Orientierungssatz

Zu der Frage, ob die von einem Versicherten geltend gemachten Kosten für einen höheren Verpflegungsaufwand wegen auswärtiger Unterbringung aus Anlaß der Teilnahme an einer beruflichen Bildungsmaßnahme nach AFG § 45 schon deshalb abgelehnt werden können, weil es dem ledigen Versicherten zuzumuten sei, an den Ort der Maßnahme umzuziehen.

 

Normenkette

AFG § 45 Fassung: 1969-06-25, § 39 Fassung: 1969-06-25

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Dezember 1972 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Verpflegungskosten für die Dauer einer Maßnahme der beruflichen Fortbildung.

Der Kläger ist ledig. Seine Eltern wohnen in Wathlingen (Kreis Celle). Dort ist auch der Kläger mit 1. Wohnsitz gemeldet. Daneben begründete er wegen einer beruflichen Tätigkeit einen 2. Wohnsitz in Wolfenbüttel. Ab 2. März 1970 nahm er an einem dreisemestrigen Lehrgang an der Technikerschule in Braunschweig teil. Seinen 2. Wohnsitz in Wolfenbüttel behielt er bei und pendelte täglich nach Braunschweig. Für seine Teilnahme an dem Lehrgang der Technikerschule erhielt der Kläger Unterhaltsgeld (Uhg). Mit Schreiben vom 15. September 1970 beantragte er außerdem einen Miet- und Verpflegungszuschuß, da er von seinem Hauptwohnsitz in Wathlingen (ca. 50 km von Braunschweig entfernt) die Schule in Braunschweig wegen ungünstiger Verkehrsverbindung schwer erreichen könne und deshalb seinen 2. Wohnsitz in Wolfenbüttel beibehalten habe. Das Arbeitsamt Braunschweig bewilligte Fahrtkosten, lehnte aber die Zahlung von Wohn- und Verpflegungsgeld ab (Bescheid vom 11. November 1970). Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 1971). Die Beklagte war der Auffassung, daß eine auswärtige Unterbringung nicht vorliege, weil der Kläger seinen schon vor Beginn der Maßnahme aus anderen Gründen begründeten Wohnsitz in Wolfenbüttel beibehalten habe.

Mit der Klage begehrte der Kläger letztlich nur noch die Gewährung von täglich 3,- DM Verpflegungsgeld je Unterrichtstag. Diese Klage hatte Erfolg (Urteil vom 20. September 1971). Das Sozialgericht (SG) hat die Auffassung vertreten, daß nach § 45 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) die beklagte Bundesanstalt alle durch den Lehrgangsbesuch notwendig entstehenden Kosten ganz oder teilweise zu tragen habe. Das schließe die Gewährung von Verpflegungskosten auch an solche Personen ein, die nicht auswärtig untergebracht seien, sondern pendeln müßten. Die beispielhafte Aufführung der einzelnen Unkostenarten in § 45 AFG enthalte keine Einschränkung dieses Grundsatzes.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen das Urteil des SG aufgehoben (Urteil vom 12. Dezember 1972). Es hat die Berufung für zulässig erachtet, da es sich bei den Verpflegungskosten um einen selbständigen Anspruch handele, der dem Grunde nach streitig sei und auch den Zeitraum von drei Monaten überschreite. In der Sache ist das LSG der Auffassung, daß § 45 AFG die Erstattung von Verpflegungskosten auf die Fälle beschränke, in denen auswärtige Unterbringung erforderlich werde. Dies werde auch aus den Motiven deutlich. Eine auswärtige Unterbringung des Klägers sei aber nicht erforderlich gewesen, da es dem Kläger, der ledig sei, bei seinen Eltern wohne und keinen Hausstand als Hauptmieter oder Eigentümer einer eigenen Wohnung führe, zuzumuten gewesen sei, seinen Hauptwohnsitz an den Ort der Fortbildungsmaßnahme zu verlegen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er ist der Auffassung, daß die Berufung unzulässig sei, weil sie einen Streit über die Höhe der Kostenerstattung betreffe, der nach § 147 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht berufungsfähig sei. Im übrigen sei der Anspruch materiell begründet, weil die geltend gemachten Kosten durch die Maßnahme verursacht worden seien. Der Kläger habe seinen Hauptwohnsitz in Wathlingen. Ein Pendeln zwischen Wathlingen und Braunschweig sei unzumutbar gewesen. Den Wohnsitz in Wolfenbüttel habe er deshalb für die Dauer der Maßnahme beibehalten. Es könne aber nicht darauf ankommen, ob die auswärtige Unterkunft wegen einer Maßnahme erst begründet oder aus diesem Grunde beibehalten werde. In beiden Fällen seien die Kosten für die auswärtige Unterbringung allein durch die Maßnahme bedingt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Dezember 1972 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 20. September 1971 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie beruft sich im wesentlichen auf die Ausführungen des BSG.

Beide Beteiligte haben einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist zulässig. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Die Zulässigkeit der Berufung, eine auch bei zugelassener Revision von Amts wegen zu prüfende Frage, hat das LSG zutreffend bejaht. Insbesondere war die Berufung nicht nach § 147 SGG ausgeschlossen. Diese Vorschrift gilt zwar, wie der Senat bereits entschieden hat, auch für die Aufgaben der Beklagten im Bereich der beruflichen Bildungsförderung (vgl. Urteile vom 16. März 1973 - 7 RAr 36/72 - insoweit in BSGE 35, 262 nicht abgedruckt und vom 21. September 1967 - 7 RAr 31/65 - Breithaupt 1968, 523). Bei einem Streit darüber, ob Erstattung von Kosten für auswärtige Unterbringung und Verpflegung nach § 45 AFG verlangt werden kann, handelt es sich jedoch nicht um eine Frage nach der Höhe einer Leistung, sondern darum, ob der Anspruch als solcher dem Grunde nach besteht. Die in § 45 AFG geregelte Kostenerstattung betrifft nämlich nicht insgesamt einen einheitlichen Anspruch, der von den einzelnen Kostengründen her nur der Höhe nach bestimmt wird; vielmehr sind hier eine Reihe einzelner Ansprüche zusammengefaßt geregelt, die sowohl gegenüber den jeweils anderen Ansprüchen im Rahmen des § 45 AFG als auch gegenüber sonstigen Ansprüchen im Rahmen der beruflichen Bildungsförderung nach dem AFG, z. B. gegenüber dem Uhg nach § 44 AFG, selbständigen Charakter haben (vgl. Schönefelder/Kranz Wanka, Komm. z. AFG, Anm. 1 und 2 zu § 45 AFG).

In der Sache kann den Ausführungen des LSG jedoch nicht uneingeschränkt gefolgt werden. Nach § 45 AFG trägt die Bundesanstalt für Arbeit (BA) ganz oder teilweise die notwendigen Kosten, die durch die Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahme (vgl. § 47 Abs. 1 Satz 2 AFG) unmittelbar entstehen. Hierzu gehören u. a. Kosten der Unterkunft und Verpflegung, wenn die Teilnahme an einer Maßnahme auswärtige Unterbringung erfordert. Diese Vorschrift beschränkt den Erstattungsanspruch für Mehraufwand an Verpflegungs- und Unterkunftskosten aus Anlaß der Teilnahme an einer Maßnahme der beruflichen Bildung nach §§ 41, 47 AFG auf den Fall, daß die Maßnahme nicht am Wohnort des Teilnehmers stattfindet und ihm auch nicht zugemutet werden kann, den Maßnahmeort von seinem Wohnort aus durch tägliches Pendeln zu erreichen, der Besuch der Maßnahme vom bisherigen Wohnort des Teilnehmers aus folglich nicht möglich ist (vgl. zu BT-Drucks. V/4110 S. 10 zu § 44 AFG). Im Rahmen ihres Satzungsrechts nach § 39 AFG (vgl. BSGE 35, 164) hat die Beklagte lediglich für den Fall der internatsmäßigen Unterbringung am Wohnort des Teilnehmers eine Ausnahme hiervon zugelassen (vgl. § 16 Abs. 1 der Anordnung des Verwaltungsrates der BA über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung vom 18. Dezember 1969 - AFuU 1969 -, ANBA, 1970, 85).

Dieser für den Begriff der Auswärtigkeit im Sinne von § 45 AFG und § 16 AFuU 1969 maßgebliche geographische Unterschied zwischen Wohnort und Maßnahmeort wäre im Fall des Klägers gegeben, wenn er seinen Wohnsitz in Wathlingen beibehalten hätte und er den Maßnahmeort Braunschweig von dort aus durch tägliches Pendeln nicht erreichen könnte.

Entgegen der Meinung des LSG war für den erhobenen Anspruch nicht darauf abzustellen, ob dem Kläger eine Aufgabe des bisherigen Wohnsitzes und ein Umzug an den Maßnahmeort zumutbar war. Das Gesetz enthält keinen Anhalt dafür, daß der Anspruch auf Erstattung eines erhöhten Unterkunfts- und Verpflegungskostenaufwandes nach § 45 AFG von dieser Frage abhängen soll. Insbesondere kann eine solche Bedingung für den Erstattungsanspruch nicht aus dem Begriff der Erforderlichkeit auswärtiger Unterbringung im Sinne von § 45 AFG bzw. der Notwendigkeit auswärtiger Unterbringung im Sinne von § 16 Abs. 1 AFuU 1969 hergeleitet werden. Diese Regelungen betreffen - wie schon ausgeführt - lediglich die Frage, ob Wohnort des Teilnehmers und Maßnahmeort identisch sind bzw. ob der Teilnehmer von seinem beibehaltenen bisherigen Wohnort aus den "auswärtigen" Maßnahmeort - ggf. im Pendelverkehr - erreichen kann oder nicht. Diese sich auf den erklärten Willen des Gesetzgebers stützende Auslegung rechtfertigt sich auch deshalb, weil es sich bei der Wahl des Wohnsitzes um eine höchstpersönliche Entscheidung handelt, die von einer Vielzahl oft unwägbarer Gründe abhängig ist. Ein Eingriff in eine solche höchstpersönliche Entscheidung wird vom AFG nicht gefordert und wäre auch nicht gerechtfertigt. Sie besitzt im übrigen mit der stets nur eine vorübergehende Situation betreffenden Maßnahme der beruflichen Bildung keinen inneren Zusammenhang. Infolgedessen erfordert es auch der Sachzusammenhang nicht, die Frage der Erforderlichkeit bzw. Notwendigkeit auswärtiger Unterbringung in diesen Fällen von dem Ergebnis der Prüfung abhängig zu machen, ob die Aufgabe des bisherigen Wohnsitzes zumutbar ist oder nicht. Eine solche Prüfung würde im übrigen zur Offenlegung bzw. Ermittlung privater Verhältnisse zwingen, also eine weitere Anspruchsvoraussetzung bezüglich der Person des Bildungswilligen begründen, die über das hinausgeht, was insoweit in den §§ 36, 42 AFG geregelt worden ist. Ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung ist daher die BA im Rahmen ihres Auftrages zur individuellen Förderung der beruflichen Bildung nicht befugt, die Erforschung dieser Einzelheiten aus der Privatsphäre des Antragstellers vorzunehmen.

Maßgebend für die hier anzustellende Betrachtung ist es, wo der Teilnehmer an einer Bildungsmaßnahme im Zeitpunkt ihres Beginns den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse hat. Dies gilt auch für den ledigen Teilnehmer an einer Bildungsmaßnahme bei der Entscheidung über die Erforderlichkeit der auswärtigen Unterbringung im Sinne von § 45 AFG. Das Gesetz enthält in bezug auf diesen Personenkreis keine Ausnahmeregelungen, ebenso nicht die AFuU 1969, so daß dahinstehen kann, ob eine entsprechende anderweitige Anordnungsregelung ermächtigungskonform wäre (§ 39 AFG). Regelungen der Beklagten in Dienstanweisungen bedürfen in diesem Zusammenhang keiner Prüfung, denn sie haben keine die Gerichte bindende Wirkung. Zur Vermeidung von Mißbräuchen bleibt der Beklagten die Möglichkeit, im Rahmen ihres Anordnungsrechts für besondere Gruppen von Fällen sachgerechte Sonderregelungen zu treffen.

Die Unterhaltung eines Wohnsitzes für die Dauer der Maßnahme am Maßnahmeort kann allerdings nur dann "auswärtige Unterbringung" im Sinne von § 45 AFG sein, wenn der Wohnsitz des Teilnehmers an einem anderen Ort weiterhin der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse geblieben ist. Dies ist nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen und läßt sich in der Regel nach der stärkeren und dauerhafteren Bedeutung des Wohnort-Wohnsitzes im Verhältnis zu der nur vorübergehenden Unterkunft am Maßnahme-Wohnsitz bestimmen (vgl. auch BSGE 2, 78; 5, 165; 35, 32; 37, 98 mit weiteren Nachweisen). Im Falle des Klägers kann nicht abschließend entschieden werden, ob der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse weiter bei seinen Eltern in Wathlingen lag oder sich nach Wolfenbüttel verlagert hat. Die Feststellungen des LSG reichen hierfür nicht aus.

Bei einem Erwachsenen, der, wie der Kläger, bereits seit mehreren Jahren außerhalb des elterlichen Hauses an dem gleichen Ort die gleiche Wohnung unterhält dort arbeitet und verdient, ist zwar grundsätzlich davon auszugehen, daß er sich aus der elterlichen Hausgemeinschaft gelöst und einen neuen Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse gefunden hat. Eine andere Beurteilung ist jedoch geboten, wenn besondere Umstände vorliegen, die deutlich erkennen lassen, daß der elterliche Haushalt nach wie vor stärkere Bedeutung für die Lebensgestaltung hat. Dafür genügt nicht, daß der Kläger in der Regel seine freien Tage (Wochenenden, Feiertage) im elterlichen Haus verbringt, weil regelmäßige Besuche, auch wenn sie häufig erfolgen, noch nichts darüber aussagen, wo der Schwerpunkt für die Lebensgestaltung liegt. Hinzu kommen müssen weitere Anhaltspunkte, die erkennen lassen, daß der Wohnsitz bei den Eltern für den Kläger der eigentliche Mittelpunkt seines Lebens ist, wie z. B. das Vorhandensein eigener Räumlichkeiten, in denen sich der überwiegende Teil des Hausrats und der Freizeitinteressen dienenden Gegenstände befindet, besondere Aufgaben oder starke soziale Bindungen.

Ergeben die notwendigen Ermittlungen des LSG, daß Wathlingen für den Kläger weiterhin Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse war, so ist auch noch zu klären, ob er nicht in der Lage war, von seinem Elternhaus täglich zum Unterricht zu fahren. Hierfür kann auf Anhaltspunkte zurückgegriffen werden, wie sie die Beklagte in Ziff. 16.11 der Durchführungsanweisung zur AFuU (ANBA 1971, 282) aufgezeigt hat.

Feststellungen sind schließlich auch noch darüber erforderlich, ob die Maßnahme für den Kläger der einzige Grund war, weiter in Wolfenbüttel zu wohnen. Sollte dies der Fall sein, so ist die Maßnahme die alleinige Ursache für die Kosten der Unterkunft und Verpflegung. Der Kläger hebt mit Recht hervor, daß es für die Ursächlichkeit ohne Bedeutung ist, ob die Wohnung wegen der Maßnahme begründet oder beibehalten wurde.

Wegen der noch erforderlichen Feststellungen, die der Senat nicht selbst treffen kann, ist die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647833

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