Orientierungssatz
Gesetzliche Ausschlußfrist - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - keine Rückwirkung von RVO § 1247:
1. Die zur Nachprüfung rechtskräftiger oder bindend abgelehnter Leistungsanträge in Art 2 § 44 S 4 ArVNG bis zum 31. Dezember 1958 gesetzte Frist ist keine gesetzliche Verfahrensfrist, sondern eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß SGG § 67 ist daher ausgeschlossen.
2. Erwerbsunfähigkeitsrente nach RVO § 1247 kann nicht gewährt werden, wenn bereits vor 1957 Erwerbsunfähigkeit bestand.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 44 S. 4; SGG § 67; RVO § 1247 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 20.12.1961) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. Dezember 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die 1893 geborene Klägerin, die bis 1943 als Arbeiterin versicherungspflichtig beschäftigt gewesen war, hatte im Oktober 1951 die Gewährung einer Invalidenrente beantragt. Sie war damals bereits wegen Magersucht und beginnenden körperlichen Verfalls invalide. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag durch Bescheid vom 19. Juni 1952 ab, weil die Anwartschaft aus den bisherigen Beiträgen erloschen war. Es fehlten die nach § 1264 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF zur Aufrechterhaltung der Anwartschaft erforderlichen Beiträge für mindestens 26 Wochen jährlich für die Jahre 1949 und 1950. Die von der Klägerin hiergegen eingelegte Berufung wurde vom Oberversicherungsamt Aurich zurückgewiesen.
Im April 1959 beantragte die Klägerin, ihr "nach der seit dem 1. Januar 1957 in Kraft getretenen Arbeiterrentenversicherung" Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Die Beklagte sah darin einen Antrag nach Art. 2 § 44 Satz 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) auf Nachprüfung des Ablehnungsbescheides aus dem Jahre 1952. Sie lehnte ihn wegen Versäumung der Antragsfrist des Art. 2 § 44 Satz 4 ArVNG ab, weil der Überprüfungsantrag bis zum 31. Dezember 1958 hätte gestellt sein müssen.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hob den angefochtenen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte, vom 1. Januar 1957 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.
Auf die Berufung der Beklagten hin hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Klägerin habe den Antrag auf Nachprüfung des Bescheides aus dem Jahre 1952 nicht rechtzeitig gestellt. Ihr Einwand, daß sie wegen ihres Gesundheitszustandes nicht in der Lage gewesen sei, den Antrag fristgerecht zu stellen, sei unbeachtlich. Da es sich bei der versäumten Frist nicht um eine prozeßrechtliche Frist, sondern um eine gesetzliche Ausschlußfrist handele, komme eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht. Die in Art. 2 § 44 Satz 4 ArVNG vorgesehene Frist zur Stellung der Anträge auf Nachprüfung sei selbst dann am 31. Dezember 1958 abgelaufen, wenn es dem Berechtigten, ganz gleich aus welchem Grunde, überhaupt nicht möglich gewesen sei, die zur Wahrung des Rechts erforderliche Handlung fristgemäß vorzunehmen. Zu Recht habe es daher die Beklagte abgelehnt, den Bescheid vom 19. Juni 1952 daraufhin nachzuprüfen, ob die Vorschriften des ArVNG für die Klägerin günstiger seien.
Da jedoch nur der Anspruch auf Invalidenrente bindend abgelehnt worden sei, so ist das LSG fortgefahren, könne für die Klägerin noch ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 1247 RVO) in Betracht kommen; insoweit handele es sich um einen anderen Anspruch, über den die Beklagte bisher noch nicht entschieden habe. Ein derartiger Anspruch sei aber, da § 1247 RVO nicht zurückwirke, nur dann gegeben, wenn der Versicherte erst nach dem 31. Dezember 1956 erwerbsunfähig geworden sei. Wie sich aus den Fürsorgeakten des Sozialamts der Stadt Emden sowie aus der vom LSG eingeholten gutachtlichen Äußerung des behandelnden Arztes Dr. T ergebe, sei die Klägerin jedoch bereits vor dem 1. Januar 1957 infolge Schwäche ihrer körperlichen und geistigen Kräfte (spezifische Coronarerkrankung, Paralyse, Anämie und stark reduzierter Allgemeinzustand) völlig arbeitsunfähig und dauernd pflegebedürftig gewesen. Damit scheide ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 RVO aus.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt die Klägerin,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Sie rügt, die Frist des Art. 2 § 44 Satz 4 ArVNG sei - entgegen der Auffassung des LSG - eine Verfahrensfrist, gegen die im Fall ihrer Versäumung die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich sei. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei auch angebracht, weil die Klägerin an Gedächtnisschwund leide, Zeit und Ort durcheinanderwerfe und fast völlig erblindet sei. Ihre Gebrechen hätten dazu geführt, daß ihr im April 1959 ein Pfleger bestellt worden sei. Vor dessen Bestellung habe sie wegen ihres Zustandes einen Antrag nach Art. 2 § 44 ArVNG nicht stellen können. Im übrigen müsse ihr mindestens vom 1. Januar 1957 an die Erwerbsunfähigkeitsrente gewährt werden. Das Gesetz biete keinen Anhalt dafür, daß der Eintritt der Erwerbsunfähigkeit vor dem 1. Januar 1957 die Rentengewährung von diesem Zeitpunkt an hindere. Es müsse genügen, wenn der Versicherte, der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehre, die Wartezeit erfüllt habe und nach dem 1. Januar 1957 weiterhin erwerbsunfähig sei.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet.
Das LSG hat mit Recht entschieden, daß die zur Nachprüfung rechtskräftiger oder bindend abgelehnter Leistungsanträge in Art. 2 § 44 Satz 4 ArVNG bis zum 31. Dezember 1958 gesetzte und von der Klägerin nicht eingehaltene Frist keine gesetzliche Verfahrensfrist, sondern eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist ist. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG in SozR Art. 2 § 44 ArVNG Bl. Aa 4 Nr. 9). Da es sich nicht um eine gesetzliche Verfahrensfrist handelt, kann dem durch die Fristversäumung hervorgerufenen Nachteil nicht gemäß § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgeholfen werden.
Für die Entscheidung dieses Rechtsstreits kann es dahinstehen, ob etwa auf die Ausschlußfrist des Art. 2 § 44 Satz 4 ArVNG der § 206 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entsprechend anzuwenden ist. Nach dieser Vorschrift wird, wenn eine geschäftsunfähige oder in der Geschäftsfähigkeit beschränkte Person ohne gesetzlichen Vertreter ist, eine gegen sie laufende Verjährung nicht vor dem Ablauf von sechs Monaten nach dem Zeitpunkt vollendet, in welchem die Person unbeschränkt geschäftsfähig wird oder der Mangel der Vertretung aufhört. Es ist nichts ersichtlich, daß die Voraussetzungen dieser Vorschrift auf die Klägerin in den Jahren 1957/58 zutreffen könnten. Denn die Klägerin hat nur zur Führung des Rechtsstreits einen Gebrechlichkeitspfleger erhalten und das auch erst im Jahre 1959. Sie hat zwar ausgeführt, ihre Gebrechen hätten auch schon vor 1959 bestanden. Selbst wenn das zutreffen sollte, dann würde das immer noch nicht die Voraussetzungen des § 206 BGB erfüllen; die Klägerin wäre weder geschäftsunfähig noch eine in der Geschäftsfähigkeit beschränkte Person im Sinne dieser Vorschrift gewesen.
Die Beklagte hat somit den von der Klägerin gestellten Überprüfungsantrag wegen Versäumung der Antragsfrist mit Recht abgelehnt.
Das LSG hat weiter zutreffend entschieden, daß der Klägerin auch keine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zusteht. Ein solchen Anspruch setzt, weil § 1247 RVO nicht zurückwirkt, voraus, daß der Versicherte erst nach 1956 erwerbsunfähig geworden ist. Das ist bei der Klägerin nicht der Fall; sie war es bereits vor 1957, wie die Revision selbst zugibt. Gerade die Vorschriften in Art. 2 § 44 ArVNG machen es deutlich, daß eine vorher bestehende Erwerbsunfähigkeit nicht 1957 zu einem eigenen Versicherungsfall werden sollte.
Die somit unbegründete Revision ist zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen