Leitsatz (amtlich)
Besuchsfahrten eines in die Hausgemeinschaft des Arbeitgebers aufgenommenen ledigen Versicherten zu den Eltern stehen unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn der Versicherte seine Familienwohnung bei den Eltern beibehalten hat. Bei einem minderjährigen Versicherten trifft dies jedenfalls dann zu, wenn er seine Freizeit regelmäßig bei den Eltern verbringt und keine Anhaltspunkte dafür gegeben sind, daß die Bindung an die Eltern eine Lockerung erfahren und er einen neuen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen gefunden hat.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09, S. 2 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Januar 1955 wird in den Ziffern 1 und 2 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 24. März 1954 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten beider Rechtsmittelinstanzen zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die im Januar 1934 geborene Klägerin war seit April 1950 in einem Fremdenheim in Fischen/Allgäu als Hausgehilfin bei freier Wohnung, Verpflegung und Wäsche beschäftigt. Neben Barlohn erhielt sie gelegentlich (zu Weihnachten und an Geburtstagen) Geschenke. Sie war in Fischen polizeilich gemeldet. Ihre dienstfreie Zeit an Nachmittagen und Abenden verbrachte sie regelmäßig bei ihrer Mutter, die wenige Kilometer von Fischen entfernt in dem zur Gemeinde Ofterschwang (Kreis Sonthofen) gehörenden Hüttenberg eine aus Küche und Schlafraum bestehende Untermietwohnung innehatte. Anläßlich ihrer Besuche bei der Mutter pflegte sie dort auch zu übernachten. Am Sonntag, dem 7. Dezember 1952, hatte die Klägerin von mittags an dienstfrei. In der gewohnten Weise fuhr sie alsbald nach Arbeitsschluß mit dem Omnibus zum Besuch ihrer Mutter, stieg an der Haltestelle S. aus und wollte vor dem haltenden Omnibus die Straße überqueren. Dabei wurde sie von einem vorbeifahrenden Kraftwagen erfaßt und erheblich verletzt. Sie erlitt insbesondere einen Arm- und Unterschenkelbruch sowie eine Gehirnerschütterung und bedurfte deswegen einer längeren Behandlung im Krankenhaus. Infolge des Unfalls verlor sie ihre Stellung in dem Fremdenheim; seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus lebt sie ständig bei ihrer Mutter in Hüttenberg.
Die Beklagte hat durch Bescheid vom 10. Juli 1953 abgelehnt, die Klägerin aus Anlaß dieses Unfalls zu entschädigen, da die Wohnung in dem Fremdenheim in Fischen der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Klägerin gewesen und demzufolge die Besuchsfahrt zu ihrer Mutter nach Hüttenberg ihrem privaten Lebensbereich zuzurechnen sei.
Auf die beim Oberversicherungsamt Augsburg eingelegte Berufung der Klägerin hat das Sozialgericht (SG.) Augsburg, auf das die Sache nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gemäß § 215 Abs. 2 SGG übergegangen war, durch Urteil vom 24. März 1954 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 7. Dezember 1952 zu entschädigen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG. ausgeführt: Die Klägerin habe ihre Familienwohnung bei ihrer Mutter in Hüttenberg während der Zeit ihrer Beschäftigung in Fischen beibehalten. Dies folge daraus, daß sie zur Zeit des Unfalls erst 18 Jahre alt, also noch jugendlich gewesen sei, ihre von Fischen nicht weit entfernt wohnende Mutter an arbeitsfreien Tagen regelmäßig besucht habe und nach dem Unfall wieder ständig zu ihr gezogen sei. Ihre Unterbringung in Fischen sei durch die Art ihrer Beschäftigung bedingt gewesen, und ihre polizeiliche Meldung am Dienstort entspreche den Meldevorschriften. Die Besuchsfahrt zu ihrer Mutter sei daher als versicherter Weg zur Familienwohnung anzusehen.
Mit der Berufung zum Landessozialgericht (LSG.) hat die Beklagte geltend gemacht, die Klägerin sei in die häusliche Gemeinschaft ihrer Arbeitgeberin in Fischen aufgenommen gewesen und habe deshalb dort den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen gehabt. Demgegenüber hat die Klägerin sich darauf berufen, daß sie gemäß § 11 BGB den Wohnsitz ihrer Mutter geteilt habe, und ferner darauf hingewiesen, daß Angestellte in Fremdenheimen und Hotels wegen des häufigen Wechsels ihrer Stellung regelmäßig ein Zuhause hätten, zu dem sie insbesondere in jugendlichem Alter immer wieder zurückkehren.
Das LSG. hat durch Urteil vom 27. Januar 1955 die Entscheidung des SG. aufgehoben, die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat ausgeführt: Bei ledigen Versicherten hänge die Bestimmung des Mittelpunktes der Lebensverhältnisse von den Umständen des Einzelfalles ab. Hausgehilfinnen, die in die häusliche Gemeinschaft ihrer Dienstgeber aufgenommen seien, hätten an diesem Ort in der Regel auch ihre Wohnung. Nur wenn ihre Beschäftigung von vornherein und ersichtlich als vorübergehend und kurzfristig beabsichtigt sei, könne angenommen werden, daß sie ihre Familienwohnung bei den Eltern aufrechterhalten hätten. Die mehr als 2 1/2-jährige auswärtige Beschäftigungszeit der in die häusliche Gemeinschaft ihrer Dienstgeberin aufgenommenen Klägerin deute jedoch auf eine unbefristete Dienststellung in Fischen hin. Deshalb sei ihre Fahrt zur Mutter während ihrer Freizeit kein versicherter Weg zur Familienwohnung gewesen. Daß die Klägerin nach dem Unfall ständig zu ihrer Mutter gezogen ist, sei für die rechtliche Beurteilung ebenso unerheblich wie die Frage, ob sie als minderjährige Tochter gemäß § 11 BGB den Wohnsitz ihrer Mutter geteilt habe. Das verständliche Bedürfnis eines am Beschäftigungsort wohnenden jungen Mädchens, die Mutter, zu der es sich hingezogen fühle, häufig zu besuchen, ändere nichts daran, daß der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse auf den Wohnort bei der Dienstherrschaft übergegangen sei.
Das Urteil ist der Klägerin am 8. März 1955 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 24. März 1955 Revision eingelegt und diese am 22. April 1955 begründet. Sie ist der Auffassung, daß eine minderjährige Tochter auf dem Wege von der Arbeitsstätte zur Wohnung ihrer Mutter, die sie während der arbeitsfreien Zeit ständig aufsuche, Versicherungsschutz genieße.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Unfall vom 7. Dezember 1952 zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie nimmt auf die Begründung des klagabweisenden Berufungsurteils Bezug und verweist auf Rechtsprechung und Schrifttum.
II.
Die vom LSG. zugelassene Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Die Revision ist auch begründet.
Das LSG. ist mit Recht davon ausgegangen, daß für die Entscheidung der Frage, ob die Klägerin auf dem von ihr am 7. Dezember 1952 zum Besuch ihrer Mutter zurückgelegten Weg unter Versicherungsschutz gestanden hat, nicht § 543 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO), sondern § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO in Betracht kommt. Nach dieser Vorschrift schließt der Umstand, daß der Versicherte wegen der Entfernung seiner ständigen Familienwohnung von der Arbeitsstätte (Ausbildungsstätte) auf dieser oder in ihrer Nähe eine Unterkunft hat, die Versicherung des Weges von und nach der Familienwohnung nicht aus. Die Anwendbarkeit dieser Vorschrift setzt voraus, daß es sich bei dem Ziel der Fahrt oder dem Ausgangspunkt der Rückfahrt um die "Familienwohnung" handelt (BSG. 1 S. 171 (173) und 2 S. 78 (80)). Nach den in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA.) zu diesem Begriff entwickelten und vom erkennenden Senat in den angeführten Entscheidungen gebilligten Grundsätzen muß die Wohnung den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bilden. Im vorliegenden Streitfalle hängt also die Entscheidung davon ab, ob die Klägerin, als sie den Unfall erlitt, den Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse in ihrer Unterkunft bei der Dienstherrin in Fischen oder in der Wohnung ihrer Mutter in Hüttenberg hatte. Die Ansicht des Vorderrichters, Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Klägerin sei ihre Unterkunft auf der Arbeitsstätte gewesen, wird durch die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht gerechtfertigt. Der vom Vorderrichter für maßgeblich erachtete Gesichtspunkt der Dauerbeschäftigung der Klägerin, der aus der Tatsache ihrer 2 1/2-jährigen und nur durch den Unfall beendeten Beschäftigung in dem Fremdenheim hergeleitet wird, darf nicht für sich allein gewertet werden. Wohl trifft es nach der Lebenserfahrung zu, daß ledige Arbeitnehmer, die auswärts beschäftigt und am Ort ihrer Tätigkeit untergebracht werden, sich in meist stärkerem Maße vom Elternhaus lösen, als dies im Regelfalle bei Versicherten mit eigenem Hausstand der Fall zu sein pflegt. Zu einer solchen Lösung mag es auch leichter kommen, wenn sich ledige Arbeitnehmer in einem länger dauernden, ihre persönliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit stärkenden Arbeitsverhältnis befinden. Es muß jedoch auch berücksichtigt werden, ob und in welchem Maße der Versicherte trotz seiner auswärtigen Unterbringung die innere Verbundenheit mit der elterlichen oder dieser entsprechenden Wohnung beibehält. In dieser Hinsicht hat der Senat als bedeutsam angesehen, daß die Klägerin erst 16 Jahre alt war, als sie ihre Mutter verließ, daß ihr Beschäftigungsort nur wenige Kilometer von Hüttenberg entfernt war und daß sie ihre Freizeit regelmäßig bei ihrer Mutter verbrachte. Diese Umstände sprechen dafür, daß der Antritt ihrer Beschäftigung in Fischen für die Klägerin keine Verlagerung des Mittelpunktes ihrer Lebensinteressen bedeutete. Die von der Vorinstanz getroffenen Feststellungen ergeben auch keinen Anhalt für die Annahme, daß sich die innere Verbundenheit der aus ländlichen Verhältnissen stammenden Klägerin mit ihrer Mutter etwa im Laufe ihrer Beschäftigungszeit in Fischen gelockert habe und die Klägerin mehr und mehr eigene Wege gegangen sei. Bei ihrer Jugend entsprach es einem verständlichen Bedürfnis nach einem Halt, den sie in der Sorgebereitschaft ihrer Mutter sah, und auch dem natürlichen Verlauf der Dinge, daß sie die enge Verbindung mit ihrer Mutter vor allem durch regelmäßige Besuche während ihrer dienstfreien Zeit aufrechterhielt. Die Fahrten zur Mutter können nicht als gelegentliche Verwandtenbesuche ohne rechtliche Bedeutung angesehen werden, sondern sind bei natürlicher Betrachtungsweise als Fahrten "nach Hause" zu werten. Wenn das LSG. in der Aufrechterhaltung der Bindung an ihre Mutter nur einen psychologischen Vorgang erblickt, der zwar Beweggrund für ihre häufigen Besuche bei der Mutter gewesen, für die Frage des Wohnorts aber bedeutungslos sei, so verkennt es, daß es sich bei der "Familienwohnung" um einen Begriff handelt, der weitgehend von psychologischen Merkmalen mitbestimmt wird. Da nach alledem keine Anhaltspunkte dafür gegeben sind, daß die Bindung der Klägerin an ihre Mutter während der Zeit ihrer auswärtigen Beschäftigung eine Lockerung erfahren und sie einen neuen Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse am Beschäftigungsort gefunden habe, ist entgegen der Auffassung des LSG. anzunehmen, daß die Klägerin ihre Familienwohnung am Wohnort ihrer Mutter beibehalten und am Ort ihrer auswärtigen Beschäftigung in Fischen nur eine Unterkunft im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO innegehabt hat. Dem Umstand, daß die Klägerin in Fischen polizeilich gemeldet war, haben beide Vorinstanzen mit Recht keine Bedeutung für die Frage nach dem Ort der Familienwohnung beigemessen. Die vom Senat vertretene Auffassung deckt sich mit einer Entscheidung des RVA., daß ein 18-jähriger Schmiedelehrling, der in die häusliche Gemeinschaft des Lehrherrn aufgenommen war und an jedem Wochenende zu seinen Eltern zurückkehrte, seine Familienwohnung bei den Eltern gehabt habe (EuM. 47 S. 419).
Die Klägerin hat somit den Unfall vom 7. Dezember 1952 auf dem Wege zur Familienwohnung erlitten. Dieser Weg stand unter Versicherungsschutz, da auch, wie von keinem Beteiligten bezweifelt wird, die sonstigen Voraussetzungen des § 543 Abs. 1 RVO gegeben sind. Der Unfall der Klägerin war daher im Gegensatz zur Ansicht des Vorderrichters ein Arbeitsunfall. Da sonach die angefochtene Entscheidung auf einer unrichtigen Anwendung der angeführten Vorschrift beruht, ist die Revision begründet.
Gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG hatte der Senat unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung in der Sache selbst zu entscheiden. Bei der von dem Vorderrichter festgestellten Art und Schwere der Verletzungen der Klägerin bestehen keine Zweifel, daß die Folgen des Unfalls die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in einem Grade beeinträchtigt haben, der zur Gewährung einer Rente berechtigt. Das SG., das zutreffend davon ausgegangen ist, daß von der Klägerin ein Anspruch auf Leistung gemäß § 54 Abs. 4 SGG erhoben ist, hat daher den Entschädigungsanspruch der Klägerin gemäß § 130 Satz 1 SGG zu Recht dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Da dem SG. noch keine ärztlichen Gutachten über den Grad der auf den Unfall zurückzuführenden Minderung der Erwerbsfähigkeit vorgelegen haben, waren die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlaß eines Grundurteils gegeben. Demzufolge war die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.
Fundstellen