Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz bei der Teilnahme an Gewerkschaftsveranstaltungen
Leitsatz (amtlich)
Zum Unfallversicherungsschutz eines Gesellen bei der Teilnahme an einer Veranstaltung des Handwerksausschusses seiner Gewerkschaft, in welcher über die Aufgaben der in der Handwerksordnung vorgesehenen Gesellenausschüsse referiert wurde.
Leitsatz (redaktionell)
In den Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Teilnahme an Veranstaltungen einer Berufsorganisation dann einbezogen, wenn sie Kenntnisse vermittelt, die von den Teilnehmern für ihre betriebliche Tätigkeit genutzt werden können; dieser Nutzen kann aus der Vermittlung von Kenntnissen überbetrieblicher Natur (zB Aufgaben der Selbstverwaltung im Handwerk) grundsätzlich nicht gezogen werden.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. Juni 1967 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger war als Zimmerer in einem Sägewerk beschäftigt. Er war Mitglied der Industriegewerkschaft (IG) Bau-Steine-Erden und gehörte einem Handwerksausschuß dieser Gewerkschaft an. Am Abend des 12. September 1963 wollte er an einer Sitzung des Ausschusses teilnehmen, in welcher ein Gewerkschaftsmitglied über das Thema "Rechte und Pflichten der Gesellenausschüsse im Handwerk" mit dem Untertitel "Ordnungsgemäße Durchführung der Gesellenprüfung, Lehrlings- und Berufsausbildung" referierte. Auf dem Weg von seiner Wohnung zum Veranstaltungsort erlitt er einen Verkehrsunfall, bei dem er sich einen Beinbruch zuzog.
Seine Entschädigungsansprüche lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 1. März 1965 mit der Begründung ab, die von ihm beabsichtigte Teilnahme an der Gewerkschaftsveranstaltung habe mit seiner beruflichen Tätigkeit nicht in ursächlichem Zusammenhang gestanden, weil nur Fragen allgemeiner Art im Rahmen der Berufsorganisation behandelt worden seien.
Der Kläger hat gegen diesen Bescheid Klage erhoben. Er hat geltend gemacht, die Gewerkschaft habe ihn für eine spätere Tätigkeit in einem nach der Handwerksordnung (HwO) errichteten Gesellenausschuß vorgesehen; der Erwerb von Kenntnissen über die Aufgaben der Selbstverwaltung im Handwerk sei seiner versicherten Tätigkeit im Betrieb zuzurechnen.
Das Sozialgericht Lüneburg hat durch Urteil vom 17. Mai 1966 die Klage abgewiesen mit der Begründung, Gegenstand der Gewerkschaftsveranstaltung seien nur Fragen allgemeiner Art gewesen, ihre Erörterung habe mit der beruflichen Tätigkeit nicht in ursächlichem Zusammenhang gestanden. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 20. Juni 1967 die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen folgendes ausgeführt: Der für die Begründung des Unfallversicherungsschutzes erforderliche innere ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit des Klägers als Arbeitnehmer und der beabsichtigten Teilnahme an der Gewerkschaftsveranstaltung sei nicht gegeben. Denn die Tätigkeit in einem Gesellenausschuß nach § 62 HwO vom 17. September 1953 - aF - (BGBl I 1411) in der Fassung vom 22. Dezember 1953 (BGBl I 1567) könne der versicherten Tätigkeit nicht zugerechnet werden, weil sie nicht dem Betriebe diene, dem der Geselle angehöre, sondern im wesentlichen den Zweck verfolge, ein gutes Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gewährleisten. Infolgedessen sei auch die Vorschulung innerhalb der Gewerkschaft für eine solche Tätigkeit nicht Ausfluß der versicherten Tätigkeit. Hinzu komme, daß den Gewerkschaften bei den Wahlen zu den Gesellenausschüssen (§§ 64 ff HwO) ein Vorschlagsrecht nicht zustehe, so daß völlig offen sei, ob der Versicherte, der sich auf eine Tätigkeit in einem Gesellenausschuß vorbereitet habe, von den wahlberechtigten Gesellen der Innung auch tatsächlich gewählt werde.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet: Wie aus dem Untertitel des Referats hervorgehe, sei in der Ausschußsitzung am 12. September 1963 die Berufsausbildung von Lehrlingen erörtert worden. Als gelernter Zimmermann habe der Kläger zwar nicht die Berechtigung zur Lehrlingsausbildung, wohl jedoch nach allgemeinem und für jedes Ausbildungsverhältnis selbstverständlichem Rechtsgedanken die Befugnis, Lehrlinge in einzelnen Handgriffen und Fertigkeiten zu unterweisen. Schon unter diesem Gesichtspunkt sei die Teilnahme des Klägers an der Fachgruppenveranstaltung seiner versicherten Tätigkeit zuzurechnen, weil die Beschäftigung mit Fragen der Lehrlingsausbildung Auswirkungen auf sein konkretes Arbeitsverhältnis gehabt hätte. Die Feststellung des LSG, daß der Kläger als Anwärter auf eine Mitgliedschaft im Gesellenausschuß für die Aufgaben der Selbstverwaltung im Handwerk habe geschult werden sollen, hätte dem Berufungsgericht Veranlassung zur Prüfung des Versicherungsschutzes bei der Teilnahme an Schulungskursen und gegebenenfalls zur Beiladung des in diesem Falle zuständigen Versicherungsträgers geben müssen.
Der Kläger beantragt,
die Entscheidungen der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm Entschädigung wegen der Folgen des Unfalls vom 12. September 1963 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
II
Die Revision hatte keinen Erfolg.
Mit Recht hat das LSG die Ansprüche des Klägers auf Entschädigungsleistungen wegen der Folgen seines Unfalls vom 12. September 1963 nicht für begründet erachtet. Der Kläger ist nicht auf einem Weg verunglückt, der mit seiner Arbeit in dem Unternehmen, in welchem er beschäftigt war, in Zusammenhang stand (§ 550 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der Besuch von Versammlungen und Veranstaltungen einer Berufsorganisation wird unter gewissen Voraussetzungen versicherungsrechtlich der beruflichen Tätigkeit gleichgestellt. Wie der erkennende Senat bereits in mehreren, den Unfallversicherungsschutz von Unternehmern betreffenden Entscheidungen dargelegt hat, bedarf es in jedem einzelnen Fall der Prüfung, ob zwischen der Teilnahme an der Veranstaltung einer beruflichen Fachorganisation und der versicherten Tätigkeit ein rechtlich wesentlicher innerer Zusammenhang besteht (vgl. BSG 8, 170; SozEntsch BSG IV Nr. 48 zu § 542 - a - RVO; BSG 30, 282 und 284 = SozR Nr. 19, 16 zu § 548 RVO). Diese Voraussetzung kann im Grunde für Arbeitnehmer ebenso wie für Unternehmer gegeben sein, wenngleich wegen der unterschiedlichen Funktion dieser Personengruppen der Kreis der dem Versicherungsschutz unterliegenden Tätigkeiten sich nicht immer decken wird (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 29.1.1971 - 2 RU 253/68 -).
Die allgemeinen - überbetrieblichen - Ziele und Aufgaben der Gewerkschaft, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten (§ 2 der Satzung der IG Bau-Steine-Erden), schließen nicht von vornherein aus, daß einzelne Veranstaltungen aufgrund ihrer besonderen Ausgestaltung in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit der Teilnehmer stehen können (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 28.10.1966, veröffentlicht in: Die Praxis 1967, Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennzahl 107, S. 6 ff). Ob dies der Fall ist, hängt u. a. davon ab, daß in der Veranstaltung Kenntnisse vermittelt werden, welche die Teilnehmer, wenn auch nicht sogleich, für ihre betriebliche Tätigkeit verwerten sollen und können (BSG 30, 282; 30, 284).
Nach den mit Revisionsrügen nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG sollte den Teilnehmern der Sitzung des bei der Gewerkschaft bestehenden Handwerksausschusses, dessen Mitglieder bereits einem Gesellenausschuß angehörten oder - wie der Kläger - von ihrer Gewerkschaft für eine solche Tätigkeit vorgesehen waren, die Aufgaben der nach den Vorschriften der HwO errichteten Gesellenausschüsse dargelegt und erläutert werden.
Wie das LSG zutreffend angenommen hat, läßt der Inhalt des Vortrages, der unter dem Thema "Rechte und Pflichten der Gesellenausschüsse im Handwerk" mit dem Untertitel "Ordnungsgemäße Durchführung der Gesellenprüfung, Lehrlings- und Berufsausbildung" gehalten wurde, eine betriebsbezogene Ausrichtung, die eine rechtlich wesentliche innere Beziehung zu der versicherten Tätigkeit der Veranstaltungsteilnehmer hätte herstellen können, nicht erkennen. Die Kenntnisse über die Mitwirkung von Arbeitnehmern innerhalb der Organisation des Handwerks, die durch das Referat vermittelt werden sollten, betrafen vielmehr allgemeine Fragen überbetrieblicher Natur. Dies erhellt aus der Funktion der Gesellenausschüsse, wie sie sich nach der zur Zeit der Veranstaltung geltenden Fassung der HwO vom 17. September 1953 - aF - (BGBl I 1411) darstellt. Nach § 62 HwO aF wird zur Herbeiführung eines guten Verhältnisses zwischen den Innungsmitgliedern und den bei ihren beschäftigten Gesellen bei jeder Handwerksinnung ein Gesellenausschuß errichtet. Dieser hat bestimmte selbständige Funktionen - u. a. Wahl der Gesellenmitglieder der Ausschüsse, bei denen die Mitwirkung der Gesellen durch Gesetz oder Satzung vorgesehen ist - und ist im übrigen an den der Innung obliegenden Aufgaben zu beteiligen (§ 62 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 HwO aF). Die durch freiwilligen Zusammenschluß selbständiger Handwerker eines Gewerbezweiges gebildeten Innungen ihrerseits haben als Berufsgemeinschaft der selbständigen Handwerker, die gemeinsamen gewerblichen Interessen ihrer Mitglieder zu fördern (§ 49 Abs. 1 Satz 1 HwO aF) und darüber hinaus auch die sozialpolitische Aufgabe, diejenigen Angelegenheiten wahrzunehmen, welche die Unternehmer und die Unselbständigen des Handwerks betreffen. In diesem Rahmen wirkt der Gesellenausschuß als Vertretung der bei den Innungsmitgliedern beschäftigten Gesellen mit. Dies umfaßt nach der erschöpfenden Aufzählung in § 62 Abs. 2 HwO aF die Beteiligung an den in § 49 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 HwO aF herausgehobenen - jedoch nicht abschließend geregelten - Aufgaben der Innung. Der Gesellenausschuß ist hiernach u. a. zu beteiligen bei Erlaß von Vorschriften über die Regelung der Lehrlingsausbildung, bei Maßnahmen zur Fürsorge für die Ausbildung der Lehrlinge sowie zur Förderung des handwerklichen Könnens der Gesellen, ferner bei der Abnahme von Gesellenprüfungen (§ 62 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 HwO aF), mithin bei den sozialpolitisch bedeutsamen Aufgaben der Innung in der wirtschaftlichen Organisation des Handwerks, welche die Belange der Selbständigen und Unselbständigen berühren. Da die Aneignung oder Vertiefung von Kenntnissen über die so gekennzeichneten Aufgaben der Gesellenausschüsse nicht der betrieblichen Arbeit nützen sollte und konnte, fehlt es an der rechtlich wesentlichen Beziehung zwischen dem Besuch der Gewerkschaftsveranstaltung und der versicherten Tätigkeit der Teilnehmer. Das Revisionsvorbringen, mit dem die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht angegriffen worden sind, ist nicht geeignet, eine andere Beurteilung zu rechtfertigen; es ist nicht ersichtlich, daß den Teilnehmern der Veranstaltung darüber hinaus auch fachliche Kenntnisse vermittelt werden sollten - etwa über die Berufsausbildung von Lehrlingen -, die sie bei ihrer betrieblichen Tätigkeit hätten verwerten können. Der Untertitel des Referats - "Ordnungsgemäße Durchführung der Gesellenprüfung, Lehrlings- und Berufsausbildung" - fügt sich vielmehr durch Erwähnung der den Gesellenausschüssen obliegenden Aufgaben, bei denen sie im überbetrieblichen Rahmen mitzuwirken haben, zwanglos in das Gesamtthema ein.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen ist kein Anhalt dafür gegeben, daß eine notwendige Beiladung (§ 75 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) unterlassen worden ist.
Die Revision war danach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen