Leitsatz (amtlich)

Übt ein selbständiger Gewerbetreibender, der außerdem als Arbeitnehmer tätig zu sein pflegt (Doppelberufler), zwar kein Voll-Gewerbe aus, aber eine gewerbliche Tätigkeit, die über ein Nebenher-Gewerbe hinausgeht, so ist er arbeitslos, wenn er dem Arbeitsmarkt mehr als zur Hälfte zur Verfügung steht.

 

Normenkette

AVAVG § 87; AVAVG 1927 § 87; AVAVG § 87a; AVAVG 1927 § 87a

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. Oktober 1955 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

Die Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts des Klägers vor dem Bundessozialgericht wird auf 90.- DM festgesetzt.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Der Kläger wurde durch Erbfolge im Jahre 1940 mit seinem Bruder Miteigentümer einer Gastwirtschaft in H. a. d. Nahe. Die Gastwirtschaft ist im Kopf eines Geschäftsbriefbogens als Gaststätte und Schnapsbrennerei mit schönem geräumigem Saal und Parkett-Kegelbahn bezeichnet. Seit dem 26. September 1943 ist der Kläger alleiniger Konzessionsträger und seit dem 1. April 1954 alleiniger Inhaber des Betriebes. Nach seiner Angabe hat sich seine Frau tagsüber in der Gastwirtschaft betätigt, während er selbst zumeist als Steinbruchsarbeiter beschäftigt war, nach seinen Angaben seit 20 Jahren. Sein Antrag auf Arbeitslosenunterstützung (Alu) vom 17. Januar 1951 wurde vom Arbeitsamt Bad Kreuznach, sein Einspruch vom Spruchausschuß abgelehnt, da er als selbständiger Gewerbetreibender nach § 87a Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) nicht arbeitslos sei. Seine Berufung an die Spruchkammer hat er damals zurückgezogen.

Am 7. November 1953 meldete er sich auf Grund einer Beschäftigung vom 5. Mai 1952 bis zum 5. Februar 1953 erneut arbeitslos. Dabei gab er an, daß die Gastwirtschaft verpachtet sei. Deshalb wurde ihm Alu vom 15. Februar 1953 an für 120 Unterstützungstage bewilligt.

Nach weiterer Arbeitslosmeldung am 6. Januar 1954, bei welcher der Kläger eine Beschäftigungszeit vom 4. März 1953 bis zum 5. Januar 1954 als Steinbruchsarbeiter bei den Kirner Hartsteinwerken nachwies, wurde durch Verfügung des Arbeitsamtes vom 25. Januar 1954 die Alu nach § 87a Abs. 1 Satz 1 AVAVG abgelehnt, da er mit seinem Bruder die Gastwirtschaft wieder betreibe und dabei nach seiner Angabe ein Umsatz von 13.634.- DM im Jahre 1953 erzielt worden sei. Am 22. Januar 1954 teilte er dem Arbeitsamt mit, daß er die Gastwirtschaft am 1. Januar 1954 seiner Frau übertragen habe. Der Aufforderung des Arbeitsamtes, eine amtliche Bescheinigung darüber vorzulegen, kam der Kläger weder jetzt noch später nach. Sein Einspruch, in dem er darauf hinwies, daß die Gastwirtschaft ihm nur zur Hälfte gehöre und von seiner Frau und der Frau seines ebenfalls berufstätigen Bruders versorgt würde, wurde durch Bescheid der Widerspruchsstelle vom 16. März 1954 ebenfalls gemäß § 87a Abs. 1 Satz 1 AVAVG zurückgewiesen. Dabei wurde zugrunde gelegt, daß bei einem Reingewinn von 25 v.H. von 13.634.- DM das Einkommen aus der Gastwirtschaft monatlich 284.- DM betrage, somit auf den Kläger 142.- DM entfielen und hiernach "die Geringfügigkeit gemäß § 75a Abs. 2" überschritten werde.

Durch den Ermittlungsdienst des Arbeitsamtes wurde festgestellt, daß die Gastwirtschaft vom 1. Februar 1952 bis zum 15. März 1953 zu einem Pachtpreis von 300.- DM monatlich verpachtet worden war, von dem jeder Bruder die Hälfte erhielt. Durch Verfügung des Arbeitsamtes vom 20. März 1954 wurde dem Kläger, weil er den Besitz der Gastwirtschaft "verschwiegen" habe, die Alu für die Zeit vom 15. Februar bis zum 3. März 1953 entzogen und er gemäß § 177 AVAVG zur Rückzahlung des überhobenen Unterstützungsbetrags aufgefordert.

II. Gegen den Bescheid der Widerspruchsstelle erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG.) Koblenz. Er wandte sich gegen die Auffassung, daß das Einkommen aus dem Gewerbebetrieb maßgebend berücksichtigt werden müsse. Im übrigen betrage der Reingewinn nicht 25 v.H., da die Gastwirtschaft auf Kosten der Brauerei nach dem Kriege wieder in einen ordentlichen Zustand gebracht worden sei und der Nettogewinn sich demgemäß je Hektoliter verringere. Die Beklagte wies darauf hin, daß der Kläger seit 26. September 1953 alleiniger Inhaber sei und ihm somit das Einkommen hieraus allein zufließe, so daß es weit höher sei als zum Zeitpunkt der ersten Ablehnung der Alu.

Das SG. hob mit Urteil vom 27. September 1954 den Widerspruchsbescheid auf und verurteilte die Beklagte dem Grunde nach, dem Kläger auf die Arbeitslosmeldung vom 6. Januar 1954 Alu zu gewähren. Der Kläger sei seit Jahren in unselbständiger Beschäftigung tätig gewesen und stelle sich auch weiterhin ohne Einschränkung dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Der Umstand, daß jemand Inhaber eines Gewerbes sei, schließe nicht in jedem Fall die Arbeitslosigkeit aus, zumal - wie hier - die Ehefrau die Gastwirtschaft besorge. Die Höhe des Einkommens sei nicht zu berücksichtigen, soweit daraus nicht der Schluß gezogen werden müsse, daß der Kläger dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehe.

III. Hiergegen legte die Bundesanstalt Berufung beim Landessozialgericht (LSG.) Rheinland-Pfalz ein. Beim Kläger liege eine Doppelbeschäftigung vor. Deshalb müsse Alu mindestens dann ausgeschlossen sein, wenn das neben der Arbeitnehmertätigkeit betriebene Gewerbe nach Umfang und Ertrag den Rahmen überschreite, durch den im § 75a AVAVG eine geringfügige Arbeitnehmertätigkeit begrenzt werde.

Mit Urteil vom 21. Oktober 1955 wurde die Berufung der Beklagten zurückgewiesen, Revision aber zugelassen. Das LSG. ist der Auffassung, der Kläger sei in erster Linie Arbeitnehmer. Ob er nach Beendigung seiner Beschäftigung bei seiner Frau in der Gastwirtschaft mithelfe oder nicht, sei ohne Bedeutung, da hierdurch seine Vermittlungsfähigkeit nicht eingeschränkt werde. Selbständiger Gewerbetreibender im Sinne des § 87a Abs. 1 Satz 1 AVAVG sei der Kläger nicht; denn diese Vorschrift stelle auf die Tatsache der Ausübung des Gewerbes ab und wolle denjenigen von der Alu ausschließen, der infolge des Betreibens eines Gewerbes tatsächlich nicht arbeitslos sei und daher dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe, was hier jedoch nicht zutreffe. Die aus dem Gewerberecht übernommene Auslegung des Begriffs des Gewerbetreibenden könne für das AVAVG nicht angewandt werden.

IV. Gegen das der Beklagten am 9. Dezember 1955 zugestellte Urteil hat diese mit Schriftsatz vom 4. Januar 1956 - beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen am 6. Januar - Revision eingelegt und beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG. Koblenz vom 27. September 1954 den Kläger mit der Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung an das LSG. zurückzuverweisen.

Nach Verlängerung der Begründungsfrist rügte sie mit Schriftsatz vom 1. März 1956 - beim BSG. eingegangen am 5. März - Verletzung des § 87a Abs. 1 Satz 1 AVAVG. Auszugehen sei von dem durch Rechtsprechung und Schrifttum zur Gewerbeordnung herausgearbeiteten Begriff des selbständigen Gewerbetreibenden, der auch für § 87a AVAVG gelte. Der Inhaber eines solchen Betriebs verliere seine Eigenschaft nicht dadurch, daß er seine Befugnisse ganz oder zum Teil Dritten überlasse. Im übrigen habe der Kläger nach Arbeitsschluß und während der Arbeitslosigkeit das Gewerbe selber ausgeübt. Neben der Frage der Anwendung des § 87a Abs. 1 Satz 1 AVAVG sei aber zu prüfen, wie Doppelbeschäftigte zu behandeln seien, die außer dem selbständigen Gewerbe noch versicherungspflichtige Beschäftigungen ausgeübt und dadurch bewiesen hätten, daß ihre Verfügung für den Arbeitsmarkt nicht eingeschränkt sei.

Der Kläger erwiderte mit Schriftsätzen vom 7. April und 3. Juli 1956, die Beklagte mit Schriftsätzen vom 26. April und 6. Juni 1956. Im einzelnen wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.

V. Die Revision ist zulässig. Sie mußte auch Erfolg haben.

Es ist unbestritten, daß der Kläger seit vielen Jahren in der Hauptsache als Steinbruchsarbeiter beschäftigt und seit 1940 zur Hälfte Teilhaber einer Gastwirtschaft, seit dem 1. April 1954 ihr alleiniger Inhaber ist. Demnach ist er Doppelberufler. Mit dieser besonderen Berufs- und Beschäftigungslage hat sich der erkennende Senat in seinem Urteil vom 21. März 1956 (BSG 2 S. 67) eingehend befaßt. Auszugehen ist dabei von der Prüfung, ob das vom Doppelberufler betriebene selbständige Gewerbe ein Voll-Gewerbe ist, das nach allgemeiner Anschauung die Lebensgrundlage bildet. Ist dies der Fall, dann ist sein Inhaber nach der im § 87a Abs. 1 Satz 1 AVAVG zum Ausdruck gebrachten Ansicht des Gesetzgebers selbst dann nicht als arbeitslos anzusehen, wenn er außerdem noch als Arbeitnehmer tätig war und dem Arbeitsmarkt auch weiterhin voll zur Verfügung steht (vgl. Nr. IX, XI des erwähnten Urteils).

Der Auffassung des LSG., daß nicht von den Begriffen des Gewerberechts ausgegangen werden könne, sondern nur zu prüfen sei, ob das Gewerbe tatsächlich ausgeübt werde, kann nicht in vollem Umfang beigetreten werden. Wie der erkennende Senat in seinem angezogenen Urteil (Nr. IX) dargelegt hat, muß zunächst einmal geprüft werden, ob ein Gewerbe vorliegt, und das kann nur anhand der von Rechtsprechung und Schrifttum zur Gewerbeordnung entwickelten Begriffe aus geschehen, da die Gewerbeordnung selbst den Begriff des selbständigen Gewerbetreibenden nicht erläutert. Maßgebend ist dabei nicht die An- und Abmeldung des Gewerbes, da sie reine Ordnungsvorschriften darstellen, sondern der Umstand, daß das Gewerbe tatsächlich betrieben wird. Dies braucht aber nicht der Kläger selbst zu tun, er kann es auch durch andere - wie hier durch seine Frau - betreiben lassen. Inhaber bleibt er aber, solange das Gewerbe auf seinen Namen und seine Rechnung läuft. Ob sich der Kläger nach Feierabend oder während seiner sonstigen Freizeit, auch während der Arbeitslosigkeit, in der Gastwirtschaft betätigt, ist ohne wesentliche Bedeutung, sofern er nur objektiv und subjektiv dem Arbeitsmarkt zur Vermittlung zur Verfügung steht. Auf den tatsächlichen Ertrag des Betriebes kommt es nicht ausschlagend an, vielmehr - wie bereits erwähnt - auf die Feststellung, ob der Betrieb nach allgemeiner Anschauung die Lebensgrundlage darstellt.

Daß dies bei der Mehrzahl der Gastwirtschaften der Fall ist, braucht nicht näher erörtert zu werden. Wohl aber ist diese Frage bei einer Dorfgastwirtschaft näher zu prüfen. Dafür ist die Zahl der Dorfeinwohner und der sonst im Dorf noch vorhandenen Gastwirtschaften von Bedeutung, ferner die Lage (ob in der Mitte des Dorfes, in der Nähe des Bahnhofs, an der Hauptstraße), die Ausstattung - hier Saal und Kegelbahn, die bekanntlich stärker zum Besuch anreizen -, die Frage, ob es sich um eine Wirtschaft in einer landschaftlich schönen Gegend, also um ein sog. Ausflugslokal handelt usw. Im vorliegenden Falle ist auch zu untersuchen, ob die Gastwirtschaft die Lebensgrundlage für die zwei Familien der Brüder so lange bot, als beide Mitinhaber waren, und weiter, welche Beträge der Kläger nach dem Ausscheiden des Bruders an diesen zahlen mußte. In solchem Falle ist das Reineinkommen naturgemäß nicht ohne jede Bedeutung. Im übrigen ist bei einem Dorfgasthof auch zu prüfen, ob er nur als solcher betrieben wird oder - wie dies häufig der Fall ist - Teil einer landwirtschaftlichen Besitzung ist. Zu klären wäre weiter, ob die Schnapsbrennerei noch betrieben wird und in welchem Umfang.

Ergibt sich aus den Feststellungen, daß kein Voll-Gewerbe vorliegt, dann kann es sich bei dieser Tätigkeit nur um ein Nebenher-Gewerbe (z.B. ein Feierabendgewerbe - vgl. dazu Urt. des erkennenden Senats vom 21.3.56 Soz.R. AVAVG § 87a S. Ba 2/3 Nr. 4 -) oder ein solches Gewerbe handeln, das zwar über den Umfang des Nebenher-Gewerbes hinausgeht, aber noch nicht den eines Voll-Gewerbes erreicht, weil es nach allgemeiner Anschauung noch nicht die Lebensgrundlage bildet. In einem solchen Falle wird dies vielmehr im allgemeinen die Arbeitnehmerbeschäftigung sein. Ob sie es im Einzelfall ist, hängt davon ab, ob nach § 87a Abs. 2 AVAVG der Antragsteller durch die Bindungen aus dem Gewerbebetrieb verhindert ist, zeitlich andere als nur geringfügige Beschäftigungen im Sinne des § 75a Abs. 2 AVAVG auszuüben. Steht er dem Arbeitsmarkt mehr als zur Hälfte zur Verfügung, so ist er als arbeitslos anzusehen.

VI. Ohne diese Feststellungen konnte das Gericht nicht endgültig entscheiden. Es mußte deshalb das Urteil des LSG. aufheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten und die Gebühr für die Berufstätigkeit des Prozeßvertreters beruht auf den §§ 193, 196 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926345

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