Leitsatz (amtlich)
Zu den in AVG §§ 94ff genannten früheren deutschen Staatsangehörigen iS des GG Art 116 Abs 2 S 1 gehört die Ehefrau eines früheren deutschen Staatsangehörigen nur dann, wenn ihr selbst zwischen dem 1933-01-30 und dem 1945-05-08 die deutsche Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist.
Normenkette
AVG § 94 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-02-25, § 100 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25, § 96 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1315 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-02-25, § 1321 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25, § 1317 Fassung: 1960-02-25; GG Art. 116 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. April 1966 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die der Klägerin ab 1. Juli 1960 wegen Berufsunfähigkeit bewilligte Rente bis zum 4. Februar 1963 nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ruhen mußte.
Die Klägerin, geboren am 12. Mai 1899, wanderte Anfang 1949 als deutsche Staatsangehörige nach Argentinien aus und heiratete dort am 24. März 1949 den früheren deutschen Staatsangehörigen R M Dieser hatte als Jude auf Grund der §§ 1 und 2 der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl I S. 722) die deutsche Staatsangehörigkeit verloren und keine andere angenommen; im Juli 1961 hatte er von Argentinien aus die Wiedereinbürgerung nach Artikel 116 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) beantragt, war jedoch noch vor einer Entscheidung hierüber am 20. Juli 1961 verstorben.
Der Klägerin wurde die deutsche Staatsangehörigkeit, die durch die Heirat als verloren galt, mit Wirkung vom 5. Februar 1963 neu verliehen. Sie kehrte am 26. Juni 1963 nach Deutschland in das Gebiet der Bundesrepublik zurück. Seitdem wird ihr die Rente uneingeschränkt gezahlt. Für die Zwischenzeit vom 5. Februar bis 26. Juni 1963 zahlte die Beklagte die - damals nach § 96 AVG an sich ruhende - Rente in dem in § 100 Abs. 1 AVG vorgesehenen Umfang.
Die Klägerin will, daß die Beklagte von der in § 100 Abs. 1 AVG eingeräumten Zahlungsbefugnis auch für die Zeit vom 1. Juli 1960 bis 4. Februar 1963 Gebrauch macht.
Mit ihrer Klage gegen die ablehnenden Bescheide der Beklagten vom 16. Januar 1964 und 28. Mai 1964 (Widerspruchsbescheid) hatte sie vor dem Sozialgericht (SG) Koblenz Erfolg. Auf die zugelassene Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz jedoch die Klage ab. Das LSG stimmte der Beklagten zu, daß die Rente auf Grund von § 94 Abs. 1 Nr. 1 AVG bis zum 4. Februar 1963 in vollem Umfang zu ruhen hatte. In der streitigen Zeit sei die Klägerin weder Deutsche im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 GG noch frühere deutsche Staatsangehörige im Sinne des Artikels 116 Abs. 2 Satz 1 GG gewesen. Das LSG ließ die Revision zu, weil es eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung sei, "ob sich die Wirkung des Artikels 116 Abs. 2 Satz 1 GG auch auf die Ehefrau des Ausgebürgerten erstreckt, für welche die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht vorliegen".
Mit der Revision beantragte die Klägerin sinngemäß,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Sie rügt, das LSG habe Artikel 116 Abs. 2 Satz 1 GG falsch ausgelegt. Die Vorschrift erstrecke ihre Wirkungen auch auf die Ehefrauen von Ausgebürgerten.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
Die Entscheidung hängt davon ab, ob die Klägerin in der Zeit vom 1. Juli 1960 bis 4. Februar 1963 Deutsche im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des GG oder frühere deutsche Staatsangehörige im Sinne des Artikels 116 Abs. 2 Satz 1 des GG gewesen ist. Bejahendenfalls würde ihre Rente nach § 96 AVG zwar grundsätzlich ruhen, die Beklagte könnte dann jedoch von der Zahlungsbefugnis des § 100 Abs. 1 AVG Gebrauch machen. Verneinendenfalls müßte die Rente dagegen auf Grund des § 94 Abs. 1 Nr. 1 in vollem Umfange ruhen, eine Ausnahmeregelung könnte dann nicht Platz greifen (die Ausnahmeregelung des § 100 Abs. 3 AVG betrifft nur Hinterbliebenenrenten).
Das LSG hat zu Recht § 94 Abs. 1 Nr. 1 AVG angewandt. Nach den nicht angefochtenen tatsächlichen Feststellungen des LSG hat sich die Klägerin vom 1. Juli 1960 bis 4. Februar 1963 freiwillig außerhalb des Geltungsbereichs des AVG aufgehalten. Auch die übrigen Voraussetzungen der Vorschrift sind erfüllt.
Die Klägerin war, was im Revisionsverfahren offenbar nicht streitig ist, in der Zeit vom 1. Juli 1960 bis 4. Februar 1963 keine Deutsche im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 GG. Von den beiden Alternativen, auf Grund derer jemand gemäß Artikel 116 Abs. 1 GG Deutscher ist, kommt nach der Sachlage nur die erste in Betracht. Danach ist Deutscher, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Die Klägerin hat in der Zeit vom 1. Juli 1960 bis 4. Februar 1963 nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besessen. Sie hatte sie am 24. März 1949 durch die Heirat mit R M verloren. Im Zeitpunkt der Heirat war § 17 Nr. 6 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes (RuStG) noch uneingeschränkt anwendbar (BVerwG 6, 351, Nachschlagewerk 132.0 § 1 1. StaRegG Nr. 1; BGHZ 27, 375, 378). Durch die Eheschließung mit einem Ausländer, d. h. mit einem fremden Staatsangehörigen oder einem Staatenlosen, ging für eine Deutsche damals noch die deutsche Staatsangehörigkeit verloren. Der Ehemann der Klägerin war zur Zeit der Heirat staatenlos. Seine frühere deutsche Staatsangehörigkeit war ihm durch die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 genommen worden. Die Verordnung war zwar "krasses Unrecht" (BGHZ 9, 34, 44, Nachschlagewerk Nr. 3 zu Artikel 116 GG); deswegen können jedoch, wie Artikel 116 Abs. 2 GG bestätigt, die durch die Verordnung vollzogenen Ausbürgerungen nicht sämtlich als nichtig und ungeschehen behandelt werden (BGHZ 27, 375, 377; BVerwG 1, 236); dadurch würden nämlich u. U. Ausgebürgerte benachteiligt, die aus mancherlei Gründen den Wiedererwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nicht wünschen. Das GG hat deshalb in Artikel 116 Abs. 2 eine besondere Wiedergutmachungsregelung getroffen; eine vergleichbare Regelung hat zuvor schon in den Ländern der amerikanischen Zone bestanden (Massfeller, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, 2. Aufl. Anm. II 1 zu Artikel 116 GG u. S. 414; Lichter/Hoffmann, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, 3. Aufl. Anm. 18 zu Artikel 116 GG und S. 375; Makarov, DRZ 1948, 278). Die danach offenstehenden Möglichkeiten, die deutsche Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen (durch Antragstellung oder Rückkehr nach Deutschland), hat der Ehemann der Klägerin nicht verwirklicht. Infolge seines Todes ist über seinen im Juli 1961 gemäß Artikel 116 Abs. 2 Satz 1 GG gestellten Antrag nicht entschieden worden. Der Antrag allein hat ihm die deutsche Staatsangehörigkeit nicht wieder verschafft und darum erst recht nicht der Klägerin. Sie hat die deutsche Staatsangehörigkeit somit erst auf ihren eigenen späteren Antrag mit Wirkung vom 5. Februar 1963 wiedererworben.
Dem LSG ist auch darin beizupflichten, daß die Klägerin kein "früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Artikels 116 Abs. 2 Satz 1 des GG" ist. Hierbei ist es jedoch unerheblich, ob sich die Wirkungen des Artikels 116 Abs. 2 Satz 1 GG auch auf Ehegatten erstrecken, bei denen die Voraussetzungen dieser Vorschrift fehlen. Das wäre allenfalls für die Frage bedeutsam gewesen, ob die Klägerin in der streitigen Zeit eine Deutsche im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 GG war. Auch dort kam es aber letztlich nicht darauf an, weil der Ehemann der Klägerin nicht nach Artikel 116 Abs. 2 Satz 1 GG wiedereingebürgert worden ist. Soweit die maßgeblichen Vorschriften des AVG (§ 94, 96, 100) auf Artikel 116 Abs. 2 Satz 1 GG Bezug nehmen, stellen sie darauf ab, ob der Rentenberechtigte ein "früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Artikels 116 Abs. 2 Satz 1 des GG" ist (ebenso § 1 Fremdrentengesetz, dessen Fassung wie die der §§ 94 AVG auf das Fremd- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz vom 25. Februar 1960 zurückgeht). Es mag zweifelhaft sein, ob damit alle in Artikel 116 Abs. 2 Satz 1 GG genannten Personen gemeint sind. Artikel 116 Abs. 2 Satz 1 GG bestimmt, daß "frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge " auf Antrag wieder einzubürgern sind. Ohne Zweifel erfassen danach die §§ 94, 96, 100 AVG mit den Worten "früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Artikels 116 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes" die "früheren deutschen Staatsangehörigen, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist". Zu ihnen gehört die Klägerin nicht. Im Schrifttum werden allerdings zu den früheren deutschen Staatsangehörigen im Sinne des Artikels 116 Abs. 2 Satz 1 GG auch die "Abkömmlinge" gerechnet, denen Artikel 116 Abs. 2 Satz 1 GG einen eigenen Anspruch auf "Wiedereinbürgerung" einräumt (vgl. Jantz/Zweng/Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2. Aufl. Anm. 5 b zu § 1 FRG, Verbandskomm., 6. Aufl. Anm. 6 zu § 1 FRG; Hoernigk/Jahn/Wickenhagen, Anm. 6 zu § 1 FRG). Ob dem zuzustimmen ist, braucht der Senat hier nicht zu entscheiden. Auch wenn als "früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Artikels 116 Abs. 2 Satz 1 GG" alle diejenigen Personen zu gelten hätten, die nach dieser Vorschrift einen Anspruch auf Wiedereinbürgerung besitzen, rechnen dazu jedenfalls nicht die Ehegatten der Ausgebürgerten, es sei denn, daß ihnen selbst zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die deutsche Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist. Artikel 116 Abs. 2 Satz 1 GG gibt den Ehegatten im Gegensatz zu den Abkömmlingen - vgl. demgegenüber Artikel 116 Abs. 1, 2. Alternative - keinen eigenen Anspruch auf Einbürgerung (Maunz/Dürig, Anm. 28 zu Artikel 116 GG; Lichter/Hoffmann, Anm. 17 zu Artikel 116 GG; Massfeller, Anm. II 3 zu Artikel 116 GG). Es besteht auch kein Anhalt dafür, daß Artikel 116 Abs. 2 Satz 1 GG insoweit lückenhaft wäre; vielmehr ist anzunehmen, daß nicht alle nur mittelbar durch die Ausbürgerung Betroffenen einen eigenen Anspruch auf Einbürgerung erhalten sollten. Deshalb können die Vorschriften der Rentenversicherungsgesetze mit den Worten "früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Artikels 116 Abs. 2 Satz 1 GG" neben den Ausgebürgerten allenfalls noch deren Abkömmlinge, nicht aber ihre Ehegatten meinen. Insoweit rechtfertigen Billigkeitsgründe keine Ausnahme. Es mag sein, daß die Klägerin bei späterer Heirat, bei früherer Antragstellung oder bei Rückkehr des Ehemannes nach Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit in der streitigen Zeit wieder besessen hätte; es trifft auch zu, daß sie durch die Ausbürgerung des Ehemannes deshalb mittelbar betroffen worden ist, weil sie durch die spätere Heirat mit ihm ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren hat; alle diese Billigkeitserwägungen können jedoch keinen Grund bilden, über die gesetzliche Regelung des § 94 AVG hinwegzugehen. Im übrigen hat das Gesetz in § 100 Abs. 5 AVG abschließend bestimmt, welche Personen den früheren deutschen Staatsangehörigen im Sinne des Artikel 116 Abs. 2 Satz 1 GG bei der Anwendung der §§ 94 ff AVG gleichstehen. Diesem Personenkreis gehört die Klägerin nicht an.
Die Revision ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2296893 |
BSGE, 219 |