Leitsatz (amtlich)
Ein Handwerker, der für eine "Befreiungslebensversicherung" eine Jahresprämie aufgewendet hat, ist nach HwVG § 6 Abs 3 iVm HVG §§ 3, 4 versicherungsfrei, wenn für die Lebensversicherung bei vereinbarter monatlicher Prämienzahlung eine Monatsprämie von mindestens gleicher Höhe wie der Monatsbeitrag zur Angestelltenversicherung aufzuwenden gewesen wäre.
Orientierungssatz
Zur Anwendung der Grundsätze einer "wirtschaftlichen Betrachtungsweise" in der Handwerkerversorgung.
Normenkette
HwAVG § 3 Fassung: 1938-12-21, § 4 Fassung: 1938-12-21; HwVG § 6 Abs. 3 Fassung: 1960-09-08
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. September 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin und der Beigeladenen auch deren außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin als Handwerkerin nach § 6 Abs. 3 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) in Verbindung mit §§ 3, 4 des Handwerkerversorgungsgesetzes (HVG) versicherungsfrei ist und ob insbesondere für die Beurteilung dieser Frage die im Dezember 1961 für ihre Lebensversicherung aufgewendete Jahresprämie durch 12 geteilt und der so ermittelte Betrag mit dem Monatsbeitrag zu vergleichen ist, den sie zur Rentenversicherung der Angestellten zu zahlen gehabt hätte oder ob bei diesem Vergleich der Betrag zu berücksichtigen ist, der bei monatlicher Prämienzahlung für die Lebensversicherung aufzuwenden wäre.
Die seit 1952 in die Handwerksrolle eingetragene Klägerin betreibt als selbständige Modistin einen Putzmachereibetrieb mit mehreren Beschäftigten. Mit der beigeladenen Karlsruher Lebensversicherungs-AG schloß sie am 8. Dezember 1961 einen Lebensversicherungsvertrag über eine Versicherungssumme von 10.000,- DM mit einer Laufzeit vom 1. Dezember 1961 bis zum 1. Dezember 1968 und jährlicher Prämienzahlung; die erste Jahresprämie von 1.469,- DM zahlte sie bei Aushändigung des Versicherungsscheins.
Mit Bescheid vom 16. November 1964 stellte die Beklagte fest, die Klägerin sei ab 1. Januar 1962 aufgrund des HwVG versicherungspflichtig; sie forderte die Klägerin auf, die rückständigen Beiträge ab 1. Januar 1962 bis einschließlich November 1964 und ab 1. Dezember 1964 die monatlichen Pflichtbeiträge zu entrichten; der Nachweis einer für die Befreiung von der Versicherungspflicht ausreichenden Lebensversicherung sei bisher nicht erbracht.
Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin zurück; sie habe für ihre Lebensversicherung nicht mindestens ebensoviel aufgewendet, wie sie zur Rentenversicherung der Angestellten zu zahlen gehabt hätte (§§ 3, 4 HVG); nach dem in dem maßgebenden Einkommenssteuerbescheid ausgewiesenen Gesamtbetrag der Einkünfte vor Abzug der Sonderausgaben für das Jahr 1960 in Höhe von mehr als 10.600,- DM hätte die Klägerin für Dezember 1961 einen Beitrag von 126,- DM zur Angestelltenversicherung zahlen müssen, während sie für ihre Lebensversicherung für Dezember 1961 lediglich (1469 : 12 =) 122,42 DM angewendet habe (Widerspruchsbescheid vom 22. September 1965).
Das Sozialgericht (SG) hat unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides festgestellt, daß eine Versicherungspflicht der Klägerin nach dem HwVG nicht bestehe (Urteil vom 26. April 1968).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil zurückgewiesen; es hat Satz 1 des Urteilsausspruchs des Urteils des SG folgendermaßen gefaßt:
"Der Bescheid der Beklagten vom 16. November 1964 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 1965 wird aufgehoben". Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 30. September 1968).
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 6 Abs. 3 HwVG in Verbindung mit §§ 3, 4 Abs. 1 HVG.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Urteile des Hessischen LSG vom 30. September 1968 und des SG Wiesbaden vom 26. April 1968 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 16. November 1964 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 1965 abzuweisen.
Die Klägerin und die Beigeladene beantragen,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Die Beklagte könnte nur dann zu Recht von der Klägerin Beiträge zur Handwerkerversicherung vom 1. Januar 1962 an fordern, wenn die Klägerin in der Handwerkerversicherung versicherungspflichtig (§ 1 Abs. 1 HwVG) und nicht versicherungsfrei wäre. Die Klägerin beruft sich indes mit Recht darauf, daß sie gemäß § 6 Abs. 3 HwVG seit dem 1. Januar 1962 weiterhin versicherungsfrei geblieben sei. Nach § 6 Abs. 3 HwVG bleiben Handwerker weiterhin versicherungsfrei, die vor dem Inkrafttreten des HwVG (1. Januar 1962; § 16 HwVG) aufgrund eines Versicherungsvertrages die Versicherungsfreiheit nach § 3 HVG geltend gemacht und bis zum Inkrafttreten des HwVG die Voraussetzungen des § 3 HVG erfüllt haben. Das Recht der Versicherungsfreiheit (§ 4 HVG) stand solchen Handwerkern zu, die mit einer öffentlichen oder privaten Lebensversicherungsunternehmung für sich und ihre Hinterbliebenen einen Versicherungsvertrag für den Fall des Todes und des Erlebens des fünfundsechzigsten oder eines niedrigeren Lebensjahres abgeschlossen hatten (§ 3 HVG). Der in § 3 HVG in Bezug genommene § 4 HVG bestimmte, daß Handwerker versicherungsfrei waren, wenn und solange sie für ihre Lebensversicherung (§ 3 HVG) mindestens ebensoviel aufwendeten, wie sie zur Rentenversicherung der Angestellten zu zahlen gehabt hätten (Abs. 1 aaO); die Versicherungsfreiheit begann mit dem Kalendermonat, in dem der Lebensversicherungsvertrag abgeschlossen worden war (Abs. 3 aaO).
Daß die Klägerin aufgrund des mit der beigeladenen Karlsruher Lebensversicherungs-AG am 8. Dezember 1961 mit jährlicher Prämienzahlung abgeschlossenen Lebensversicherungsvertrages über eine Versicherungssumme von 10.000,- DM und einer Laufzeit vom 1. Dezember 1961 bis zum 1. Dezember 1968 in der Handwerkerversicherung gemäß § 6 Abs. 3 HwVG in Verbindung mit §§ 3, 4 HVG versicherungsfrei sein könnte, glaubt die Beklagte damit in Abrede stellen zu können, daß die Klägerin monatlich nicht mindestens so viel an Prämie für ihre Lebensversicherung aufwende, wie sie zur Rentenversicherung der Angestellten zu zahlen gehabt hätte (§ 4 Abs. 1 HVG). Die Beklagte hält die von der Klägerin für ihren Lebensversicherungsvertrag aufgewendete Jahresprämie von 1.469,- DM zur Ablösung der Versicherungspflicht deshalb für unzureichend, weil die Klägerin nach ihren im Einkommensbescheid ausgewiesenen Einkünften vor Abzug der Sonderausgaben für das Jahr 1960 von mehr als 10.600,- DM für Dezember 1961 einen Monatsbeitrag von 126,- DM zur Angestelltenversicherung hätte zahlen müssen, während sie für ihre Lebensversicherung bei der Umrechnung der Jahresprämie von 1.469,- DM auf eine monatliche Prämie im Dezember 1961 lediglich (1.469 : 12 =) 122,42 DM aufgewendet habe.
Mit Recht sind bereits beide Vorinstanzen dieser Auffassung entgegengetreten. Die rein rechnerische Betrachtung der Beklagten wird dem Fall nicht gerecht. Es ist zwar zutreffend, daß die Klägerin im Dezember 1961 als Monatsbeitrag zur Angestelltenversicherung 126,- DM zu zahlen gehabt hätte. Jedoch ist in § 4 HVG kein Anhalt dafür zu finden, daß bei dem nach dieser Vorschrift gebotenen Vergleich zwischen dem an sich zu zahlenden Beitrag zur Angestelltenversicherung und den Aufwendungen für einen Lebensversicherungsvertrag, um diese Aufwendungen zu ermitteln, die von der Beklagten angewendete Zwölftelung der Jahresprämie vorgenommen werden muß. Das Gesetz hat nicht geregelt, in welchen Zeitabschnitten die Prämien für den Befreiungslebensversicherungsvertrag zu entrichten sind. Es hat dies vielmehr den Vertragsteilen, also dem Handwerker als Versicherungsnehmer und dem Versicherer, jeweils überlassen. Die Beigeladene erhebt - wie in der Versicherungswirtschaft allgemein üblich bei unterjähriger Zahlungsweise, also auch bei monatlichen Prämienzahlungen, Ratenzuschläge. Der Versicherungsnehmer hat die Wahl, die Prämie als Jahresprämie oder aber in Raten, deren kleinste die Monatsrate ist, zu entrichten. Die Jahresprämie muß er im Voraus und damit unter Verlust der Zinsen entrichten, die bei vereinbarter monatlicher Prämienzahlung für die erst später fällig werdenden Folgeprämien angefallen wären. Umgekehrt hat er bei vereinbarter monatlicher Ratenzahlung dem Versicherer den Zinsverlust des Versicherers durch Ratenzuschläge auszugleichen, so daß dem Grunde nach beide Zahlungsweisen wirtschaftlich gleichzustellen sind.
Die wirtschaftliche Betrachtungsweise, auf die es zutreffend die Vorinstanzen abgehoben haben, ist dem Recht der Handwerkerversorgung nicht fremd gewesen. Im Gegenteil hat dieser Gedanke für den Fall, daß die Prämie für einen Lebensversicherungsvertrag durch eine einmalige Zahlung von entsprechender Höhe abgelöst worden ist, in § 14 Abs.1 der Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk vom 13. Juli 1939 (RGBl I 1255) seinen Niederschlag gefunden. Nach dieser Vorschrift wurden Versicherungsfreiheit oder Halbversicherung nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Prämie durch eine einmalige Zahlung von entsprechender Höhe abgelöst wurde (Abs. 1 Satz 1 aaO). Voraussetzung war, daß die einmalige Zahlung zur Versicherung eines Kapitals oder einer Rente ausreichte, die sich bei laufender Zahlung der nach § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 1 HVG erforderlichen Prämie ergeben haben würde (Abs. 1 Satz 2 aaO). Wenn schon bei einer einmaligen Prämienzahlung für eine Lebensversicherung auf diese Weise die wirtschaftliche Betrachtung entscheidend gewesen ist, ist kein Grund dafür ersichtlich, von dieser wirtschaftlichen Betrachtungsweise dann keinen Gebrauch zu machen, wenn Jahresprämien aufgewendet wurden.
Auf den Fall der Klägerin übertragen, bedeutet das: Entweder hatte die Klägerin der Beigeladenen als Jahresprämie 1.469,- DM oder 12 Monatsprämien zu je 128,54 DM zu zahlen. Der Versicherungsschutz war bei beiden Zahlungsweisen derselbe. Da das Gesetz die Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten als Monatsbeiträge festgelegt hat, der notwendige Vergleich also von dem Monat als Zeiteinheit auszugehen hat, ist auch bei der Gegenüberstellung mit den Prämienaufwendungen dieselbe Zeiteinheit zu beachten. Es ist darum auch zulässig, die vom Lebensversicherer tarifmäßig ausgewiesene monatliche Prämie einzusetzen, und zwar auch dann, wenn diese Zahlungsweise tatsächlich nicht vereinbart worden ist und auch nicht geübt wird, dafür aber eine Prämienentrichtung in größeren Zeiträumen von 3 und 6 Monaten oder - wie hier - von einem Jahr gewählt worden ist (im Ergebnis ebenso: Heyn, Die Handwerkerversicherung, Berufskunde des Handwerkers, Heft 15; Möller, Lebensversicherung und Altersversorgung für das Deutsche Handwerk, Juristische Rundschau für die Privatversicherung 1939, 18 f; Entschließung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge - IV/4000st/73/64 - vom 26. Mai 1964; Bescheid der LVA Niederbayern-Oberpfalz - III HwV 070522 - vom 22. Juni 1966; a.M.: Verbandskomm., HwVG, § 6 Anm. 3 b; Haaß-Glanzmann, HVG, 1939, § 4 Anm. 15; SG Landshut, Urteil vom 6. Dezember 1963, Rsprdienst 4400 §§ 1-14 HwVG C).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen