgesetz -VerwVfG- vom 25. Mai 1976, § 34 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - SGB 10 - vom 18. August 1980 - BGBl I, 1469) handelt, dann kann die Abfindung nicht ohne weiteres mit der Begründung abgelehnt werden, es fehle an der Rechtmäßigkeit des zugesagten Verwaltungshandelns. Grundsätzlich ist der Versicherungsträger aus Gründen des Vertrauensschutzes regelmäßig an die Zusage gebunden. Die Bindung entfällt aber dann, wenn die Zusage fehlerhaft ist und offensichtlich gegen geltendes Recht verstoßen würde (vgl BSGE 38, 50, 53), denn der Versicherungsträger kann durch die Erfüllung der Zusage nicht zu einem gesetzwidrigen Verhalten gezwungen werden (vgl BSG, Urteil vom 15. Juni 1976 - 11 RA 80/75 -; BSG in SozR 2200 § 1237 Nr 10 mwN).

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz hat der Senat jedoch bereits in der Entscheidung vom 28. Januar 1971 (aaO) jedenfalls dann anerkannt, wenn die Frage ernsthaft zweifelhaft ist, ob die durch die Zusage gewährte Leistung rechtswidrig ist oder nicht. Für die Zeit der Erteilung des Bescheides vom 12. Mai 1960 sind solche Zweifel zu bejahen.

Am Beginn der Rechtsprechung des BSG, wonach ein Anspruch auf Abfindung anläßlich einer dritten Eheschließung zu verneinen ist, steht die Entscheidung zum Kriegsopferrecht vom 28. April 1960 (BSGE 12, 127, 132). Damit waren keineswegs Zweifel über die vergleichbare Rechtslage in der gesetzlichen Rentenversicherung ausgeräumt. Insoweit kann von einer Klärung selbst im Jahre 1975, als die Klägerin die dritte Ehe schloß, noch nicht ausgegangen werden, denn am 18. Dezember 1975 hat der 12. Senat des BSG dem Großen Senat die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob einer Witwe die Abfindung des Rentenanspruchs nur bei der ersten Wiederheirat oder auch bei jeder folgenden Eheschließung zu gewähren ist. Erst die Beschlüsse des Großen Senats vom 21. Juli 1977 (BSGE 44, 151) und des BVerfG vom 1. Juli 1980 (aaO) haben die bestehenden Zweifel beseitigt. Bis dahin stand nicht fest, daß eine Zusage im Bescheid vom 12. Mai 1960 offensichtlich gegen geltendes Recht verstoßen würde (vgl BSGE 38, aaO).

Sofern der erwähnte Bescheid der Beklagten eine Zusage enthält, war der entsprechende, an die Wiederheirat der Klägerin geknüpfte Leistungsfall eingetreten, ehe die Beklagte die Zusage aufgehoben hatte und ehe die Zweifel hinsichtlich der Rechtslage beseitigt worden sind. Nun hat allerdings die Beklagte eine solche, möglicherweise abgegebene Zusage bislang noch nicht erfüllt und inzwischen steht fest, daß eine derartige Zusage gegen geltendes Recht verstößt. Sollte es darauf ankommen, wird das LSG auch zu prüfen haben, ob diese Klarstellung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung die Beklagte berechtigt, die Erfüllung einer bei Eintritt des Leistungsfalles wirksamen Zusage nun abzulehnen, etwa aus Gründen, wie sie für die Zeit ab 1. Januar 1981 in § 34 SGB 10 mit den dort genannten weiteren Vorschriften aufgeführt sind. In diesem Zusammenhang kann von Bedeutung sein, ob die Klägerin bis zur Eheschließung im April 1975 auf die Gültigkeit der Zusage vertraut hat, auch vertrauen konnte und inwieweit dieses Vertrauen jetzt noch schutzwürdig ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658341

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