Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragsanrechnung. zwischenstaatliches Abkommen
Leitsatz (redaktionell)
SVAbk 2 AUT Art 4 Abs 1 erfaßt auch die Personen, die am 11.7.1953 die deutsche und die österreichische Staatsangehörigkeit besessen haben; es fehlt jeder Anhalt dafür, daß sie von der Anwendung des Art 4 ausgenommen sein sollten. Auch zwischenstaatliche Abkommen sind nicht immer "streng formal nach dem Wortlaut" auszulegen. Der Wortlaut (entweder - oder) ist hier erkennbar mißverständlich; nach dem Willen der Vertragspartner sollte es auf die Staatsangehörigkeit zum einen oder anderen Vertragsstaat nicht ankommen; deshalb darf die Staatsangehörigkeit auch dann keine Rolle spielen, wenn eine Person am 11.7.1953 sowohl die deutsche als auch die österreichische Staatsangehörigkeit besessen hat.
Orientierungssatz
1. Wenn ein für die Bundesrepublik Deutschland wirksames Sozialversicherungsabkommen Versicherungszeiten der Versicherungslast eines anderen Staates zugeordnet hat, dann können diese Versicherungszeiten nach keiner innerstaatlichen Vorschrift der Bundesrepublik mehr als Versicherungszeiten behandelt und honoriert werden (vg BSG 1965-05-25 1 RA 251/62 = BSGE 23, 74).
2. Der Wortlaut des SVAbk AUT 2 Art 4 Abs 1 ist erkennbar mißverständlich; nach dem Willen der Vertragspartner sollte es auf die Staatsangehörigkeit zum einen oder anderen Vertragsstaat nicht ankommen; deshalb darf die Staatsangehörigkeit auch dann keine Rolle spielen, wenn eine Person am 11.7.1953 sowohl die deutsche als auch die österreichische Staatsangehörigkeit besessen hat.
Normenkette
SVAbk AUT 2 Art. 4 Abs. 1 Nr. 2, Art. 5
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 24.10.1963) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. Oktober 1963 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger begehrt von der Beklagten eine Rente. Er war als kaufmännischer Angestellter von 1919 bis April 1945 in M (CSR) und von Dezember 1945 bis November 1947 in L (Österreich) versicherungspflichtig beschäftigt. Am 31. Oktober 1953 verzog er von Österreich, wo er sich bis dahin aufgehalten hatte, nach F.
Den ersten, im Januar 1954 gestellten Antrag gab die Beklagte an die Angestelltenversicherungsanstalt W ab; diese bewilligte dem Kläger aus den seit 1919 zurückgelegten Versicherungszeiten ab Januar 1953 ein Ruhegeld wegen (seit November 1947 bestehender) Berufsunfähigkeit.
Im Juli 1958 beantragte der Kläger bei der Beklagten erneut die Zahlung einer Rente. Die Beklagte lehnte das durch Bescheid vom 11. November 1958 ab, weil die Versicherungszeiten des Klägers auf Grund der mit Österreich geschlossenen Sozialversicherungsabkommen (SV-Abkommen) zur österreichischen Versicherungslast gehörten. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) ordnete ebenfalls die in Mährisch-Ostrau zurückgelegten Versicherungszeiten auf Grund des 2. SV-Abkommens mit Österreich vom 11. Juli 1953 (BGBl 1954 II, 773 - Art. 4 Abs. 1 Nr. 2, Art. 5) der österreichischen Versicherungslast zu (für die in Linz zurückgelegten Versicherungszeiten ist das nicht streitig). Am Tage der Unterzeichnung des Abkommens - 11. Juli 1953 - habe sich der Kläger nämlich "nicht nur vorübergehend" in Österreich aufgehalten; es sei unerheblich, ob er damals schon nach Deutschland habe übersiedeln wollen; ebensowenig komme es darauf an, ob er am 11. Juli 1953 die deutsche und die österreichische Staatsangehörigkeit besessen habe. Infolge der Zuordnung der Versicherungszeiten zur österreichischen Versicherungslast könne der Kläger keine Leistungen nach dem deutschen Fremdrentenrecht (FAG vom 7. August 1953, FRG vom 25. Februar 1960) erhalten.
Mit der zugelassenen Revision beantragte der Kläger,
die ergangenen Entscheidungen aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung einer Erwerbsunfähigkeitsrente ab Januar 1954 zu verurteilen,
hilfsweise ,
die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Er rügte die Verletzung des Fremdrenten- und des Abkommensrechts. Vorschriften des Fremdrentenrechts - § 1 FAG, §§ 1, 17 FRG - seien auf ihn nicht anwendbar. Das gleiche gelte für Art. 4 Abs. 1 des 2. SV-Abkommens; davon würden nur Personen betroffen, die " entweder die deutsche oder die österreichische" Staatsangehörigkeit besitzen; im übrigen habe das LSG auch den Begriff des nicht nur vorübergehenden Aufenthalts falsch ausgelegt und angewandt.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG), aber unbegründet. Das Urteil des LSG entspricht im Ergebnis der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), von der abzuweichen der Senat keinen Anlaß sieht (vgl. BSG 18, 113; 21, 91; 23, 74 sowie die nicht veröffentlichten, den Beteiligten bekannten Urteile des 1. Senats vom 19. November 1965, 1 RA 154/62 und vom 16. Februar 1966, 1 RA 253/63 und das Urteil des 4. Senats vom 30. November 1965, 4 RJ 55/63). Die Einwände des Klägers gegen das Urteil des LSG greifen daher nicht durch.
Für die Entscheidung des Rechtsstreits ist es ohne Bedeutung, ob der Kläger ohne die Zuordnung seiner Versicherungszeiten zur österreichischen Versicherungslast Ansprüche nach dem Fremdrentenrecht oder nach den allgemeinen versicherungsrechtlichen Vorschriften der Bundesrepublik hätte. Denn das 2. SV-Abkommen mit Österreich geht nicht nur dem Fremdrentenrecht, sondern auch den allgemeinen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts vor. Wenn ein für die Bundesrepublik Deutschland wirksames Sozialversicherungsabkommen Versicherungszeiten der Versicherungslast eines anderen Staates zugeordnet hat, dann können diese Versicherungszeiten nach keiner innerstaatlichen Vorschrift der Bundesrepublik mehr als Versicherungszeiten behandelt und honoriert werden (BSG 18, 113; 23, 74).
Zu Recht hat das LSG angenommen, daß die in Mährisch-Ostrau zurückgelegten Versicherungszeiten auf Grund der Art. 4 Abs. 1 Nr. 2, Art. 5 des 2. SV-Abkommens mit Österreich in die österreichische Versicherungslast gefallen sind. Nach Art. 4 Abs. 1 (vgl. den Schluß des Absatzes) ist die Übernahme der dort genannten Anwartschaften (= Beitragszeiten, vgl. Art. 9 Abs. 2) in die österreichische Versicherungslast davon abhängig, daß die berechtigten Personen sich am 11. Juli 1953 "im Gebiet der Republik Österreich nicht nur vorübergehend aufhalten und in diesem Zeitpunkt entweder die deutsche Staatsangehörigkeit oder die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen" (bzw. - was hier nicht in Betracht kommt - als Volksdeutsche im Sinne dieses Artikels anzusehen sind). Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG.
Art. 4 Abs. 1 erfaßt auch die Personen, die am 11. Juli 1953 die deutsche und die österreichische Staatsangehörigkeit besessen haben; es fehlt jeder Anhalt dafür, daß sie von der Anwendung des Artikels ausgenommen sein sollten. Auch zwischenstaatliche Abkommen sind nicht immer "streng formal nach dem Wortlaut" auszulegen. Der Wortlaut (entweder - oder) ist hier erkennbar mißverständlich; nach dem Willen der Vertragspartner sollte es auf die Staatsangehörigkeit zum einen oder anderen Vertragsstaat nicht ankommen; deshalb darf die Staatsangehörigkeit auch dann keine Rolle spielen, wenn eine Person am 11. Juli 1953 sowohl die deutsche als auch die österreichische Staatsangehörigkeit besessen hat.
Mit dem weiteren Tatbestandsmerkmal des nicht nur vorübergehenden Aufenthalts hat sich das BSG schon eingehend befaßt (BSG 21, 91 und die Urteile vom 19. November 1965 und 16. Februar 1966). Hierzu hat der 1. Senat des BSG zutreffend dargelegt, daß nicht nur das übliche Begriffsverständnis, sondern gerade der Sinn und Zweck der Stichtagsregelung - nämlich die Verteilung der Lasten nach klaren Merkmalen - es gebieten, beider Auslegung des Begriffs "nicht nur vorübergehender Aufenthalt" subjektive, meist schwer zu klärende Umstände weitgehend unberücksichtigt zu lassen und vornehmlich auf objektive Merkmale, also insbesondere die Dauer des tatsächlichen Verweilens abzustellen. Dementsprechend hat der 1. Senat eine Verweildauer von mehreren Jahren (es handelte sich um 7 bzw 8 Jahre) zur Annahme eines nicht nur vorübergehenden Aufenthalts genügen lassen; bei einer solchen Verweildauer spiele es keine Rolle, ob und wann der Berechtigte beabsichtigt habe, Österreich zu verlassen und ob und wodurch er hieran gehindert worden sei; in dem Urteil vom 19. November 1965 wurde ferner wiederholten Besuchen wie auch einer zusätzlichen polizeilichen Anmeldung in der Bundesrepublik keine Bedeutung beigemessen. Mit diesen vom erkennenden Senat gebilligten Grundsätzen steht das angefochtene Urteil im Einklang. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger von 1945 bis Oktober 1953 in Österreich gelebt hat; am Stichtag (11. Juli 1953) hat er sich danach rund 8 Jahre in Österreich aufgehalten. Dies genügt für die Schlußfolgerung, daß der Kläger sich am 11. Juli 1953 nicht nur vorübergehend in Österreich aufgehalten hat. Angesichts dieser Verweildauer ist es unerheblich, daß der Kläger schon vor dem 11. Juli 1953 in die Bundesrepublik übersiedeln wollte und bereits eine Wohnung beschafft hatte, aber krank und transportunfähig geworden war, und daß er deshalb die Übersiedlung bis zum 31. Oktober 1953 verschieben mußte.
Da die bis 1945 in M zurückgelegten Versicherungszeiten somit auf Grund des 2. SV-Abkommens in die österreichische Versicherungslast gefallen sind und sich hieran auch später durch den deutsch-österreichischen Finanz- und Ausgleichsvertrag vom 27. November 1961 nichts geändert hat (vgl. die Urteile des 1. Senats vom 19. November 1965 und 16. Februar 1966), kann der Kläger keine Leistungen von der Beklagten verlangen. Seine Revision ist deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des SGG.
Fundstellen