Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. Neckerei
Orientierungssatz
Eine Neckerei unter Betriebsangehörigen ist grundsätzlich als die rechtlich allein wesentliche Ursache für einen Unfall, der sich während einer solchen Neckerei ereignet, anzusehen. Der Umstand, daß die Neckerei am Arbeitsort und während der Arbeitszeit stattgefunden und eine Betriebseinrichtung beim Zustandekommen des Unfalls mitgewirkt hat, vermag im allgemeinen keinen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit herzustellen (vgl BSG 1964-12-09 2 RU 101/59 = SozR Nr 74 zu § 542 RVO aF).
Normenkette
RVO § 542
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 02.07.1964) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 02.10.1963) |
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 2. Juli 1964 wird aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 2. Oktober 1963 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der im Jahre 1941 geborene Kläger war nach Beendigung seiner Lehrzeit als Rohrinstallateur am 30. September 1960 in der Folgezeit in seinem Lehrbetrieb als Montagehelfer und Hilfsmonteur beschäftigt. Am 9. Juni 1962 gab er diese Tätigkeit auf. Er begann am 12. Juni 1962 als Hilfsarbeiter eines Putz- und Stuckgeschäftes mit der Arbeit auf einer Baustelle. Dort waren der im Jahre 1940 geborene Stuckhelfer D sowie der 1942 geborene Bauhilfsarbeiter R beschäftigt.
Am 25. Juni 1962 sollten D, R und der Kläger im 5. Stockwerk des Neubaus eine große Plane zusammenlegen. Zu diesem Zweck holte D den Kläger von seinem Arbeitsplatz im 8. Stockwerk. Auf dem Weg nach unten bewarfen sich beide aus Unfug mit herumliegenden Gips- und Kalkstücken. Beim Zusammenlegen der Plane neckten sich alle drei in dieser Art weiter. Sie setzten nach Beendigung ihrer Arbeit ihre Neckereien einige Zeit fort. Alsdann verabredeten sie, mit dem Werfen aufzuhören. Der Kläger ging hierauf ein Stockwerk tiefer, um sich in einer dort befindlichen Wassertonne die Hände zu waschen. D und R gingen kurz darauf - am Kläger vorbei - das Treppenhaus hinunter. Als sie den Treppenabsatz unterhalb des Stockwerks erreicht hatten, in dem sich der Kläger befand, warf dieser nach ihnen mit weichem Ätzkalk. R wurde von einem Klumpen im Nacken getroffen. Daraufhin eilten beide zu einer im darunter gelegenen Stockwerk aufgestellten Kalkpfanne. Bei den Kalkklumpen, mit denen sich D, R und der Kläger nun bewarfen, handelte es sich um breiigen, angelöschten Kalk, der vor drei Tagen eingesumpft worden war. Der Kläger wurde durch einen Wurf in beiden Augen getroffen, worauf er sich mit seinen mit Kalk beschmierten Händen die kalkverätzten Augen rieb. Die Universitäts-Augenklinik Kiel, in die der Kläger gebracht wurde, stellte fest, daß das rechte Auge erblindet ist und der Kläger auf dem linken Auge nur noch Handbewegungen und Umrisse wahrnehmen kann.
R gegen den Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung erhoben wurde, wurde vom Jugendgericht Lübeck mit der Begründung freigesprochen, daß nicht erweisbar sei, ob er oder D den folgenschweren Wurf getan habe. Aus demselben Grund stellte der Oberstaatsanwalt F das Verfahren gegen D ein.
Die Beklagte versagte mit Bescheid vom 13. März 1963 die vom Kläger begehrte Unfallentschädigung, weil dieser durch sein Verhalten den ursächlichen Zusammenhang mit seiner betrieblichen Tätigkeit gelöst, der während der Neckerei eingetretene Unfall somit nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe.
Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat durch Urteil vom 2. Oktober 1963 die Klage abgewiesen. Der von ihm als Zeuge gehörte Polier L habe bekundet, daß er dem Kläger das Einsumpfen von Kalk gezeigt und ihn nicht nur auf die hierbei auftretenden besonderen Gefahren aufgeklärt, sondern ihm außerdem gesagt habe, daß der Kalk an sich gefährlich sei. Der vom Kläger erhobene Einwand, er habe angelöschten Kalk für harmlos gehalten, sei daher unglaubwürdig, überdies auch rechtlich unerheblich.
Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 2. Juli 1964 die Entscheidung des SG sowie den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, durch einen neuen Bescheid dem Kläger Leistungen aus der Unfallversicherung zu gewähren.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seines Urteils ausgeführt:
Auf einer Baustelle herumstehender gelöschter Kalk stelle eine Betriebseinrichtung dar. Eine von dieser ausgehende Gefahr habe der Arbeitgeber zu vertreten. Hinsichtlich der Kenntnis der mit der Spielerei verbundenen Gefahr und des Grades der Vernunftwidrigkeit komme es nicht auf die der Mitbeteiligten D und R an. Im Kommentar zur Unfallversicherung von Lauterbach (Anm. 59 zu § 548 der Reichsversicherungsordnung - idF des Art. 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - RVO nF -) werde zutreffend darauf hingewiesen, daß für einen Beschäftigten grundsätzlich Versicherungsschutz bestehe, wenn ein Arbeitskamerad von sich aus auf der Arbeitsstätte eine Spielerei oder Neckerei beginne und jenen verletze; der Versicherungsschutz entfalle allerdings, wenn er sich auf die Spielerei des anderen einlasse und durch eigene Handlungen fortsetze oder verlängere. Deshalb sei rechtlich nur bedeutsam, ob der an sich anzuerkennende ursächliche Zusammenhang infolge Verletzung durch einen Dritten wegen des dem Verletzten anzurechnenden eigenen Verhaltens entfallen sei. Somit komme es allein darauf an, ob der Kläger die von dem gelöschten Kalk ausgehende erhebliche Gefahr gekannt habe und es deshalb geboten sei, die Art seiner Mitwirkung an der Spielerei - aus seiner Sicht gesehen - als in hohem Grade vernunftwidrig zu bezeichnen. Der Polier L habe den Kläger während des Kalkeinsumpfens zwar auf die Gefährlichkeit dieses Vorgangs, aber nicht auch noch auf die Gefährlichkeit bereits angelöschten Kalks hingewiesen. Dafür habe jedoch um so mehr Veranlassung bestanden, als der Kläger während des Einsumpfens sich darüber verwunderte, daß der Kalk während der Wasseraufnahme stark gebrodelt habe; der Polier hätte daraus erkennen müssen, daß der Kläger offensichtlich völlig unerfahren gewesen sei. Die nicht widerlegte Darstellung des Klägers sei daher glaubhaft, daß die Gefährlichkeit bereits eingesumpften Kalks ihm nicht bekannt gewesen sei. Eine solche Kenntnis könne nicht bei jedem erwachsenen Menschen als gerichtsbekannt vorausgesetzt werden, beim Kläger auch nicht etwa deshalb, weil sein Vater früher einmal Bauführer gewesen sei. Da der Kläger die von angelöschtem Kalk für das Augenlicht bestehende Gefahr nicht gekannt habe, stelle dessen Benutzung zu spielerischen Zwecken eine den Anspruch auf Unfallentschädigung auslösende wesentliche Teilursache dar. Sonstige Umstände, welche die Mitwirkung des Klägers an der Spielerei trotz der mangelnden Kenntnis von der damit verbundenen Gefahr als in hohem Grade vernunftwidrig erscheinen ließen, hätten nicht festgestellt werden können.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und diese im wesentlichen wie folgt begründet:
Eine Neckerei unter Arbeitskollegen in der Art und Weise, wie sie vom Kläger und dessen Kollegen veranstaltet worden sei, löse den Zusammenhang mit der versicherten betrieblichen Tätigkeit. Der Kläger sei für dieses Verhalten voll verantwortlich, denn er sei damals bereits volljährig gewesen. Das Berufungsgericht habe nicht ausreichend geprüft, ob der Kläger als Angehöriger einer Familie von Bauarbeitern die Gefährlichkeit des Kalks nicht doch gekannt habe. Durch das gegenseitige Bewerfen mit Kalk hätten der Kläger und seine Arbeitskollegen aus Gründen hochgradiger Vernunftwidrigkeit eine Gefahrenlage geschaffen, auf die der Unfall des Klägers zurückzuführen sei. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts komme es sonach nicht darauf an, ob der Kläger über die Gefährlichkeit ungelöschten Kalks vom Arbeitgeber belehrt worden sei. Da der Kläger bereits erwachsen gewesen sei, seien derartige Verschuldensprobleme auf Seiten der Unternehmensleitung in der gesetzlichen Unfallversicherung ebensowenig bedeutungsvoll wie Fragen des Verschuldens auf Seiten des Versicherten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind gegeben.
Die Revision ist begründet. Das LSG hat zu Unrecht angenommen, daß ein Arbeitsunfall (§ 542 RVO aF) vorliegt.
Eine Neckerei unter Betriebsangehörigen ist - als ein den Zwecken des Betriebes zuwiderlaufendes Verhalten - grundsätzlich als die rechtlich allein wesentliche Ursache für einen Unfall, der sich während einer solchen Neckerei ereignet, anzusehen. Der Umstand, daß die Neckerei am Arbeitsort und während der Arbeitszeit stattgefunden und eine Betriebseinrichtung beim Zustandekommen des Unfalls mitgewirkt hat, vermag im allgemeinen keinen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit herzustellen (RVA, AN 1906, S. 509 Nr. 2163; BSG SozR Nr. 55, 74 zu § 542 RVO aF, SozR Nr. 2 zu § 548 RVO nF; Urteil des erkennenden Senats vom 30. Juli 1958 - 2 RU 119/57 -; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 59 zu § 548 RVO).
Dieser innere Zusammenhang ist, wie der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 14. Januar 1965 (SozR Nr. 74 zu § 542 RVO aF) des näheren ausgeführt hat, grundsätzlich nicht gegeben, wenn der Unfall sich infolge einer Neckerei ereignet hat, die vom Verletzten begonnen worden und dieser hierbei deshalb zu Schaden gekommen ist, weil ein von ihm geneckter Arbeitskollege in Reaktion auf die Handlungsweise des Verletzten gegen diesen bewußt eine Betriebseinrichtung eingesetzt hat. Der erkennende Senat trägt keine Bedenken, sich dieser auch im Schrifttum gebilligten Auffassung (s. Lauterbach aaO) anzuschließen. Der vorliegenden Streitsache liegt ein im wesentlichen ähnlicher Sachverhalt zu Grunde, über den seinerzeit der 5. Senat zu entscheiden hatte. Mit diesem ist deshalb - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - davon auszugehen, daß die vom Kläger erneut angefangene Neckerei seiner Arbeitskollegen in keinem inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit gestanden hat. Ebensowenig trifft dies auf den den Kläger erheblich verletzenden Gegenwurf eines seiner Arbeitskollegen zu, da dieser nur die - ebenfalls eines inneren Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit entbehrende - Reaktion auf die vom Verletzten begonnene, den Interessen des Betriebes zuwiderlaufende Handlungsweise des Klägers gewesen ist.
Entgegen der Meinung des Berufungsgerichts ist der Umstand ohne rechtliche Bedeutung, der Kläger habe mangels ausreichender Belehrung durch den Arbeitgeber oder dessen Beauftragten die Gefährlichkeit von angelöschtem Kalk nicht gekannt.
Der Kläger war z.Zt. des Unfalls 21 Jahre alt, also in einem Lebensalter, in dem er keiner Beaufsichtigung durch betriebliche Organe gegen etwaige von der Betriebsstätte ausgehende Gefahren mehr bedurft hat (SozR Nr. 68 zu § 542 RVO aF). Angesichts des Verlaufs der vorangegangenen Neckerei hat er damit rechnen müssen, daß von seinen Arbeitskollegen wiederum auf ihn geworfen würde, nachdem er - entgegen der Absprache, mit der Neckerei aufzuhören - erneut zu werfen angefangen hatte. Der Kläger hat sich - als erwachsener Mensch - ferner darüber klar sein müssen, daß er unter Umständen mit nicht ungefährlichen Dingen beworfen werden würde, vor allem dann, wenn der von ihm zum Werfen benutzte Kalk - nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine breiige Masse - einen seiner Kollegen an Körperstellen treffen würde, wo diese weiche Masse sich besonders unangenehm bemerkbar machen würde. Sonach ist nicht entscheidend, daß dem Kläger nach seiner Behauptung, die das Berufungsgericht für nicht widerlegbar gehalten hat, die Gefährlichkeit des von ihm zum Werfen benutzten angelöschten Kalks mangels ausreichender Belehrung nicht bekannt gewesen ist.
Aus den Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich kein Anhalt dafür, daß die vom Kläger geneckten Bauhandwerker sich des Grades der Gefährlichkeit der von ihnen zum Werfen verwendeten Kalkklumpen nicht bewußt und dafür Versäumnisse der Betriebsleitung ursächlich gewesen sind. Es kann somit dahingestellt bleiben, ob solche Umstände als versicherungsrechtlich bedeutsam anzusehen wären.
Da ein innerer Zusammenhang des Unfalls des Klägers mit seiner betrieblichen Tätigkeit nicht vorliegt, war das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
Fundstellen