Leitsatz (amtlich)
Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, daß ein Weg, dessen Ziel die Arbeitsstätte ist, dann nicht unter Versicherungsschutz steht, wenn es sich um den Rückweg von einer Verrichtung handelt, die mit der versicherten Tätigkeit nicht in rechtlich wesentlichem Zusammenhang steht (Festhaltung BSG 1955-08-04 2 RU 62/54 = BSGE 1, 171-174 Leitsatz 1). dies gilt auch dann, wenn der Weg zwar unmittelbar zur Arbeitsaufnahme führen sollte, jedoch aus rein persönlichen Gründen nicht vom häuslichen Bereich des Beschäftigten, sondern von einem anderen Ort aus angetreten wurde.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. November 1955 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Ehemann der Klägerin, der Autoschlosser S... O..., war in der Werkstatt der Oberbergischen Verkehrsgesellschaft in Niederseßmar beschäftigt. Er wohnte in der nordöstlich davon gelegenen Ortschaft Hackenberg; der Weg, den er täglich von zu Hause nach der Arbeitsstätte mit dem Motorrad zurückzulegen pflegte, führte über Bergneustadt. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG.) fuhr O... am Abend des 27. Juli 1953 nach Arbeitsschluß nicht nach Hause, sondern nach der nördlich von seinem Arbeitsort gelegenen Ortschaft Müllenbach, wo er ein bis in die Morgenstunden dauerndes Schützenfest besuchte. Am 28. Juli 1953 gegen 5 Uhr früh - die Arbeitsschicht begann um 5,30 Uhr - stieß er auf der Straße von Müllenbach nach Niederseßmar kurz vor Gummersbach mit einem entgegenkommenden Kraftwagen zusammen und erlag kurz darauf seinen schweren Verletzungen. Bei O... wurde ein Blutalkoholgehalt von 1 ‰ ermittelt. Der Fahrer des Kraftwagens, der bekundete, O... sei links gefahren, wurde von der Anklage der fahrlässigen Tötung freigesprochen.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 30. Dezember 1953 den Entschädigungsanspruch der Klägerin ab: O... sei nicht auf einem mit der Betriebstätigkeit zusammenhängenden Weg zur Arbeitsstätte, sondern auf dem Rückweg von einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit verunglückt; abgesehen davon habe er sich auch durch erheblichen, zur Fahrunfähigkeit führenden Alkoholgenuß vom Betrieb gelöst.
Das Sozialgericht (SG.) hat die Beklagte am 19. November 1954 dem Grunde nach verurteilt, den Tod des O... als Arbeitsunfallfolge zu entschädigen: Die Beklagte habe zu Unrecht die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Wegeunfalles nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als nicht erfüllt bezeichnet. Als versicherter Weg nach der Arbeitsstätte im Sinne dieser Vorschrift sei nicht nur der vom häuslichen Wirkungskreis aus angetretene "übliche" Weg anzusehen. Der Versicherungsschutz entfalle nur dann, wenn der Weg zur Arbeitsstätte von einem dritten Ort aus unternommen werde, welcher viel weiter entfernt sei als der gewöhnliche Wohnort oder durch die Besonderheit seiner Lage bestimmte, sonst nicht übliche Gefahrmomente schaffe. Dies treffe im vorliegenden Fall nicht zu. Für eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des O... ergäben sich keine hinreichenden Anhaltspunkte.
Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG. durch Urteil vom 10. November 1955 die Klage abgewiesen: Der Wortlaut des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO schreibe zwar nicht vor, daß nur Wege zwischen der Wohnung und dem Betrieb versichert sein sollten, vielmehr sei darin ausdrücklich nur die Betriebsstätte als der eine Endpunkt des Weges angeführt. Die Annahme, daß hiernach ein Weg zur Betriebsstätte zwecks Arbeitsbeginn immer mit der betrieblichen Tätigkeit zusammenhängen müsse, treffe aber nicht zu. Gegen diese Annahme spreche schon die besondere Berücksichtigung, die der übliche häusliche Wirkungskreis durch die gesetzliche Hervorhebung der Familienwohnung in § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO erfahren habe. § 543 Abs. 1 RVO bezwecke den Versicherungsschutz der Berufstätigen auf ihren, an sich dem persönlichen Bereich zuzurechnenden, zur Verrichtung der Arbeit aber notwendigen Wegen, die nicht nur durch das eigenwirtschaftliche Wohnbedürfnis der Arbeitenden, sondern auch weitgehend durch die besondere Lage der Betriebsstätten bedingt seien. Versichert seien hiernach regelmäßig nur die notwendigen Wege zwischen dem häuslichen Wirkungskreis und der Betriebsstätte, andere nur dann, wenn sachgerechte und mit der Arbeitsleistung selbst vereinbare Gründe den Berufstätigen zu einem Austausch seines üblichen häuslichen Wirkungskreises gegen einen anderen Endpunkt des Weges veranlaßt hätten. Im Falle eines berechtigten derartigen Austausches würde weder die Länge des vom Berufstätigen gewählten unüblichen Weges noch dessen sonstige Beschaffenheit dem Versicherungsschutz unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenerhöhung entgegenstehen. Dies gelte für beide Richtungen des Weges. Für den Ehemann der Klägerin habe nun aber ein sachgerechter, mit dem Zweck des Versicherungsschutzes und der betrieblichen Arbeit vereinbarer Grund, sich die fragliche Nacht hindurch auf dem Schützenfest in Müllenbach statt in seiner Wohnung in Hackenberg aufzuhalten, nicht bestanden. Deshalb sei sowohl seine Fahrt am Abend des 27. Juli 1953 vom Betrieb nach Müllenbach unversichert gewesen als auch die Fahrt von Müllenbach zur Betriebsstätte am folgenden Morgen; diese Fahrt sei lediglich als Rückkehr von einer rein eigenwirtschaftlichen, betrieblich nicht notwendigen Betätigung aufzufassen. Auf die Frage der Fahrunfähigkeit infolge Übermüdung und Alkoholgenusses komme es hiernach nicht mehr an. - Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 5. Dezember 1955 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 27. Dezember 1955 Revision eingelegt und sie am 16. Januar 1956 begründet. Sie macht sich die vom SG. vertretene Auslegung des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO zu eigen und meint, nach dem Standpunkt des LSG. werde der aus dieser Vorschrift herzuleitende Versicherungsschutz zu stark eingeschränkt. Dieser Versicherungsschutz solle nach dem Sinne des Gesetzes einem möglichst großen Personenkreis für einen möglichst weiten Lebensbereich zugute kommen. § 543 Abs. 1 RVO erfordere nur, daß betriebliche Belange für den Weg zum Betrieb mitbestimmend gewesen seien. Das LSG. habe - entgegen seiner eigenen Erklärung - unter Anwendung moralischer Maßstäbe geurteilt. Seine Ansicht führe auch zu unbefriedigenden Ergebnissen; so wäre eine Versagung des Versicherungsschutzes unverständlich, wenn sich etwa der Ort des Schützenfestes gerade auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte befunden hätte und damit die Fahrt zur Arbeit verkürzt worden wäre. Die Auffassung des LSG., Hin- und Rückweg seien gleich zu beurteilen, überzeuge nicht. Beim Verlassen der Arbeitsstätte am Abend vor dem Unfall habe der Ehemann der Klägerin die Wahl zwischen dem versicherten Weg zur Wohnung und dem eigenwirtschaftlich motivierten Weg zum Schützenfest gehabt. Entsprechend habe ihm beim Verlassen des Schützenfestes die Wahl zwischen dem Aufsuchen seiner Wohnung - d.h. einem Rückweg von eigenwirtschaftlicher Tätigkeit - und dem versicherten Weg zum Betrieb offen gestanden. Diese Auswahlmöglichkeit habe das LSG. für die Rückfahrt vom Schützenfest zu Unrecht verneint; seine Auffassung sei demnach nicht folgerichtig. Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen, den Unfall des Ehemannes der Klägerin vom 28. Juli 1953 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision; sie tritt unter Hinweis auf die Rechtsprechung dem angefochtenen Urteil bei.
II
Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG) und deshalb zulässig. Sie ist jedoch unbegründet.
Die Ausführungen im angefochtenen Urteil treffen zu. Sie stimmen überein mit der Auslegung, die der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 4. August 1955 (BSG. 1 S. 171) der Vorschrift des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO gegeben hat. Danach ist auf Grund dieser Vorschrift nicht jeder Weg unter Versicherungsschutz gestellt, der zur Arbeitsstätte hinführt oder von ihr aus begonnen wird. Vielmehr muß darüber hinaus der Weg mit der Tätigkeit in dem Unternehmen in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang stehen. Dazu genügt nicht, daß der Weg unmittelbar zur Arbeitsstätte führt, weil mit der Arbeit anschließend begonnen werden soll. Vielmehr muß die ursächliche Verknüpfung zwischen der Zurücklegung des Weges und der versicherten Tätigkeit rechtlich so wesentlich sein, daß daneben andere, mit der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängende Umstände in den Hintergrund treten und als rechtlich unwesentlich nicht zu berücksichtigen sind. Wie der erkennende Senat weiter dargelegt hat, muß bei dieser Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs eine zu betriebsfremden Zwecken unternommene Fahrt als Einheit behandelt werden; was für die Hinfahrt zum Ort einer dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Betätigung gilt, muß also auch für die Rückfahrt gelten (vgl. auch BSG. 7 S. 243 [247]. Demnach steht ein Weg, dessen Ziel die Arbeitsstätte ist, dann nicht unter Versicherungsschutz, wenn es sich um den Rückweg von einer Verrichtung handelt, die mit der versicherten Tätigkeit nicht rechtlich wesentlich zusammenhängt; dies gilt - wie der Senat ebenfalls schon in den Gründen seines angeführten Urteils ausgesprochen hat - auch dann, wenn unmittelbar nach dem Eintreffen auf der Arbeitsstätte mit der Arbeit begonnen werden sollte.
Der vorliegende Fall bietet dem Senat keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Eine Auseinandersetzung mit der entgegenstehenden Rechtsprechung des früheren Bayerischen Landesversicherungsamts (EuM 20 S. 90; Amtsbl. des Bayer.AM. 1952 S. B 97 Nr. 396; 1953 S. B 150 Nr. 537) erscheint nicht mehr geboten, nachdem inzwischen das Bayerische LSG. diesen Standpunkt preisgegeben und der Auffassung des erkennenden Senats beigepflichtet hat (vgl. Amtsbl. des Bayer.AM. 1956 S. B 158 Nr. 315). Auch andere Landessozialgerichte teilen die vom erkennenden Senat vertretene Ansicht (vgl. LSG. Hamburg in BG. 1955 S. 524; 1958 S. 42; ferner LSG. Nordrhein-Westfalen in SGb. 1954 S. 81 mit ablehnender Anmerkung von Schieckel a.a.O., S. 82 f.).
Das Revisionsvorbringen ist nicht geeignet, eine rechtsirrtümliche Anwendung dieser Auslegungsgrundsätze auf den vorliegenden Fall durch das LSG. darzutun. Die Revision übersieht zunächst, daß § 543 Abs. 1 RVO seiner Zweckbestimmung nach eine ausdehnende Auslegung nicht zuläßt. Bei der Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit steht vielmehr, wie das Reichsversicherungsamt (RVA) stets hervorgehoben hat, die Frage der betriebsbedingten Notwendigkeit des Weges im Vordergrund (vgl. z.B. GE. Nr. 4465 in AN. 1932 S. 439 = EuM 33 S. 13; EuM 47 S. 415). Daraus ergibt sich, daß bei den Wegen vor Arbeitsbeginn und nach Arbeitsschluß regelmäßig die eigene Häuslichkeit des Beschäftigten den anderen Endpunkt des Weges bildet (vgl. auch BSG. 2 S. 239 [241]); diese muß er nämlich zwecks Arbeitsaufnahme verlassen und nach Arbeitsschluß auch gewöhnlich wieder aufsuchen, weil er dort außerhalb der Arbeitszeit die nötige Ruhe und Erholung findet. Das RVA. hat zwar wiederholt Unfälle auch auf solchen Wegen als entschädigungspflichtig angesehen, deren Ausgangspunkt oder Ziel nicht die Wohnung des Versicherten war (vgl. z.B. EuM 21 S. 2, 281; 47 S. 415). Diese Entscheidungen, denen jeweils besonders gestaltete Tatbestände zugrunde lagen, rechtfertigen jedoch nicht die verallgemeinernden Schlußfolgerungen, die von der Revision im Anschluß an das erstinstanzliche Urteil gezogen werden. Das RVA. hat nämlich hierbei hauptsächlich dem Umstand Rechnung getragen, daß der Versicherte während einer Arbeitspause vielfach genötigt ist, sich die für die Weiterarbeit erforderliche Erholung und Stärkung außerhalb des Betriebes, aber nicht in der eigenen Wohnung zu beschaffen; ebenso wäre nach dieser Rechtsprechung der Versicherungsschutz anzuerkennen, wenn etwa der Ehemann der Klägerin während seiner Teilnahme am Schützenfest plötzlich wegen dringender Arbeiten sofort zum Betrieb beordert worden wäre, denn dann wäre dieser nicht von der Wohnung aus angetretene Weg zur Arbeitsstätte zweifellos überwiegend durch betriebliche Belange beeinflußt worden (vgl. EuM 21 S. 2); endlich gehören hierher auch die im angefochtenen Urteil und teilweise auch die von Schieckel (a.a.O.) mitgeteilten Beispiele, in denen für den Versicherten ein sachgerechter, mit der versicherten Tätigkeit vereinbarer Grund besteht, den Weg zur Arbeitsstätte nicht von der Wohnung, sondern von einer anderen Stelle aus anzutreten. Derartige Besonderheiten, auf Grund deren angenommen werden könnte, daß der zum Unfall führende Weg wesentlich (BSG. 3 S. 240 [245]) durch die betriebliche Tätigkeit beeinflußt worden sei, waren aber im vorliegenden Falle nicht gegeben. Schließlich vermag auch der Hinweis der Revision nicht zu überzeugen, nach der Ansicht des LSG. habe O... zwar beim Verlassen der Arbeitsstätte die Wahl zwischen einem versicherten und einem unversicherten Weg gehabt, dagegen nicht mehr bei der Rückkehr zum Beginn der neuen Arbeitsschicht; die Revision übersieht dabei, daß es ihm freigestanden hätte, rechtzeitig vom Schützenfest aus zunächst noch seine Wohnung aufzusuchen; von dort aus wäre dann seine Fahrt zur Arbeitsstätte versichert gewesen. Das LSG. hat somit auch diese Frage ohne inneren Widerspruch beurteilt.
Die unbegründete Revision war hiernach zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2314104 |
BSGE, 53 |