Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit der Berufung. Formerfordernis der Berufungsschrift. Berufungsfrist. reformatio in peius. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Orientierungssatz
1. Die Zulässigkeit der Berufung ist eine Prozeßvoraussetzung, von der die Rechtswirksamkeit des gesamten auf die Berufung folgenden Verfahrens abhängt. Sie ist deshalb im Verfahren über eine statthafte Revision von Amts wegen zu prüfen (vgl BSG 1956-02-29 = BSGE 2, 225).
2. Die Berufung ist gemäß SGG § 151 Abs 1 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich einzulegen, für diese Schriftlichkeit genügt nicht die Beglaubigung, die Berufung muß vielmehr handschriftlich unterzeichnet sein (vgl BSG 1957-04-11 7 RAr 85/56 = BSGE 5, 110).
3. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird nicht gewährt, wenn die Berufungsfrist verschuldet versäumt wurde.
4. Das Verbot der reformatio in peius gilt nicht, wenn Rechtsfolgen ausgesprochen werden, zu denen eine fehlende Prozeßvoraussetzung zwingt.
Normenkette
SGG § 158 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 151 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 170 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 15.02.1957) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 12.06.1956) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Februar 1957 aufgehoben; die Berufung der Beklagten wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens vor dem Landessozialgericht und dem Bundessozialgericht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger war Reichsbahninspektor und bis 11. April 1954 bei der Reichsbahndirektion M beschäftigt. Nach seiner Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone gewährte ihm das Arbeitsamt (ArbA.) N auf den Antrag vom 21. Juni 1954 Arbeitslosenunterstützung (Alu), deren Dauer nach § 99 Abs. 1 Satz 1 bis 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) a. F. zunächst auf 45 Wochen und am 28. April 1955 auf 52 Wochen festgesetzt wurde.
Nach der Mitteilung der Bundesbahndirektion M, der Kläger habe nach dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (G 131) vom 1. Juni 1954 an Anspruch auf ein Übergangsgehalt in Höhe von DM 200,- monatlich, entzog das ArbA. durch Verfügung vom 24. Mai 1955 die Alu vom 10. Dezember 1954 an und forderte mit Schreiben vom 26. Mai 1955 die vom 10. Dezember 1954 bis zum 4. Mai 1955 gezahlte Alu in Höhe von DM 1156,25 zurück. Da der Kläger Übergangsgehalt erhalte, könne die Alu nur für 156 Tage gezahlt werden; die "Sonderbezugsdauer" nach § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG a. F. entfalle.
Den Widerspruch des Klägers wies die Widerspruchsstelle des ArbA. am 9. September 1955 zurück.
Auf die Klage vom 21. September 1955 hob das Sozialgericht (SG.) Koblenz durch Urteil vom 12. Juni 1956 den Widerspruchsbescheid auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger den Betrag von DM 1156,25 auszuzahlen und ihm Alu für die Zeit vom 6. Mai bis zum 10. Juni 1955 zu zahlen. Die Berufung wurde zugelassen. In der Rechtsmittelbelehrung wurde darauf hingewiesen, daß die Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG.) in Mainz, Ernst-Ludwig-Straße 1, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen sei. Die Berufungsfrist sei auch gewahrt, wenn die Einlegung der Berufung innerhalb der Frist mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG. Koblenz erklärt werde. Die Berufungsschrift solle das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.
Dieses Urteil wurde am 7. August 1956 dem Direktor des ArbA. Niederlahnstein, R zugestellt; er hat das mit dem Datum der Aushändigung (7.8.1956) versehene Empfangsbekenntnis eigenhändig unterschrieben.
Der Präsident des Landesarbeitsamts (LArbA.) Rheinland-Hessen-Nassau legte mit Schriftsatz vom 30. August 1956, beim LSG. eingegangen am 31. August 1956, Berufung ein. Der Schriftsatz ist in Schreibmaschinenschrift unterzeichnet mit "Im Auftrage: gez. B" Daneben steht der mit dem Dienststempel des LArbA. versehene maschinenschriftliche Vermerk: "Beglaubigt:..", der von einem Regierungsinspektor handschriftlich unterschrieben ist. Begründet wurde die Berufung durch einen handschriftlich mit "P unterzeichneten Schriftsatz vom 6. September 1956, der am 13. September 1956 beim LSG. Rheinland-Pfalz eingegangen ist. Die Beklagte beantragte, das Urteil des SG. aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Das LSG. änderte durch Urteil vom 15. Februar 1957 das Urteil des SG. und die Bescheide des ArbA. N vom 24. Mai und 9. September 1955 dahin ab, daß der Kläger der Beklagten nur einen Betrag von DM 934,25 zu erstatten habe; den Betrag von DM 222,- habe die Beklagte dem Kläger zurückzuzahlen; im übrigen wurde die Klage abgewiesen. Die Revision wurde zugelassen.
Am 2. Mai 1957 wurde dem Kläger das Urteil zugestellt; mit Schriftsatz vom 1. Juni 1957, eingegangen am 2. Juni 1957, legte er Revision ein. Er beantragte, das Urteil des LSG. "dahin abzuändern, daß die Berufung zurückgewiesen wird", hilfsweise, die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Das LSG. hat zu Unrecht in der Sache entschieden. Die Berufung ist in der gesetzlichen Frist nicht schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt; sie ist als unzulässig zu verwerfen (§ 158 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die Zulässigkeit der Berufung ist eine Prozeßvoraussetzung, von der die Rechtswirksamkeit des gesamten auf die Berufung folgenden Verfahrens, sowohl des LSG. als auch des Bundessozialgerichts (BSG.), abhängt. Sie ist deshalb im Verfahren über eine statthafte Revision von Amts wegen zu prüfen (BSG. 1, 158 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts; 2, 225; 3, 234; BGHZ 6, 369; Rosenberg 7. Aufl., S. 682; Stein-Jonas-Schönke-Pohle, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 559 Anm. IV 2 a; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 24. Aufl., § 559, Anm. 2 C; Nikisch, Zivilprozeßrecht 1952, S. 498).
Nach § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung bei dem LSG. innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich einzulegen, soweit sie nicht zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des LSG. oder SG. erklärt wird. Für diese Schriftlichkeit genügt nicht die Beglaubigung; die Berufung muß vielmehr handschriftlich unterzeichnet sein (BSG. 1 S. 243; Urteil des erkennenden Senates vom 11.4.1957 - 7 RAr 85/56 -, BSG. 5, 110). Die Berufung der Beklagten entbehrt dieser Form. Die Berufungsschrift vom 30. August hat der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten nicht handschriftlich unterzeichnet; der handschriftlich unterzeichnete Schriftsatz vom 6. September 1956, mit dem die Berufung begründet worden ist, könnte zwar als Berufung genügen, ist aber erst am 13. September 1956 beim LSG. eingegangen, während die Frist für die Berufung gegen das der Beklagten am 7. August 1956 zugestellte Urteil schon am 7. September 1956 abgelaufen war. Die Berufung ist daher innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils nicht schriftlich eingelegt worden.
Die Frist für ein Rechtsmittel beginnt allerdings nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über das Rechtsmittel, das Gericht, bei dem es anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist (§ 66 Abs. 1 SGG). Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so kann das Rechtsmittel noch innerhalb eines Jahres seit der Zustellung oder Verkündung eingelegt werden (§ 66 Abs. 2 SGG). Die Rechtsmittelbelehrung des SG. ist aber vollständig und richtig. Sie enthält alle Einzelheiten, die nach den §§ 66, 151 SGG für die Einlegung der Berufung wesentlich sind; sie weist außerdem auf die Punkte hin, auf die sich nach § 151 Abs. 3 SGG die Berufungsschrift erstrecken soll.
Dem Lauf der Berufungsfrist stehen auch Mängel der Zustellung nicht entgegen. Das Urteil des SG. ist dem durch Sammelvollmacht bevollmächtigten Direktor des ArbA. N, R, gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden; er hat das Empfangsbekenntnis eigenhändig unterschrieben.
Die Folgen der versäumten Berufung können in diesem Falle auch nicht durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgewendet werden. Sie ist auf Antrag zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten (§ 67 Abs. 1 SGG), und kann auch ohne Antrag gewährt werden, wenn die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist (ein Monat nach Wegfall des Hindernisses) nachgeholt worden ist. Man kann die Berufung durch den Schriftsatz vom 6. September 1956 als nachgeholt ansehen; die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt aber schon deshalb nicht in Betracht, weil der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten die Berufungsfrist nicht "ohne Verschulden" versäumt hat. Er hat jedenfalls fahrlässig gehandelt, wenn er die Berufungsschrift nicht handschriftlich unterschrieben hat. Er hat die bei der Prozeßführung gebotene Sorgfalt, an die bei rechtserfahrenen Personen höhere Anforderungen zu stellen sind, außer Acht gelassen, wenn er bei der schriftlichen Einlegung der Berufung den Grundsatz nicht beachtet hat, daß bestimmende Schriftsätze wie die Berufungsschrift eigenhändig unterschrieben werden müssen, soweit gesetzlich nichts anderes vorgeschrieben ist oder telegraphische Erklärungen genügen. Sein Verschulden muß die Beklagte gegen sich gelten lassen (§ 73 Abs. 3 SGG).
Die zugelassene Berufung ist sonach innerhalb der gesetzlichen Frist nicht schriftlich eingelegt worden. Das LSG. hätte sie als unzulässig verwerfen müssen (§ 158 Abs. 1 SGG); es hätte nicht in der Sache entscheiden dürfen. Dieser Mangel des Verfahrens ist so schwerwiegend, daß er in der durch die Zulassung statthaften Revision auch ohne Rüge zu berücksichtigen ist. Auf die Revision des Klägers ist daher das Urteil des LSG. aufzuheben; die Berufung der Beklagten ist als unzulässig zu verwerfen (§§ 158 Abs. 1, 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Dem Verbot der reformatio in peius widerspricht diese Entscheidung nicht. Dieses Verbot gilt nicht, wenn Rechtsfolgen ausgesprochen werden, zu denen eine fehlende Prozeßvoraussetzung zwingt (SozR. Nr. 1 zu § 123 SGG; BSG. 2, 225).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen