Orientierungssatz
Berufsunfähigkeit: Teilzeitarbeit - Vorhandensein geeigneter Arbeitsplätze - Grundsätze des GS des BSG im Beschluß vom 1976-12-10 GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 13.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 22.09.1976; Aktenzeichen L 3 An 124/75) |
SG Heilbronn (Entscheidung vom 12.12.1974; Aktenzeichen S 4 An 323/74) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. September 1976 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) bzw Berufsunfähigkeit (BU) zu gewähren ist.
Die 1917 geborene Klägerin war als Korrespondentin, Kontoristin, Kanzleiangestellte und Behördenangestellte beschäftigt, zuletzt als Hilfssachbearbeiterin in der Vergütungsgruppe V c Bundesangestelltentarif (BAT). Seit August 1973 war sie arbeitsunfähig krank geschrieben; im April 1975 wurde ihr Arbeitsverhältnis (zum 31. Mai 1975) gekündigt.
Den im September 1973 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte nach Einholung medizinischer Gutachten mit Bescheid vom 15. Februar 1974 ab, weil die Klägerin in ihrem bisherigen Beruf als Sachbearbeiterin noch mindestens halbschichtig tätig sein könne. Gleichzeitig bot sie der Klägerin eine klinische Heilbehandlung an; diese wurde im Mai/Juni 1974 durchgeführt.
Die Klage auf Gewährung von Rente bzw. Übergangsgeld haben die Vorinstanzen abgewiesen (Urteile vom 12. Dezember 1974 und 22. September 1976). Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt: Die Klägerin könne in ihrem Beruf noch 6 Stunden (arbeitstäglich) tätig sein, zumindest die gesetzliche Lohnhälfte iS von § 23 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) erzielen. Nach Auskünften der Bundesanstalt für Arbeit (BA) sei der Teilzeitarbeitsmarkt für weibliche Verwaltungsangestellte und Kontoristinnen praktisch nicht verschlossen; konjunkturbedingte Schwankungen der Arbeitsmarktlage müßten außer Betracht bleiben. Möglicherweise würde die Klägerin sogar bei ihrem früheren Arbeitgeber halbtags beschäftigt; hierauf deute eine Formulierung im Kündigungsschreiben ("auch nur zeitweise") hin.
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Klägerin,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Übergangsgeld bzw Rente wegen EU, mindestens wegen BU vom 1. Oktober 1973 an zu gewähren,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Zur Begründung insbesondere des Hilfsantrags beruft sie sich auf den Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Dezember 1976 zur Teilzeitarbeit.
Die Beklagte schließt sich dem Hilfsantrag der Klägerin an.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insofern begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); seiner Entscheidung sind neue tatsächliche Feststellungen zugrunde zu legen, die der Senat nicht treffen kann.
Das LSG hat sein Urteil an den Grundsätzen ausgerichtet, die der Große Senat des BSG in den Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167 und 192) aufgestellt hatte. Danach war es für die Beurteilung, ob ein Versicherter, der nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, im Sinne von § 23 Abs 2 AVG (§ 1246 Abs 2 RVO) berufsunfähig ist, erheblich, daß Teilzeitarbeitsplätze, frei oder besetzt, in bestimmter Anzahl vorhanden waren. Der Arbeitsmarkt war dem Versicherten praktisch verschlossen, wenn im Verweisungsgebiet das Verhältnis der Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für Teilzeitbeschäftigungen ungünstiger war als 75:100; Verweisungsgebiet war grundsätzlich die gesamte Bundesrepublik Deutschland.
An diesen Entscheidungssätzen hat der Große Senat in seinem auf die Vorlagen mehrerer Senate des BSG hin am 10. Dezember 1976 ergangenen Beschluß (GS 2/75, 3/75, 4/75 und 3/76) nur zum Teil festgehalten. Leitender Grundsatz blieb zwar, es sei erheblich, daß Arbeitsplätze vorhanden sind, auf denen tätig zu sein den Versicherten zuzumuten ist und die er mit der verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann (Entscheidungssatz Nr 1). Ein Versicherter kann auch nach der neuen Entscheidung (Entscheidungssatz Nr 2) auf Tätigkeiten nur verwiesen werden, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch nicht verschlossen ist. Der Große Senat hat aber die bisherige Rechtsprechung in der Frage der Beurteilung aufgegeben, wann der Arbeitsmarkt verschlossen ist, weil sich in der Verwaltungspraxis und in der Rechtsprechung inzwischen herausgestellt hat, daß die Zahl der im Verweisungsgebiet in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze und die Zahl der Interessenten - insbesondere ihr zahlenmäßiges Verhältnis zueinander - regelmäßig nicht zu ermitteln sind (Beschluß vom 10. Dezember 1976, S. 17).
Insoweit hat der Große Senat neue Grundsätze unter Heranziehung der Vorschriften über die berufliche Rehabilitation (berufsfördernde Leistungen) im Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (§ 11 Abs 2 Nr 1) und im AVG bzw in der Reichsversicherungsordnung (RVO) (§§ 13 Abs 1, 14 a AVG; §§ 1236 Abs 1, 1237 a RVO) entwickelt. Sie basieren auf der Verpflichtung (auch) des Rentenversicherungsträgers, Hilfen zur Erlangung oder Erhaltung eines Arbeitsplatzes zu gewähren; diese Aufgabe verpflichtet ihn zu prüfen, ob dem leistungsgeminderten Rentenbewerber der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. Die hierzu erforderlichen Feststellungen sind nach der Auffassung des Großen Senats dabei am ehesten im Zusammenwirken mit dem für den Versicherten zuständigen Arbeitsamt zu treffen. Gelingt es beiden Behörden nicht, dem Versicherten - in der Regel innerhalb eines Jahres seit der Stellung des Rentenantrages - einen ihm entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz anzubieten, ist grundsätzlich die Annahme begründet, daß der Teilzeitarbeitsmarkt für ihn praktisch verschlossen ist; die Verschlossenheit steht dann rückwirkend zum Zeitpunkt des Rentenantrages fest (Großer Senat aaO, S. 20). Um die Prüfung der konkreten Arbeitsmarktlage gezielt und zügig durchführen zu können, wird der Rentenversicherungsträger zusammen mit der BA geeignete Verfahren entwickeln müssen. Der Versicherte selbst hat nach Kräften mitzuwirken (§ 4 Satz 1 und 2 RehaAnglG); insbesondere hat er sich zum frühestmöglichen Zeitpunkt beim zuständigen Arbeitsamt als Arbeitsuchender zu melden.
Da die erforderliche Prüfung, ob der Teilzeitarbeitsmarkt offen oder verschlossen ist, nach diesen neuen Richtlinien des Großen Senats hier noch nicht erfolgt ist, ist sie nachzuholen (Großer Senat aaO, S. 24). Dazu gehören im vorliegenden Fall Ermittlungen darüber, ob schon der letzte Arbeitgeber der Klägerin eine ihr zumutbare Teilzeitarbeit angeboten hat oder anbieten kann. Trifft dies nicht oder nur für einen Teil der streitigen Zeit zu, dann müßte der Beklagten im weiteren - zweckmäßigerweise durch (evtl. formlose) Aussetzung des Verfahrens - Gelegenheit gegeben werden festzustellen, ob sie gemeinsam mit dem regionalen Arbeitsamt innerhalb eines Jahres der Klägerin einen von ihr ausfüllbaren Arbeitsplatz anbieten kann, es sei denn, die Klägerin hätte nach Beendigung ihres letzten Arbeitsverhältnisses schon von sich aus beim Arbeitsamt (regelmäßig) um Arbeit nachgesucht oder sonstige Umstände ließen bereits erkennen, daß ihr ein entsprechender Arbeitsplatz nicht (mehr) angeboten werden kann (Großer Senat aaO, S. 21). Bei diesen Vermittlungsbemühungen ist zu beachten, daß der Große Senat nunmehr das Verweisungsgebiet für alle Teilzeitarbeitsuchenden in der Regel auf den regionalen Arbeitsmarkt beschränkt hat, der durch tägliches Pendeln von der Wohnung aus zu erreichen ist (Großer Senat aaO, S. 25). Je nach dem Ergebnis der Bemühungen wird das LSG dann Schlüsse daraus zu ziehen haben, ob der Klägerin der Teilzeitarbeitsmarkt von der Stellung des Rentenantrages (September 1973) an oder ab einem späteren Zeitpunkt offen oder verschlossen war; während des Verfahrens erfolgte Angebote geeigneter Teilzeitarbeit (s. hierzu Großer Senat aaO, S. 20 Abs 3) können insoweit von Bedeutung sein. Auch inzwischen eingetretene Veränderungen des Gesundheitszustandes der Klägerin sind unter Umständen beachtlich (Großer Senat aaO, S. 24).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen