Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör. Wahrnehmung der gewährten Gelegenheit
Orientierungssatz
1. Ihrem Inhalt nach verlangen die Vorschriften über die vorherige Anhörung im Verfahren der Sozialverwaltung oder im gerichtlichen Verfahren nicht, daß die Sozialverwaltung bzw die Gerichte alle Einzelheiten, die den Inhalt der Akten ausmachen und bei der Entscheidung verwertet werden sollen, bekannt machen. Die Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör setzt vielmehr auch eine aktive Beteiligung des Bürgers im eigenen Interesse voraus. Auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann sich daher nicht berufen werden, wenn die von den einschlägigen Vorschriften vorgesehenen Möglichkeiten, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, nicht ausgeschöpft werden (vgl BVerfG 1980-08-28 1 BvR 218/80 = MDR 1981, 470).
2. Dem Versicherungsträger obliegt es grundsätzlich nicht aufgrund einer sich aus § 34 Abs 1 SGB 1 ergebenden Verpflichtung, dem Verletzten vornherein Gutachtenabschriften zuzuleiten. Er hat ihm aber die Gelegenheit zu geben, sich zu der "für die Entscheidung erhebliche Tatsache zu äußern", und zwar ggf auf dem Wege der Verschaffung von Einzelheiten aus dem Inhalt des Gutachtens. Hat der Betroffene diese Gelegenheit, ggf die Notwendigkeit der Erteilung weiterer Auskünfte oder der Übersendung einer Gutachtenabschrift geltend zu machen und zu begründen, nicht wahrgenommen, kann er sich insoweit aber auch nicht im Klageverfahren auf eine unzureichende Anhörung berufen.
Normenkette
SGB 1 § 34 Abs 1 Fassung: 1975-12-11; SGB 10 § 24 Abs 1 Fassung: 1980-08-18; SGG § 62 Abs 2 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; VwGO § 108 Abs 2 Fassung: 1960-01-21
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung der für den Unfall am 16. April 1977 gewährten vorläufigen Rente und die Ablehnung einer Verletztendauerrente (Bescheid vom 10. April 1979). In erster Linie ist streitig, ob die Beklagte dem Kläger vor Erteilung des angefochtenen Bescheides in richtiger Weise Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat (§ 34 Abs 1 SGB I in der bis zum 31. Dezember 1980 geltenden Fassung - vgl jetzt § 24 SGB X).
Anläßlich eines Besuchs des Klägers am 8. März 1979 erfuhr die Beklagte, daß die medizinische Untersuchung für die Entscheidung über die Zahlung einer Dauerrente am 5. März 1979 stattgefunden hatte. Eine telefonische Anfrage bei dem Sachverständigen ergab, daß die durch Unfallfolgen bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) noch 10 vH betrage. Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 12. März 1979 mit, nach dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung betrage die MdE 10 vH; es sei beabsichtigt, die Rente nicht mehr zu gewähren. Falls er sich äußern wolle, möge er innerhalb von zwei Wochen schreiben. Das Gutachten vom 7. März 1979 ging am 13. März 1979 bei der Beklagten ein.
Der Kläger äußerte sich nicht. Seine Klage wurde abgewiesen, weil das Sozialgericht (SG) das von der Beklagten eingeholte Gutachten als schlüssig ansah (Urteil vom 5. September 1979). Auch das Landessozialgericht (LSG) ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die durch Unfallfolgen bedingte MdE nur noch 10 vH betrage. Es hat jedoch das Urteil des SG geändert und den Bescheid vom 10. April 1979 aufgehoben, weil die Beklagte der vorherigen Anhörung des Klägers nicht in genügendem Umfang nachgekommen sei. Die dem Kläger gegebene Information habe keine ausreichende Möglichkeit gegeben, sich zu dem beabsichtigten Verwaltungsakt inhaltlich zu äußern. Die Beklagte hätte die maßgeblichen Befunde und Diagnosen mitteilen müssen (Urteil vom 17. Dezember 1980).
Die Beklagte begründet die vom LSG zugelassene Revision wie folgt: Sie habe dem Kläger alle Informationen zukommen lassen, welche sie gehabt habe. Die Fertigung des Gutachtens habe sich durch eine mit seinem Urlaub verbundene Ortsabwesenheit des Klägers so erheblich verzögert, daß nur der eingeschlagene Weg verblieben sei. Im übrigen hätte er eine Fotokopie des Gutachtens oder weitere Informationen in der gewährten Frist anfordern können und erhalten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben
und die Berufung des Klägers gegen das Urteil
des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Der Senat vermochte sich nicht der Auffassung des LSG anzuschließen, wonach der Bescheid wegen Verletzung der Anhörungspflicht nach § 34 Abs 1 SGB I - jetzt § 24 SGB X - rechtswidrig ist. Nach dieser Vorschrift mußte der Versicherungsträger vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in die Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.
Wie das LSG und die Beteiligten zutreffend angenommen haben, war die Beklagte zur Anhörung des Klägers vor Erlaß des Bescheides, durch den die vorläufige Rente entzogen und eine Dauerrente abgelehnt worden ist, verpflichtet (BSGE 46, 57; BSG SozR 1200 § 34 Nrn 4, 6, 9, 12). Ein Tatbestand, der die Beklagte berechtigt hätte gem § 34 Abs 2 SGB I von der Anhörung abzusehen, lag nicht vor.
Die gesetzliche Festlegung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Verfahren der Sozialverwaltung soll Überraschungsentscheidungen und vorschnellen sowie vermeidbaren Eingriffen in die Rechte der Betroffenen vorbeugen (BSGE 44, 207, 211 mwN; BSG SozR 1200 § 34 Nr 12). Der Versicherungsträger soll vor Erlaß des Verwaltungsaktes prüfen können, ob die Äußerung des Bürgers Veranlassung gibt, von dem Verwaltungsakt abzusehen, ihn in anderer Form oder zu einem späteren Zeitpunkt - etwa nach weiteren Ermittlungen - zu erlassen (BSG aaO; Schnapp, Boch, Komm. SGB-AT, 1979, § 34 RdNr 11, 14; Schnapp, DAngVers 1979, 9, 10). Der Anhörung nach § 34 Abs 1 SGB I kommt daher ähnliches Gewicht zu wie dem Grundrecht des rechtlichen Gehörs im gerichtlichen Verfahren (BSGE 46, 57, 58). Die Norm ist entsprechenden Verfahrensvorschriften nachgebildet (s zB § 128 Abs 2 SGG und § 108 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-), wonach Urteile nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden dürfen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Ihrem Inhalt nach verlangen die Vorschriften über die vorherige Anhörung im Verfahren der Sozialverwaltung oder im gerichtlichen Verfahren indes nicht, daß die Sozialverwaltung bzw die Gerichte alle Einzelheiten, die den Inhalt der Akten ausmachen und bei der Entscheidung verwertet werden sollen, bekannt machen. Die Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör setzt vielmehr eine aktive Beteiligung des Bürgers im eigenen Interesse voraus (BVerwGE 9, 93). Der Anspruch gewährleistet die Kenntnis der entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnisse nur insoweit, als er "Gelegenheit" zur Kenntnis- und Stellungnahme gibt (BVerwG aaO; Giese-Schunck-Winkler, Verfassungsrechtsprechung in der Bundesrepublik, Art 103 Abs 1 Grundgesetz -GG- Nr 250a; s auch VGH Mannheim dortselbst Nr 61). Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß sich auf die Verletzung rechtlichen Gehörs nicht berufen kann, wer die von dem einschlägigen Prozeßrecht vorgesehenen Möglichkeiten, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, nicht ausschöpft (BVerfGE 28, 10, 14; BVerfG MDR 1981, 470). Entsprechend hat der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 28. Juli 1977 (SozR 1200 § 34 Nr 1) ausgeführt, daß es dem Versicherungsträger grundsätzlich nicht aufgrund einer sich etwa aus § 34 Abs 1 SGB I ergebenden Verpflichtung obliegt, dem Verletzten von vornherein Gutachtenabschriften zuzuleiten. Hiervon ist auch der 5. Senat in seiner Entscheidung vom 24. Juli 1980 (SozR 1200 § 34 Nr 12) ausgegangen. Er hat eine Anhörung, die im übrigen in derselben Weise wie im hier zu entscheidenden Fall durchgeführt worden war, nur wegen der darin gesetzten zu kurzen Frist zur Stellungnahme von nur einer Woche als rechtswidrig angesehen. Der erkennende Senat hat in seiner letzten den angesprochenen Fragenkomplex betreffenden Entscheidung (Urteil vom 4. November 1981 - 2 RU 71/80 -) als folgerichtig dargelegt, daß die Sozialverwaltung dem Tätigwerden des Bürgers im Rahmen von § 34 Abs 1 SGB I grundsätzlich auch entsprechen und die erforderlichen weiteren Informationen - dort: eine Abschrift des maßgeblichen Gutachtens - geben muß (vgl jetzt § 25 SGB X).
Unter den dargelegten rechtlichen Verhältnissen ist davon auszugehen, daß die Beklagte die Anhörung des Klägers ordnungsgemäß durchgeführt hat. Für sie war das Gutachten vom 7. März 1979 allein entscheidungserheblich. Dem Kläger war aufgrund der zwei Tage zuvor durchgeführten Untersuchung durch den Sachverständigen bekannt, daß dieses erstattet werden würde. Die Beklagte hat dem Kläger die für die - negative - Entscheidung allein erhebliche Tatsache, nämlich das Ergebnis des von ihr eingeholten Gutachtens, unterbreitet. Sie hat ihm damit die Gelegenheit gegeben, sich zu der "für die Entscheidung erhebliche Tatsache zu äußern", und zwar gegebenenfalls auf dem Wege der Verschaffung von Einzelheiten aus dem Inhalt des Gutachtens. Der Kläger hat diese Gelegenheit, gegebenenfalls die Notwendigkeit der Erteilung weiterer Auskünfte oder der Übersendung einer Gutachtenabschrift geltend zu machen und zu begründen, nicht wahrgenommen. Er kann sich dann insoweit aber auch nicht im Klageverfahren auf eine unzureichende Anhörung berufen. Hiergegen kann nicht eingewandt werden, daß die zur Zeit zur Stellungnahme durch eine schriftliche Rückfrage unangemessen verkürzt worden wäre; denn die Zeit bis zur Erteilung einer unverzüglich angeforderten erforderlichen weiteren Auskunft oder Gutachtenabschrift ist bei der Dauer der angemessenen Frist zur Anhörung zu berücksichtigen.
Der Senat hatte hier nicht zu entscheiden, ob eine Anhörung auch dann als rechtmäßig anzusehen ist, wenn nur ein vom Versicherungsträger selbst gewonnenes Ergebnis aus einander widersprechenden Gutachten mitgeteilt worden wäre.
Das LSG hat in dem angefochtenen Urteil im einzelnen festgestellt, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers mit Ablauf des Monats Mai 1979 nur noch um 10 vH gemindert ist. Da gegen diese Feststellungen zulässige und begründete Anschlußrügen nicht vorgebracht worden sind, ist der Senat an sie gebunden (§ 163 SGG). Ein Anspruch auf Verletztenrente besteht seitdem nicht mehr (§ 581 Abs 1 Nr 2 Reichsversicherungsordnung). Demzufolge ist der Bescheid der Beklagten sowohl in ordnungsgemäßer Weise als auch mit richtigem Inhalt zustande gekommen. Das Urteil des LSG war aufzuheben und die Berufung gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen