Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes für einen durch spielerische Betätigung des verletzten Jugendlichen verursachten Unfall.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. März 1960 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger, der am 26. Februar 1943 geboren ist, beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Unfalls vom 17. Mai 1956. Er hatte an diesem Tage im landwirtschaftlichen Unternehmen des Landwirts Sch beim Zucker rübenverziehen geholfen. Bei der anschließenden Mahlzeit in der Küche des Unternehmers verletzte er sich an einem zerbrechenden Kelchglas die rechte Hand und zog sich eine ausgedehnte Schnittwunde der rechten Hohlhand mit Durchtrennung fast aller Beugesehnen der Finger 2 bis 5 und Verletzung der tiefen Hohlhandarterien zu.
Über den Hergang dieses Unfalls enthält das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) folgende Feststellungen:
"Am Unfalltag waren gegen Abend die Kinder, die den Nachmittag über im Unternehmen Sch beim Zuckerrübenverziehen geholfen hatten, in der Küche des Anwesens Sch versammelt, wo sie vesperten und auf die Auszahlung ihres Lohnes warteten. Die Küche ist verhältnismäßig klein; die Mahlzeit wurde den Kindern am Tische gereicht, der sich - von der Tür aus gesehen - an der linken Wand befand. An der rechten Wand war der Spülstein angebracht; nach der hinteren Ecke zu schloß sich ein Kartoffelkessel an. Die Kinder bekamen zum Trinken Most mit Limonade, wovon der Kläger etwa 3 Glas trank. Die Gläser waren ziemlich dickwandig, hatten einen halbkugelförmigen Kelch und faßten etwas weniger Flüssigkeit als ein übliches Weinglas. Bei der Mahlzeit war der Kläger recht ausgelassen. Ob die anderen Kinder an seiner Ausgelassenheit teilgenommen haben, konnte nicht mehr eindeutig geklärt werden. Durch die Zeugenaussagen ist aber einwandfrei erwiesen, daß die damals bereits volljährige Tochter des Unternehmers Sch die Zeugin Elfriede Sch, den Kläger mindestens einmal, aller Wahrscheinlichkeit sogar mehrmals, zur Ordnung gerufen hat. Der Zeuge V war als erster mit der Mahlzeit fertig und reinigte außerhalb der Küche seine Schuhe mit einer Bürste, die ihm die Zeugin Sch gegeben hatte. Nachdem auch der Kläger seine Mahlzeit beendet hatte, nahm er sein Glas und ging damit zum Spülstein, wo er es nach dem Ausspülen zum Teil oder ganz mit Wasser füllte. Als der Kläger noch am Spülstein stand, kam der Zeuge V wieder zur Küchentür herein. Der Kläger wandte sich ihm zu und fragte ihn: 'Soll ich, soll ich?' Die Zeugin N konnte nun beobachten, daß er mit dem Glas nach hinten ausholte und dabei gegen einen Gegenstand (Spülstein oder Kartoffelkessel) oder gegen die Wand stieß; dabei zerschlug das Glas und verletzte ihm die Hand. Der Zeuge V hatte anschließend eine Schnittwunde an der Stirn, die wahrscheinlich von einem Glassplitter herrührte. Da der Zeuge etwa 1 1/2 bis 2 Meter von dem Kläger entfernt war und sich geduckt hatte, ist so unwahrscheinlich, daß der Kläger das Glas an dem Kopf des Zeugen V zerschlagen hat. Da der Kläger unmittelbar nach dem Zerschlagen des Glases offenbar noch eine Schüttbewegung in Richtung auf den Zeugen V ausgeführt hat, hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein Glassplitter gelöst, der dann auf den Zeugen V zugeflogen ist. Daß er den Zeugen V mit dem Glas nicht geschlagen hat, ergibt sich u. a. auch daraus, daß der größte Teil der Glassplitter in der Ecke zwischen Spülstein und Kartoffelkessel gelegen hat. Die Beweisaufnahme hat nicht ergeben, daß der Kläger während dieses ganzen Geschehens auf den Boden der Küche gefallen ist."
Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche durch Bescheid vom 8. Februar 1957 ab. Sie sah als erwiesen an, der Kläger habe ein Trinkglas in die Hand genommen, um mit Wasser zu spritzen und am Spültisch stehend das Glas offenbar gegen den Tisch oder einen anderen Jungen zu geschwenkt. Dabei habe er das Glas vermutlich irgendwo angeschlagen, so daß der Kelch vom Stiel abgesprungen sei. Zur Begründung der Ablehnung ist u. a. ausgeführt, die Spielerei während des Vesperns habe mit der landwirtschaftlichen Betriebstätigkeit nichts mehr zu tun gehabt. Die Verletzung könne mit der zuvor verrichteten Arbeit nicht mehr in Zusammenhang gebracht werden, vielmehr sei der Kläger einer Gefahr erlegen, die ausschließlich in seiner Ausgelassenheit begründet gewesen sei.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Stuttgart erhoben. Zur Begründung hat er u. a. darauf hingewiesen, daß die Mahlzeit zum Entgelt gehört habe und das durch die Arbeit bedingte Zusammensein mit den anderen Kindern dem Kläger Anlaß geboten habe, sich den anderen Kindern gegenüber durch sein Verhalten hervorzutun. Die Beklagte hat demgegenüber vorgetragen, der Unfall habe sich nach Beendigung der Arbeit und nicht innerhalb des Gefahrenbereichs der Arbeit ereignet; es handele sich um einen Unfall, wie er in jedem Haushalt möglich sei. Das SG hat durch Urteil vom 25. Februar 1958 die Klage als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung hat das SG nach einem Hinweis auf EuM 12, 106 hinsichtlich der Bedeutung von Leichtsinn und Unvernunft für den Entschädigungsanspruch aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) ausgeführt, das Trinkglas, mit dem der Kläger gespielt habe, sei keine landwirtschaftliche Betriebseinrichtung, die besonders zum Spielen reize und außergewöhnliche Gefahren biete. Der Gefahrenbereich sei hier vielmehr allein durch das Verhalten des Klägers geschaffen worden. Eine Aufsichtspflichtverletzung seitens des Unternehmers liege nicht vor (EuM 33, 286). Das Spielen während des Vesperns habe eine Lösung von der Betriebstätigkeit zur Folge gehabt.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung beim LSG Baden-Württemberg eingelegt. In tatsächlicher Beziehung hat er zur Begründung vorgetragen, er sei mit dem Glas in der Hand hingefallen und habe sich hierbei die Verletzung zugezogen.
Das LSG hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 9. März 1960 die im Zeitpunkt der Vernehmung 18 Jahre alte Monika N vernommen, die im Zeitpunkt des Unfalls als Hausgehilfin bei dem Landwirt Sch beschäftigt war, und den im Zeitpunkt der Vernehmung 20 Jahre alten Johann V, der mit an dem Rübenverziehen teilgenommen hatte.
Durch Urteil vom 9. März 1960 hat das LSG die Berufung als unbegründet zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Zur Begründung hat das LSG u. a. ausgeführt: Selbst wenn man den Aufenthalt in der Küche und die Einnahme der Mahlzeit, weil sie mit dem Warten auf Entlohnung verbunden gewesen sei, als versicherte Tätigkeit ansehe, gelte das nicht für das Verhalten des Klägers, das zur Verletzung geführt habe. Der Spieltrieb von Kindern sei zwar zu berücksichtigen. Jedoch komme es entscheidend darauf an, ob die Kinder Gefahren erlegen seien, die gerade dem Unternehmen eigentümlich seien (z. B. Verletzungen an einer Maschine). Der Kläger sei durch ein Verhalten verunglückt, das in keinem Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit gestanden habe. Daß er das Glas möglicherweise an einem Kartoffelkessel zerschlagen habe, rechtfertige nicht die Annahme eines Arbeitsunfalls, weil es sich dabei nicht um eine typische Betriebsgefahr handele, der Unfall vielmehr genausogut hätte entstehen können, wenn sich an Stelle des Kartoffelkessels eine der üblichen Kücheneinrichtungen befunden oder der Kläger nur gegen die Wand geschlagen hätte. Auch aus dem Gesichtspunkt einer Verletzung der Aufsichtspflicht durch den Unternehmer oder dessen Tochter lasse sich die Annahme eines Arbeitsunfalls nicht rechtfertigen; die Tochter habe ihrer Aufsichtspflicht dadurch genügt, daß sie den Kläger einmal, wenn nicht mehrmals zur Ordnung gerufen habe. Sie habe auch nicht damit rechnen können, daß der Kläger möglicherweise Unfug treiben wollte, als er sich zum Spülstein begeben habe. Auch sei in der Küche eine besondere betriebliche Gefährdung für sie nicht voraussehbar gewesen. Es sei deshalb unerheblich, ob die Tochter im Unfallzeitpunkt tatsächlich in der Küche anwesend gewesen sei. Die Verletzung sei auf eine eigenwirtschaftliche, völlig betriebsfremde Tätigkeit zurückzuführen. Die Revision werde zugelassen, weil mit der Abgrenzung zwischen betrieblicher und eigenwirtschaftlicher Tätigkeit bei einem aus Übermut verunglückten 13jährigen Kind über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung entschieden worden sei.
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat das Urteil des LSG am 5. Mai 1960 erhalten und am 18. Mai 1960 beim Bundessozialgericht (BSG) Revision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 5. August 1960 (§ 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) hat er die Revision am 10. Juni 1960 begründet. Er führt u. a. aus, die Mahlzeit sei ein Naturallohn neben der gewährten Barentlohnung gewesen. Infolgedessen sei die versicherte Tätigkeit erst nach dem Essen und nach der Lohnauszahlung beendet gewesen. Die Besonderheit des Falles liege darin, daß der Kläger zur Zeit des Unfalls ein erst 13 Jahre altes Kind gewesen sei, andererseits aber nicht durch ein typisch landwirtschaftliches Betriebsgerät zu Schaden gekommen sei. Der Unfall habe sich bei einer Spielerei bzw. Neckerei ereignet. Derartiges sei bei erwachsenen Personen kein Arbeitsunfall. Bei Kindern müßten wegen ihres natürlichen Spieltriebs auch solche Unfälle als Arbeitsunfälle anerkannt werden, bei denen die Kinder einer Gefahr erlegen seien, der sie durch eine eigene Betriebstätigkeit ausgesetzt waren und deren Gefahrenbereich der Unternehmer zu vertreten habe. Den Versicherungsschutz dürfe man nicht auf Fälle beschränken, in denen das spielende Kind einer besonderen von einem Betriebsgerät ausgehenden Gefahr erlegen sei. Das wäre eine unzulässige Einengung des Begriffs des Arbeitsunfalls, da jeder Arbeitsunfall schlechthin geschützt sei, ohne daß es auf eine besondere betriebliche Gefahr ankomme. Es müsse genügen, wenn die Betriebstätigkeit in allen ihren Erscheinungsformen wesentliche Bedingung des Unfallgeschehens gewesen sei. Dabei sei insbesondere zu berücksichtigen, daß ein Kind gerade dann, wenn es im Kreis von Altersgenossen einer Beschäftigung nachgehe, den naturgegebenen Hang habe, sich unter diesen durch kleine Ungezogenheiten und Neckereien besonders hervorzutun und dadurch - wie im vorliegenden Fall - eine Gefahrenlage schaffe. Dadurch werde das Handeln des Kindes aber nicht zu einer eigenwirtschaftlichen, völlig betriebsfremden Tätigkeit. Vielmehr sei gerade in solchen Fällen die Betriebstätigkeit neben dem Spieltrieb wesentliche Bedingung des Unfallgeschehens.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers als unbegründet abzuweisen.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Das Landessozialgericht ist, ohne hierauf ausdrücklich einzugehen, mit Recht davon ausgegangen, daß der im Zeitpunkt des Unfalls erst 13 Jahre alte Kläger in dem landwirtschaftlichen Unternehmen des Landwirts Sch am Unfalltage eine Tätigkeit ausgeübt hat, während derer er unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand. Es hat aber mit Recht das Vorliegen eines Arbeitsunfalles (§ 542 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF) verneint.
Es kann dahingestellt bleiben, ob auch der Aufenthalt im Wohngebäude des landwirtschaftlichen Anwesens während der Mahlzeit und bis zur Aushändigung der Barentlohnung der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist; denn der dadurch begründete örtliche und zeitliche Zusammenhang zwischen dem Unfall und dieser Tätigkeit reicht nicht aus, um eine auch rechtlich wesentliche ursächliche Verknüpfung zu begründen. Nach den von der Revision nicht mit begründeten Rügen angegriffenen Feststellungen des LSG (vgl. § 163 SGG) ist der Unfall durch ein spielerisches Verhalten des Klägers verursacht worden, das nicht der versicherten Tätigkeit diente, sondern im Gegenteil geeignet war, den Abschluß dieser Tätigkeit zu stören. Allerdings genügt, wie das LSG auch nicht verkannt hat, der Umstand, daß sich der Unfall bei einer Spielerei ereignet hat, für sich allein nicht, um einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis zu verneinen. Im einzelnen wird hierzu auf die Entscheidungen des erkennenden Senats in SozR RVO § 542 aF Nr. 55 und Nr. 68 hingewiesen. Das LSG hat auch nicht verkannt, daß bei zur Arbeit herangezogenen Kindern die von dem natürlichen Spieltrieb ausgehenden Gefahren besonders zu berücksichtigen sind (vgl. hierzu z. B. Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 548 nF Anm. 59, S. 230). Daß der Kläger durch das Zusammensein mit den anderen Kindern in der Küche veranlaßt worden sein mag, seinen Spieltrieb zu betätigen und sich den anderen Kindern gegenüber durch sein Verhalten hervorzutun, genügt jedoch - entgegen der Auffassung der Revision - nicht, um einen auch rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis bejahen zu können. Vielmehr wäre dazu erforderlich, daß für den Eintritt des Unfallereignisses auch Gefahren ursächlich waren, die vom Unternehmen, z. B. von seinen Einrichtungen oder von der Gestaltung des Arbeitsplatzes oder der Art der Arbeit ausgingen. Diese Voraussetzung ist, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, im vorliegenden Falle nicht gegeben. Das spielerische Verhalten des Klägers steht vielmehr als rechtlich wesentliche Ursache des Unfalls derart im Vordergrund, daß demgegenüber die ursächlichen Verknüpfungen mit der versicherten Tätigkeit im Unternehmen des Landwirts Sch als rechtlich unwesentlich zurücktreten müssen.
Eine Verletzung der Aufsichtspflicht, die dem Unternehmer gegenüber von ihm beschäftigten Kindern obliegt, scheidet im vorliegenden Fall, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, aus.
Da das LSG hiernach ohne Rechtsirrtum die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des SG Stuttgart zurückgewiesen hat, ist die Revision unbegründet und war zurückzuweisen (§ 170 SGG).
Die Entscheidung über außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund des § 193 SGG.
Fundstellen