Leitsatz (redaktionell)

Versorgungsanspruch der Hinterbliebenen eines Beschädigten, der sich während der Behandlung in einem Heimatlazarett im Zustand einer schweren seelischen Depression das Leben genommen hat.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 4 Fassung: 1950-12-20, § 38 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 23. Mai 1958 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Ehemann der Klägerin war 1944 zur Wehrmacht einberufen worden und hatte sich 1945 an der Ostfront eine Spiralfraktur der rechten Tibia (Schienbein) mit Verlust der Achillessehne und eine Granatsplitterverletzung am linken Beckenkamm zugezogen. Eine im November 1945 während der Lazarettbehandlung in H gefertigte Röntgenaufnahme ergab im Frakturgebiet der Tibia einen eins bis zwei cm langen schmalen sequesterverdächtigen Befund. Im gleichen Monat erhielt der Ehemann der Klägerin die Nachricht, es bestehe kaum Aussicht, daß seine Frau und Tochter noch am Leben seien. Seitdem war er zeitweise sehr gedrückt und äußerte mehrmals, es sei besser, wenn er tot wäre, da das Leben für ihn doch keinen Sinn mehr habe. Am 1. Dezember 1945 erhängte er sich im Keller des Lazaretts.

Das Versorgungsamt (VersorgA.) lehnte den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab, weil der Tod nicht Folge einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG, sondern durch eine Depression als Fehlreaktion auf eine traurige Familiennachricht verursacht sei. Widerspruch und Klage blieben erfolglos.

Der vom Landessozialgericht (LSG) als Gutachter beauftragte Direktor der Psychiatrischen- und Nervenklinik der Universität Kiel Prof. Dr. S führte aus, der Verstorbene habe sich im Augenblick des Freitodes in einem Zustand krankhafter Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung (seelische Depression, echte Psychose) befunden, der weder durch Verwundungsfolgen noch wesentlich durch schlechte Nachrichten über die Familie hervorgerufen worden sei, sondern, wie die Aussage der Tochter des Verstorbenen ergebe, auf eine in seiner Familie vorhandenen Neigung zu trautigen Verstimmungen zurückgehe. Die behandelnden Ärzte hätten es trotz Kenntnis des depressiven Zustandes, der schon zu einem - angeblichen - Selbstmordversuch drei Tage vor dem Tode geführt habe, unterlassen, den Ehemann der Klägerin einem Psychiater zur Untersuchung vorzustellen.

Der als Sachverständiger gehörte Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. D schloß sich dem Gutachten des Prof. Dr. S an und erblickte in der unterlassenen Zuziehung eines Psychiaters sowie in der unterbliebenen Verlegung in eine Spezialabteilung, die im Dezember 1945 in H möglich gewesen sei, eine Verletzung der Sorgfaltspflicht des behandelnden Lazarettarztes. Auch der als Sachverständiger gehörte Facharzt für innere Krankheiten Prof. Dr. G folgte dem Gutachten des Prof. Dr. S und war der Auffassung, wenn das Verhalten des Patienten so auffällig gewesen sei, daß seine Stubenkameraden zu besonderer Beobachtung angehalten wurden, insbesondere, wenn bereits ein Selbstmordversuch gemacht worden sei, hätte ein Psychiater zugezogen werden müssen.

Die Klägerin behauptete, der behandelnde Lazarettarzt Dr. F habe ihr im Januar 1946 von dem Selbstmordversuch ihres Mannes erzählt, der drei Tage vor dem 1. Dezember 1945 erfolgt sei. Dr. F bestätigte dies zunächst und fügte hinzu, er sei durch die Oberschwester auf die Verzweiflung des Patienten hingewiesen worden, habe wiederholt versucht, ihm Mut und Geduld zuzusprechen und schließlich die Stubenkameraden gebeten, auf ihn aufzupassen und ihn nicht allein zu lassen. Im Gegensatz zu dieser Erklärung und zur Aussage der Tochter des Verstorbenen, die die Darstellung der Klägerin aus eigener Kenntnis bestätigte, gab Dr. F jedoch bei seiner Einvernahme durch den ersuchten Richter an, von einem Selbstmordversuch drei Tage vor dem 1. Dezember 1945 sei ihm nichts bekannt. Die Stubenkameraden des Verstorbenen und das Lazarettpersonal hätten von seinen Depressionen Kenntnis gehabt und seien angewiesen worden, auf ihn besonders zu achten. Dies sei damals - wegen der Notwendigkeit fortgesetzter chirurgischer Versorgung und weil kein Psychiater zur Verfügung gestanden habe - für ausreichend gehalten worden.

Das LSG verurteilte mit Urteil vom 23. Mai 1958 den Beklagten, der Klägerin einen Bescheid über die Gewährung der Witwenrente ab 1. Oktober 1952 zu erteilen und ließ die Revision zu. Es schloß sich dem Gutachten des Prof. Dr. S an und ging davon aus, daß bei dem Verstorbenen im Zeitpunkt des Freitodes eine organische Psychose in Form des manisch-depressiven Irreseins bestanden habe, die nicht auf Einflüsse des Wehrdienstes oder der Verwundung, sondern auf eine in der Familie des Verstorbenen feststellbare Neigung zu trautigen Stimmungen, also auf endogene Faktoren, zurückzuführen sei. Der behandelnde Arzt Dr. F habe die schwere seelische Depression des Verstorbenen bereits Wochen vor dem Tode festgestellt, Stubenkameraden und Lazarettpersonal darauf hingewiesen und gebeten, besonders auf ihn aufzupassen. Unter diesen Umständen hätte der Patient entweder asyliert oder so sorgfältig beobachtet werden müssen, daß es ihm unmöglich gewesen wäre, Hand an sich zu legen. Dr. D und Prof, Dr. G hätten aus eigener Kenntnis der Verhältnisse bestätigt, daß in H-La und sogar im Reservelazarett V in R, wo der Verstorbene lag, psychiatrische Abteilungen bestanden. Der Patient hätte also einem Psychiater vorgestellt und sogar in die psychiatrische Abteilung seines Lazaretts verlegt werden können, ohne deshalb chirurgische Behandlung entbehren zu müssen. Bei dieser Sachlage könne dahingestellt bleiben, ob der Verstorbene Ende November 1945 bereits einen Selbstmordversuch unternommen habe. Selbst wenn dies nicht zutreffe, habe doch die unrichtige Behandlung durch den Lazarettarzt, die den wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen zugerechnet werden müsse, als wesentliche Ursache bei der Selbsttötung mitgewirkt. Der Anspruch der Klägerin auf Witwenrente sei daher begründet.

Mit der Revision rügt der Beklagte, das LSG habe die Voraussetzungen eines Witwenrentenanspruchs zu Unrecht bejaht. Es nehme an, der Verstorbene habe im Zeitpunkt der Selbsttötung an einer organischen Psychose in Form des manisch-depressiven Irreseins gelitten, obwohl Prof. Dr. S, auf dessen Gutachten sich das LSG stütze, die Diagnose "manisch-depressives Irresein" nicht gestellt habe. Die dem Lazarettarzt im Urteil nachgesagte Fehlbehandlung werde in einem Unterlassen erblickt. Dies könne aber nur dann rechtserheblich sein, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln bestanden habe. Ob dies hier der Fall gewesen sei, dürfe vom LSG nicht nach den Maßstäben der heutigen Zeit sondern nur aus der Sicht des ersten Nachkriegswinters beurteilt werden. Damals hätten viele Menschen unter Depressionen gelitten und man habe sie unmöglich alle in eine Nervenklinik einweisen können. Deshalb habe der Lazarettarzt seine ärztliche Sorgfaltspflicht nicht verletzt. Ungeprüft sei auch geblieben, ob der eingetretene Erfolg bei Überführung in psychiatrische Behandlung mit Gewißheit hätte ausgeschlossen werden können und das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, an depressiven Störungen Leidende begingen regelmäßig Selbstmord. Schließlich sei übersehen worden, daß nach § 1 BVG die Gesundheitsschädigung "durch" militärische Dienstverrichtungen oder ähnliche Tatbestände herbeigeführt sein müsse. Es genüge nicht, daß die Schädigung "während" des Militärdienstes eingetreten sei.

Der Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG). Sie ist auch begründet.

Mit Recht rügt die Revision, das LSG gehe von einer Diagnose aus, die der für die Entscheidung maßgebende Gutachter - Professor Dr. S - nicht gestellt habe. Die Revision hat zwar bei dieser Verfahrensrüge die als verletzt angesehene Rechtsnorm nicht ausdrücklich bezeichnet; dies ist indessen nicht erforderlich, es genügt, wenn sich aus den substantiiert vorgetragenen Tatsachen klar ergibt, welche Verfahrensvorschrift als verletzt angesehen wird (BSG 1, 227). Das ist hier der Fall, denn die Revision macht geltend, die beanstandete Feststellung des LSG sei in dem hier zitierten Gutachten nicht enthalten. Das LSG hat im Urteil ausgeführt, es stütze sich bei seiner Entscheidung auf das Gutachten des Prof. Dr. S, dem sich der Facharzt für Psychiatrie Dr. D und der Facharzt für innere Krankheiten Prof. Dr. G angeschlossen hätten. Danach habe beim Ehemann der Klägerin im Zeitpunkt der Selbsttötung eine "organische Psychose in Form des manisch-depressiven Irreseins" bestanden. Diese Diagnose ist jedoch weder von Prof. Dr. S, noch von Dr. D, noch von Prof. Dr. G gestellt worden. Im Gutachten des Prof. Dr. S ist nur ausgeführt, der Verstorbene habe an einer fachärztlich als Depression bezeichneten seelischen Erkrankung, also an einer echten Psychose gelitten. Auch die Sachverständigen Dr. D und Prof. Dr. G haben nur erklärt, bei dem Verstorbenen habe "eine endogene oder sensitive Depression, ein psychotischer Zustand, eine psychotische Depression" bestanden. Da das LSG gleichwohl zu der Feststellung gekommen ist, bei dem Verstorbenen habe eine organische Psychose in Form des manisch-depressiven Irreseins bestanden, greift die sinngemäß erhobene Rüge durch, das LSG habe § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG verletzt, weil es die Feststellung des bei dem Verstorbenen im Zeitpunkt des Todes vorhandenen Krankheitszustandes nicht nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens getroffen habe. Das Gericht überschreitet die seinem Recht der freien Beweiswürdigung gezogenen Grenzen, wenn es einem ärztlichen Zeugnis eine Erklärung entnimmt, die nach dem klaren Wortlaut nicht in ihm enthalten ist, und aus seiner irrigen Auffassung einen unrichtigen Schluß auf den Beweiswert des Zeugnisses zieht (BSG 4, 112). Gleiches muß für ein dem Gericht erstattetes ärztliches Gutachten gelten. Da nicht auszuschließen ist, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn es nicht von einer "organischen Psychose in Form des manisch-depressiven Irreseins" ausgegangen wäre (BSG 2, 197), ist die Revision begründet (§ 162 Abs. 2 SGG).

Die Prüfung der Frage, ob sich die Entscheidung des LSG aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG) ist mangels der hierzu notwendigen tatsächlichen Feststellungen nicht möglich. Das Revisionsgericht ist zwar nach § 163 SGG an die vom LSG über den Krankheitszustand des Verstorbenen zu Unrecht getroffenen Feststellung nicht gebunden und kann diese Feststellung daher anhand des Gutachtens von Prof. Dr. S durch die Feststellung ersetzen, es habe sich um eine echte Psychose in Form der seelischen Depression gehandelt; im übrigen bleibt es aber gemäß § 163 SGG an die Feststellungen des LSG gebunden. Darin ist offen gelassen, ob der Ehemann der Klägerin drei Tage vor dem Selbstmord bereits versucht hatte, sich zu töten und ob dies dem behandelnden Lazarettarzt bekannt war. Ungeklärt ist ferner geblieben, ob das bekanntgewordene Verhalten des Patienten den Verdacht einer Geisteskrankheit nahelegte, ob es wahrscheinlich ist, daß er, wenn er nicht im Lazarett gelegen hätte, selbst zum Psychiater gegangen oder auch gegen seinen Willen in psychiatrische Behandlung gebracht worden wäre, und ob er durch psychiatrische Behandlung und gegebenenfalls Anstaltsunterbringung wahrscheinlich gehindert worden wäre, sich selbst zu töten. Gerade auf diese Feststellungen kommt es nach der Rechtsauffassung des erkennenden Senats entscheidend für die Frage an, ob der Ehemann der Klägerin infolge wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse nicht der erforderlichen Behandlung zugeführt wurde und ob daraus ein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesen Verhältnissen und seinem Tod folgt. Schädigender Vorgang war im vorliegenden Falle möglicherweise eine unzulängliche ärztliche Behandlung, wegen der die Depression nicht erkannt und daher Vorsichtsmaßnahmen, die den Freitod wahrscheinlich verhindert hätten, unterlassen wurden. "Unterlassen" ist aber dem Handeln als Ursache gleichzustellen, wenn ein Handeln erforderlich gewesen wäre (vgl. RVG Bd. 3, 45; BSG in SozR BVG § 85 Bl. Ca 6 Nr. 10).

Entgegen der Auffassung der Revision genügt nach § 1 Abs. 3 BVG zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs; die Gewißheit dieses Zusammenhangs ist nicht erforderlich, die bloße Möglichkeit aber nicht ausreichend (vgl. BSG 7, 192). Ob bestimmte Verhältnisse wehrdiensteigentümlich sind, kann nur durch Vergleich der Situation innerhalb und außerhalb des militärischen Dienstes ermittelt werden, wobei auf die Zeit Ende 1945 abzustellen ist. Wie die Revision zutreffend hervorhebt, bestanden damals angesichts des verlorenen Krieges, des Verlustes der Wohnung, der Existenzgrundlage oder der Heimat, der geringen Versorgung mit Verbrauchsgütern und insbesondere wegen der Ungewißheit oder der Trauer über das Schicksal naher Angehöriger bei so vielen Menschen Depressionen, daß psychiatrische Behandlung nur in Fällen, die zu ernsterer Besorgnis Anlaß gaben, in Betracht kommen konnte. Es war mithin nicht dem militärischen Dienst, hier dem Lazarettbetrieb, eigentümlich, daß ein Patient, der am Sinn seines Lebens zweifelte, nicht alsbald dem Psychiater vorgestellt wurde, zumal damals zur Versorgung der Zivilbevölkerung eine ausreichende Zahl von Ärzten nicht zur Verfügung stand. Es ist daher erforderlich, Umstände festzustellen, die im Zivilleben einen pflichtbewußten Arzt auch damals zur Zuziehung eines Psychiaters veranlaßt hätten. Solche Umstände wären z. B. die Verweigerung der Nahrungsaufnahme, das absichtliche gesundheitsschädigende Verhalten eines Kranken oder ein Selbstmordversuch. Von dieser Auffassung sind offensichtlich auch die vom LSG gehörten Gutachter ausgegangen, denn sie bejahten die Notwendigkeit psychiatrischer Behandlung übereinstimmend unter der Voraussetzung, der Ehemann der Klägerin sei bereits bei einem Selbstmordversuch oder selbstmordverdächtigem Verhalten überrascht worden. Das LSG wird daher zu ermitteln haben, ob der im angefochtenen Urteil offengelassene Selbstmordversuch stattgefunden hat oder ob sonst Umstände ersichtlich sind, aus denen sich die besondere Gefährlichkeit der Depression ergab. Zu diesem Zweck wird es notwendig sein, die von Dr. F erwähnte Oberschwester, gegebenenfalls auch weiteres Lazarettpersonal und die Stubenkameraden des Verstorbenen zu ermitteln und hierüber zu befragen.

Die weiteren Rügen der Revision gehen fehl. Das LSG ist nicht davon ausgegangen, an depressiven Störungen leidende Menschen begingen regelmäßig Selbstmord, sondern hat aus den Gutachten zutreffend nur den Erfahrungssatz übernommen, daß depressive Menschen zum Selbstmord neigen. Auch hat das LSG - entgegen der Auffassung der Revision - im Urteil ausdrücklich festgestellt, daß die Schädigung Auswirkung der dem militärischen Dienst eigentümlichen Verhältnisse, also "durch" diese Verhältnisse verursacht sei.

Wegen der von der Revision mit Recht gerügten Verletzung des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Da die für eine Entscheidung in der Sache selbst erforderlichen Feststellungen vom LSG nicht getroffen worden sind, wird der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324483

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