Orientierungssatz

Verminderte bergmännische Berufsfähigkeit, Lehrhauer.

 

Normenkette

RKG § 45 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.04.1973; Aktenzeichen L 15 Kn 68/72)

SG Dortmund (Entscheidung vom 27.04.1972; Aktenzeichen S 24 Kn 166/71)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. April 1973 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob dem im Jahre 1928 geborenen Kläger ab 1. Juni 1971 die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zu zahlen ist.

Der Kläger war u. a. 78 Beitragsmonate im Bergbau beschäftigt, und zwar zunächst als Schichtlohn- und Gedingeschlepper und vom 1. Februar 1954 an als Lehrhauer bis er diese Tätigkeit am 28. Juni 1958 aus gesundheitlichen Gründen (konstitutionelle Unterwertigkeit mit Kreislauffunktionsstörung) aufgeben mußte. Danach war er noch neun Monate im Bergbau als Gleisbauarbeiter tätig.

Am 25. August 1970 beantragte der Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. April 1971 ab, weil der Kläger weder berufsunfähig noch vermindert bergmännisch berufsfähig sei. Er könne als zweiter Anschläger, Bergeklauber, erster Kreissägenarbeiter, Verwieger, Wäschemaschinist, Laboratoriumsarbeiter, Lesebandarbeiter, Tafelführer, Verlader, Magazinarbeiter, Markenausgeber, Lampenstubenarbeiter und in entsprechenden Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1971 zurückgewiesen. Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Dortmund diese Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger von der Antragstellung an Rente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zu zahlen. Die dagegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 10. April 1973 mit der Klarstellung zurückgewiesen, daß die Klage als unbegründet abgewiesen wird, soweit mit ihr über die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit hinaus auch die Gewährung von Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit begehrt werde. Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger aus gesundheitlichen Gründen außerstande, körperlich schwere Arbeiten auszuführen. Er könne nur noch leichte Arbeiten über Tage vollschichtig verrichten. Die Sachverständigen der Städtischen Krankenanstalten hielten den Kläger zwar noch für fähig, körperlich mittelschwere Arbeiten vollschichtig zu verrichten, dies jedoch unter erheblichen Einschränkungen; so solle er keine Tätigkeiten unter ungünstigen Witterungsverhältnissen mehr ausüben und auch keine solchen, die langes Stehen, Gehen und eine gewisse Feinfühligkeit erforderten sowie ständiges Arbeiten in abnormen Körperhaltungen verlangten. In erster Linie wegen der stark herabgesetzten körperlichen Leistungsfähigkeit sei der Kläger als früherer Lehrhauer vermindert bergmännisch berufsfähig. Mit seinem Gesundheitszustand könne er nicht als Kranführer, Verwieger, erster Destillateur, Laboratoriumshelfer, erster Maschinist im Energiebetrieb, Probenehmer, Setzmaschinist oder als Hilfsarbeiter im Laboratorium oder im maschinen- und elektrotechnischen Bereich eingesetzt werden. Der Einsatz als Lampenwärter scheide ebenfalls aus, weil ihm die dafür erforderlichen handwerklichen Fähigkeiten fehlten, und er auch bei dieser Tätigkeit in stärkerem Maße gehen und stehen müßte als es ihm gesundheitlich zugemutet werden könne. Aus gesundheitlichen Gründen sei zwar eine Tätigkeit als Hilfsarbeiter im Büro oder Telefonist nicht ausgeschlossen. Gegen eine Verweisung auf die Tätigkeit eines Telefonisten bestünden aber schon deshalb Bedenken, weil solche Arbeitsplätze in der Regel von angestellten Telefonistinnen eingenommen würden und darüber hinaus fast nur Schwerbeschädigten in dieser Eigenschaft zugänglich wären. Die Tätigkeit eines Hilfsarbeiters im Büro sei der Tätigkeit als Lehrhauer gegenüber nicht im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig. In beiden Fällen handele es sich im Verhältnis zum Lehrhauer auch nicht um Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten. Bei Prüfung der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit sei bei einem früheren Lehrhauer, der seine Tätigkeit vor dem Inkrafttreten der neuen Lohnordnungen am 1. Juni 1971 aufgegeben habe, von der Lohngruppe 09 auszugehen. Hiervon ausgehend sei eine Lohndifferenz von 17,9 % zur Lohngruppe 04 und eine solche von 21, 5 % zur Lohngruppe 03 nicht vertretbar, so daß schon aus diesem Grunde auf die Tätigkeiten dieser Lohngruppen nicht verwiesen werden könne. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.

Mit der von ihr eingelegten Revision hat die Beklagte anerkannt, daß der Kläger in der Zeit von der Antragstellung am 25. August 1970 bis zum 31. Mai 1971 vermindert bergmännisch berufsfähig war und insoweit einen Anspruch auf Bergmannsrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen hatte. Dieses Teilanerkenntnis hat der Kläger angenommen, so daß nur noch die Gewährung der Bergmannsrente für die Zeit ab 1. Juni 1971 streitig ist. Die Beklagte ist der Ansicht, daß bei Prüfung der Frage, ob eine Tätigkeit im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig ist, bei Lehrhauern, die diesen Beruf nach der am 1. Juni 1971 in Kraft getretenen Neuregelung des Entlöhnungswesens für die Arbeiter des Steinkohlenbergbaus aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mußten, von der Lohngruppe 08 unter Tage ausgegangen werden müsse. Die dem Kläger noch möglichen Tätigkeiten als Hilfsarbeiter im Büro und Telefonist seien gegenüber dem Beruf des Lehrhauers im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig. Die Bedenken des Vordergerichts gegen die Verweisung auf die Tätigkeit eines Telefonisten sei nicht berechtigt. Die Verweisung auf diese Tätigkeit könne nicht schon mit der Begründung abgelehnt werden, diese Tätigkeit sei im allgemeinen Schwerbeschädigten vorbehalten, denn sie sei in der Lohnordnung aufgeführt (auf Lohngruppe 04 über Tage, Tätigkeitsschlüssel = Nr. 248), so daß von dem Vorhandensein von Arbeitsplätzen in ausreichender Anzahl ausgegangen werden müsse.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. April 1973 und das Urteil des SG Dortmund vom 27. April 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit die Zahlung einer Bergmannsrente für die Zeit ab 1. Juni 1971 begehrt wird,

ferner hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten. Er ist der Ansicht, daß ihm durch die Urteile des SG und des LSG zu Recht eine Bergmannsrente auch für die Zeit ab 1. Juni 1971 zugesprochen worden ist.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Da der Kläger die von ihm verrichtete knappschaftliche Arbeit als Lehrhauer nicht mehr ausüben kann, ist er nach § 45 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) vermindert bergmännisch berufsfähig, wenn er auch außerstande ist, andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten zu verrichten.

Der Senat hat bereits durch Urteil vom 27. Juni 1974 (SozR. 2600 Nr. 5) entschieden, daß bei einem ehemaligen, vor dem 1. Juni 1971 bereits aus seiner Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen ausgeschiedenen Lehrhauer, den es in der neuen Lohnordnung nicht mehr gibt, unter Berücksichtigung aller sich hieraus ergebenden Besonderheiten von der Lohngruppe 09 unter Tage auszugehen ist. Hieraus ergibt sich, daß ein Lehrhauer bei Prüfung der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit auf die unter die Lohngruppe 01 bis 03 über Tage fallenden Tätigkeiten schon deshalb nicht verwiesen werden kann, weil sie nicht mehr im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sind, denn die Lohndifferenz zwischen diesen Lohngruppen und der Lohngruppe 09 beträgt mehr als 20 v. H..

Der Senat hat auch bereits entschieden, daß gegenüber der Lohngruppe 09 die Lohngruppe 04 bei einer Lohndifferenz von etwa 17,9 v. H. im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig ist (vgl. die Urteile vom 29. August 1974 - 5 RKn 8/73 - und 5 RKn 36/73 sowie 5 RKn 37/73). Zu den nach der Lohngruppe 04 entlohnten Tätigkeiten gehört auch die des Hilfsarbeiters im Büro (Tätigkeitsschlüssel Nr. 247). Nach den Erläuterungen zur Lohnordnung fallen hierunter Hilfsarbeiter im Büro und in der Arbeitszeiterfassung (Lichtpausereien, Druckereien, Buchbindereien, Adressieranlagen). Der Senat hat in den genannten Urteilen aber darauf hingewiesen, daß es sich um ungelernte Tätigkeiten handelt, die jeder Arbeiter ohne Ausbildung bzw. nennenswerte Einweisung und Einarbeitung verrichten kann. Deshalb kann ein früherer Lehrhauer, der immerhin die Qualifikation eines angelernten Arbeiters hatte (vgl. SozR Nr. 16 zu § 46 RKG), selbst dann auf diese Arbeiten nicht verwiesen werden, wenn sie sich aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten durch besondere Anforderungen an das Verantwortungsbewußtsein, die Zuverlässigkeit oder die Wendigkeit herausheben sollten, denn diese Merkmale könnten allenfalls dazu führen, eine ungelernte Tätigkeit im Rahmen des § 46 RKG als zumutbar erscheinen zu lassen.

Soweit es sich um die nach der Lohngruppe 04 zu vergütende Tätigkeit eines Telefonisten handelt (Tätigkeitsschlüssel = Nr. 248), die nach der Erläuterung zur Lohnordnung auch das Bedienen einer Telefonvermittlung einschließt, läßt sich noch keine abschließende Entscheidung treffen. Die Verweisung kann nicht schon mit der Begründung abgelehnt werden, daß die Tätigkeit im allgemeinen Schwerbeschädigten vorbehalten ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 29. August 1974 - 5 RKn 36/73). Ob es sich hierbei um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handelt, kann nicht ohne nähere Kenntnis der für ihre Verrichtung erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten entschieden werden. Es ist vor allem noch zu klären und festzustellen, wie sich die Tätigkeit eines Telefonisten nach der Lohngruppe 04 von der Tätigkeit eines angestellten Telefonisten unterscheidet und ob es sich, wie die Tätigkeit eines Hilfsarbeiters im Büro, um eine Tätigkeit handelt, die jeder Arbeiter ohne Ausbildung bzw. nennenswerte Einweisung und Einarbeitung verrichten kann. Allein aus dem Umstand, daß sie gegenüber der Lehrhauertätigkeit im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig ist, kann jedenfalls nicht geschlossen werden, daß es sich um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handelt. Bis zum 1. Juni 1971 befand sich die Tätigkeit eines Telefonisten in der Lohngruppe IV über Tage und war der Lehrhauertätigkeit gegenüber nicht im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig. Die erhebliche Lohndifferenz sprach eher dafür, daß es sich nicht um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handelte. Durch die am 1. Juni 1971 in Kraft getretene grundsätzliche Änderung der Lohnordnung haben sich aber die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten für diese Tätigkeit nicht geändert. Vor dem 1. Juni 1971 brauchte diese nur deshalb nicht genau ermittelt zu werden, weil damals eine Verweisung schon daran scheiterte, daß diese Tätigkeit der Lehrhauertätigkeit nicht im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig war. Nach der Feststellung, welche Kenntnisse und Fähigkeiten ein Telefonist der Lohngruppe 04 haben muß, wird das LSG noch festzustellen haben, ob der Kläger diese besitzt bzw. wie und in welcher Zeit er sie erwerben kann. Schließlich besteht wegen des Nebeneinanders des angestellten Telefonisten mit dem Telefonisten der Lohngruppe 04 Veranlassung zu der Prüfung, ob die für die Letzteren vorhandenen Stellen ausschließlich oder aber in aller Regel nicht mehr voll einsatzfähigen eigenen Betriebsangehörigen zugewiesen werden, so daß aus diesem Grunde eine Verweisung anderer Versicherter auf diese Stellen ausscheidet.

Das LSG wird zudem noch genauer zu prüfen und eingehender darzulegen haben, ob es für den Kläger keine anderen im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben gibt, die er nach seinem Gesundheitszustand und nach seinen Kräften und Fähigkeiten auszuüben vermag, und die von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten ausgeübt werden. So gehört z. B. nach den Erläuterungen zur Lohnordnung zu den Tätigkeiten des Maschinisten I (Lohngruppe 07, Tätigkeitsschlüssel = Nr. 271) die vom LSG mit der Begründung abgelehnte Tätigkeit eines Kranführers; ein solcher müsse von seinem im allgemeinen über eine Leiter erreichbaren Führerstand nach unten blicken, was dem Kläger nicht zuträglich sei, und diese Tätigkeit komme im Bergbau auch nur in beschränktem Umfang vor. Diese Feststellungen sind in dieser Verallgemeinerung nicht ausreichend, weil keineswegs alle Kräne von oben gefahren werden und nach den Erläuterungen zur Lohnordnung auch das Fahren eines Gabelstaplers und zahlreicher anderer Maschinen unter die Sammelbezeichnung "Maschinist I" fällt.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651395

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