Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkende Kindergeldzahlung gemäß § 9 Abs 3 BKGG
Leitsatz (amtlich)
Durch die Anerkennung der Vaterschaft des Vaters eines nichtehelichen Kindes werden rückwirkend bis zur Geburt die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld iS von § 2 Abs 1 S 1 Nr 4 BKGG iVm § 3 Abs 1 und 3 BKGG bei rechtzeitiger Antragstellung (§ 9 Abs 1 und 3 BKGG) erfüllt.
Orientierungssatz
Aus der Regelung des § 9 Abs 3 BKGG folgt, daß Kindergeld auch dann rückwirkend gezahlt werden muß, wenn bereits an eine andere berechtigte Person - hier die Mutter - Kindergeld gezahlt worden ist. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich der Kindergeldanspruch dadurch erhöht, daß das Kind nunmehr bei seinem Vater zu berücksichtigen ist, bei dem es eine höhere Platzziffer (vgl § 10 BKGG) hat als bei seiner Mutter.
Normenkette
BKGG § 2 Abs 1 S 1 Nr 4, § 3 Abs 1, § 3 Abs 3, § 9 Abs 1, § 9 Abs 3; BGB § 1591 Abs 1 Fassung: 1961-08-11, § 1600a Fassung: 1969-08-19, § 1615d Fassung: 1969-08-19; BKGG § 10; BGB § 1593
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 06.10.1981; Aktenzeichen L 14 Kg 25/80) |
SG Berlin (Entscheidung vom 31.10.1980; Aktenzeichen S 59 Kg 52/80) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger für seinen nichtehelichen Sohn auch für die Zeit vom Januar 1978 bis August 1979 Kindergeld zu zahlen.
Der Kläger ist der Vater von drei ehelichen und einem nichtehelich geborenen Kind S.H. Für die drei ehelichen Kinder bezieht seine Ehefrau das Kindergeld, für das nichtehelich geborene Kind erhielt dessen damals noch verheiratete, aber seit 1972 von ihrem Ehemann H. getrennt lebende und später geschiedene Mutter das Kindergeld ab Geburtsmonat (Januar 1978).
Nach rechtskräftigem Abschluß des Ehelichkeitsanfechtungsverfahrens im Juli 1979 erkannte der Kläger am 7. September 1979 die Vaterschaft zu den nichtehelichen Kind H. an und verpflichtete sich zur Zahlung des Regelunterhaltes ab Geburt. Hiervon unterrichtete die Mutter des H. die Beklagte im September 1979 und trat ihren Anspruch auf das Kindergeld rückwirkend ab Januar 1978 an den Kläger ab, von dem sie laufend unterstützt wurde. Der Kläger beantragte im September 1979 die Zahlung des Kindergeldes für H. ab Januar 1978 an ihn.
Die Beklagte entzog der Mutter des H. das Kindergeld mit Ablauf August 1979 (Bescheid vom 26. September 1979). Sie bewilligte dem Kläger ab September 1979 das Kindergeld von 200,-- DM für H. (Bescheid vom 14. Februar 1980). Der hiergegen nur wegen des Zahlungsbeginns erhobene Widerspruch, die Klage und die zugelassene Berufung blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 21. April 1980, Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 31. Oktober 1980 und Urteil des Landessozialgerichts (LSG) vom 6. Oktober 1981).
Das LSG hat ausgeführt, anders als bei ehelichen Kindern, werde die Vaterschaft bei nichtehelichen Kindern erst durch Anerkennung oder Gerichtsentscheidung festgestellt. Das Kindergeldgesetz sehe keine Ausnahmeregelung wie in § 1615d des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) vor, wonach fällige Unterhaltsbeiträge vor Anerkennung der Vaterschaft auch für die Vergangenheit verlangt werden könnten. Der Kindergeldanspruch sei bis August 1979 durch Erfüllung erloschen. § 9 Abs 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) iVm § 1600a BGB lasse keine Rückwirkung der Vaterschaftsanerkennung zu. § 3 Abs 3 Satz 1 BKGG wirke nicht in die Vergangenheit.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 3 Abs 3 iVm § 9 Abs 3 BKGG und des Art 6 Grundgesetz (GG).
Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG abzuändern und das Urteil des SG aufzuheben sowie den Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, das Kindergeld für H. bereits ab Januar 1978 unter Anrechnung der vom Januar 1978 bis August 1979 an die Mutter des H. erbrachten Zahlungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Die Urteile der Vorinstanzen sind aufzuheben und die Beklagte, antragsgemäß in Abänderung des Bescheides vom 14. Februar 1980 (Widerspruchsbescheid vom 21. April 1980) zu verurteilen, dem Kläger für seinen nichtehelichen Sohn H. ab Januar 1978 Kindergeld unter Anrechnung der an die Mutter des H. erbrachten Leistungen zu zahlen.
Nach § 9 Abs 1 BKGG wird Kindergeld von dem Monat an gewährt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Dieser Grundsatz wird durch § 9 Abs 2 BKGG dadurch eingeschränkt, daß Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats geleistet wird, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Ist aber ein nichteheliches Kind bei seinem Vater zu berücksichtigen und entsteht oder erhöht sich dadurch ein Anspruch des Vaters auf Kindergeld, so gilt für die rückwirkende Leistung des Kindergeldes oder des erhöhten Kindergeldes Abs 2 nicht, wenn der Antrag innerhalb der ersten sechs Monate nach Ablauf des Monats gestellt wird, in dem die Vaterschaft anerkannt oder rechtskräftig festgestellt ist. Diese Vorschrift wurde mit Art 1 Nr 5 des 2. Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BKGG vom 16. Dezember 1970 (BGBl I 1725) entsprechend dem Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19. August 1969 (BGBl I 1243) in das Kindergeldrecht ebenso eingefügt, wie es mit zahlreichen Vorschriften in das BGB geschah. Sie bezweckt gem Art 6 Abs 5 GG eine Verbesserung der Rechtsstellung der nichtehelichen Kinder und ihrer Eltern. Aus der Regelung des Abs 3 des § 9 BKGG folgt, daß Kindergeld auch dann rückwirkend gezahlt werden muß, wenn bereits an eine andere berechtigte Person - hier die Mutter - Kindergeld gezahlt worden ist. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich der Kindergeldanspruch dadurch erhöht, daß das Kind nunmehr bei seinem Vater zu berücksichtigen ist, bei dem es eine höhere Platzziffer (vgl § 10 BKGG) hat als bei seiner Mutter. Das Gesetz macht sogar durch den ausdrücklichen Hinweis auf die rückwirkende Leistung erhöhten Kindergeldes deutlich, daß es davon ausgeht, daß das Kindergeld in einer geringeren Höhe bereits gewährt worden ist, als es nunmehr zu zahlen ist.
Die rückwirkende Zahlung setzt allerdings voraus, daß der Vater in dieser Zeit die Anspruchsvoraussetzungen erfüllte. Das war, was nach der Vaterschaftsanerkennung feststeht, der Fall. Nach § 3 Abs 1 BKGG wird aber nur einer Person Kindergeld gewährt. Wenn, was der Regelfall sein dürfte, die Mutter die Anspruchvoraussetzungen ebenfalls erfüllte, ermöglicht deshalb das Gesetz, daß beide, Vater und Mutter, den Bezugsberechtigten bestimmen (§ 3 Abs 3 Satz 1 BKGG). Als eine solche Bestimmung ist auch die Erklärung der Mutter, sie trete ihren Anspruch rückwirkend an den Kläger ab, zu werten.
Dem steht nicht entgegen, daß die Bestimmung erst nach der Vaterschaftsanerkennung erfolgt ist. Die Berechtigtenbestimmung konnte nämlich erst nach der Vaterschaftsanerkennung erfolgen, weil nach § 1600a Satz 2 BGB die Rechtswirkungen der Vaterschaft erst von diesem Zeitpunkt an geltend gemacht werden können. Das bedeutet nicht, daß dieser Zeitpunkt einer Rückwirkung entgegensteht. Der Vater konnte in der Zeit zwischen der Geburt des Kindes und der Vaterschaftsanerkennung nicht zum Berechtigten bestimmt werden. Da aber § 9 Abs 3 BKGG die rückwirkende Zahlung an den nichtehelichen Vater ermöglichen soll, muß auch die rückwirkende Berechtigtenbestimmung möglich sein. Das hat weiter zur Folge, daß rückwirkend der Anspruch der Mutter wegfällt.
Die Beklagte räumt dies selbst ein, sie meint aber, die Rückwirkung könne sich nur auf die Zeit beziehen, in der das Kind "vaterlos" war, in der also nicht mehr der getrennt lebende Ehemann der Mutter als Vater galt (§§ 1591, 1593 BGB) und der Kläger noch nicht seine Vaterschaft anerkannt hatte. Diese Beschränkung der Rückwirkung kann aber aus § 9 Abs 3 BKGG nicht entnommen werden. Im Gegenteil: Interesse an der rückwirkenden Kindergeldgewährung besteht, wenn dies überhaupt grundsätzlich anerkannt wird, erst recht für die Zeit, in der der Ehemann der Mutter als Vater galt (Scheinvater, vgl §§ 1591, 1593 BGB). In dieser Zeit war das Kind zwar nicht "vaterlos". Kraft einer rechtlichen Fiktion, die der Wirklichkeit widerspricht, hatte es einen Vater. Die Folgen dieser Scheinvaterschaft werden aber schon nach bürgerlichem Recht weitgehend rückwirkend beseitigt. Der nichteheliche Vater muß rückwirkend für die Unterhaltsleistung an das uneheliche Kind aufkommen (§§ 1615b und 1615d BGB). Seine Unterhaltspflicht beschränkt sich nicht auf die "vaterlose" Zeit, sondern erfaßt auch die Zeit der Scheinvaterschaft. Das wird in § 1615b BGB ausdrücklich hervorgehoben. Der Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den Vater geht hiernach auch auf den Ehemann der Mutter über, soweit dieser dem Kinde Unterhalt gewährt hat. Auch aus § 1615d BGB ergibt sich für die Vergangenheit bei fälligen Unterhaltsbeträgen nichts anderes.
Diese Regelungen stehen nicht mit § 1593 BGB in Widerspruch. Zwar kann die Nichtehelichkeit eines Kindes, das während der Ehe oder innerhalb von 302 Tagen nach Auflösung oder Nichtigerklärung der Ehe geboren ist, nur geltend gemacht werden, wenn die Ehelichkeit angefochten und die Nichtehelichkeit rechtskräftig festgestellt ist. Hiernach ist es aber nur ausgeschlossen, vor rechtskräftiger Feststellung der Nichtehelichkeit die rechtliche Fiktion der Ehelichkeit zu stören. Ist die Nichtehelichkeit rechtskräftig festgestellt und steht - wie hier - der "richtige" Vater fest, so sind Korrekturen auch für die Zeit der Scheinvaterschaft geboten.
Das anerkennt auch § 9 Abs 3 BKGG. Die Rückwirkung kann sich nicht auf die Zeit der "Vaterlosigkeit" beschränken, denn diese Zeit kann der Vater durch Vaterschaftsanerkennung beenden. Die Rückwirkung muß sich erst recht auf die Zeit der Scheinvaterschaft beziehen, die der uneheliche Vater nicht durch sein Handeln beenden kann.
Diese Rechtsfolge findet eine Bestätigung in § 9 Abs 4 und 5 BKGG, wo für die Rückwirkung auf eine Bindung oder Verkündung abgehoben wird. Der 8b-Senat hat deshalb schon in BSG SozR 5670 § 3 Nr 5 ausgeführt, daß eine rückwirkende Gestaltung der Rechtsverhältnisse eingeräumt werden könne, wenn sie bis dahin ungeregelt waren. Das war hier der Fall, solange die Scheinvaterschaft galt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 153 |
Breith. 1983, 654 |