Entscheidungsstichwort (Thema)

Rücknahme eines belastenden Verwaltungsaktes

 

Orientierungssatz

1. Wurde der angefochtene Verwaltungsakt vor dem 1.1.1981 erlassen, ist bei noch fortdauerndem gerichtlichen Verfahren über den Verwaltungsakt, dessen Aufhebung begehrt wird, seit dem Inkrafttreten des SGB 10 nicht mehr von dem am 1.1.1981 außer Kraft getretenen § 627 RVO auszugehen, vielmehr § 44 SGB 10 anzuwenden. Durch die Entscheidung des Großen Senats des BSG vom 1982-12-15 GS 2/80 = SozR 1300 § 44 Nr 3 ist der erkennende Senat nicht an seine dem Urteil vom 1980-09-30 2 RU 31/80 = SozSich 1981, RsprNr 3561 zugrunde liegende Auffassung gebunden, § 627 RVO aF sei weiterhin hier anwendbar.

2. Für die Rücknahme eines Verwaltungsakts nach § 44 SGB 10 ist nicht erforderlich, daß der Sozialleistungsträger von der Unrichtigkeit des Bescheides überzeugt ist oder als überzeugt gelten muß (vgl BSG 1983-06-21 4 RR 69/82 = SozR 2200 § 1251 Nr 102).

 

Normenkette

SGB 10 § 44 Abs 1 S 1 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 Art 2 § 40 Abs 1 Fassung: 1980-08-18; RVO § 627

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 24.03.1982; Aktenzeichen L 4 U 137/80)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 23.01.1979; Aktenzeichen S 1 U 49/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger eine höhere Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Die Beklagte zahlt dem Kläger wegen der Folgen eines am 13. Oktober 1941 erlittenen Arbeitsunfalls vom 5. April 1961 an Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH. Als Unfallfolgen sind festgestellt: "Verlust des rechten Beines im Unterschenkel, erhebliche Abmagerung der Oberschenkelmuskulatur, Minderung der Verschieblichkeit der rechten Kniescheibe" (Bescheid vom 8. November 1961). Den auf § 627 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützten Antrag des Klägers vom 7. März 1978, ihm Verletztenrente nach einer MdE um 50 vH zu gewähren, lehnte die Beklagte ab, weil sich im Laufe der Zeit die ärztliche Einschätzung der MdE nicht geändert habe (Bescheid vom 23. Mai 1978).

Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab Antragstellung Dauerrente nach einer MdE um 50 vH zu gewähren (Urteil vom 23. Januar 1979). Auf die Berufung der Beklagten hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. Dezember 1979). Dieses Urteil hat das Bundessozialgericht (BSG) auf die Revision des Klägers aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen (Urteil vom 30. September 1980 - 2 RU 31/80 -). Es hat dem LSG insbesondere die Prüfung der Frage aufgegeben, ob die Beklagte als überzeugt iS des § 627 RVO anzusehen sei, daß die festgestellten Unfallfolgen des Klägers unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse und Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft und darauf beruhender allgemeiner Richtwerte einen höheren Grad der MdE bedingten.

Das LSG hat das erstinstanzliche Urteil erneut aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. März 1982). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die Frage, ob die Beklagte gemäß § 627 RVO (in der bis zum 31. Dezember 1980 geltenden Fassung) die Rente des Klägers neu festzustellen habe, weil die Beklagte von der Unrechtmäßigkeit der bisherigen Rentenfeststellung überzeugt sei oder als überzeugt zu gelten habe, müsse zu Ungunsten des Klägers verneint werden. Aus den Schriftsätzen der Beklagten gehe hervor, daß sie von der Richtigkeit der bisher erlassenen Verwaltungsakte überzeugt sei. Von deren Unrichtigkeit könne sie nur als überzeugt gelten, wenn die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen, bestandskräftigen Bescheides offensichtlich und die für den Bescheid gegebene Begründung unter keinen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu halten wäre. Es müsse also jede andere tatsächliche Würdigung oder jede andere rechtliche Beurteilung als die des Versicherten ohne weiteres als vertretbar ausscheiden. Das sei vorliegend jedoch nicht der Fall.

Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil des LSG zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und unter Bezugnahme auf seine Beschwerdebegründung ausgeführt, die Beklagte hätte aufgrund neuer medizinischer Kenntnisse gemäß § 627 RVO aF überzeugt sein müssen, daß die Bewertung seiner unfallbedingten MdE unrichtig sei. Zudem sei sein Begehren nicht mehr nach dieser Vorschrift zu prüfen, sondern nach § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) zu beurteilen und damit erst recht begründet.

Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Urteile des Schleswig- Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. Dezember 1979 und vom 24. März 1982 die Berufung der Beklagten vom 5. März 1979 gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 23. Januar 1979 zurückzuweisen, hilfsweise die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend, da sie nicht überzeugt sein müsse, daß die Bewertung der unfallbedingten MdE des Klägers durch ihren Bescheid vom 8. November 1961 unrichtig sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist.

Gegenstand des Rechtsstreites ist das Begehren des Klägers, seine nach seiner Auffassung durch den Bescheid vom 8. November 1961 zu niedrig bewertete unfallbedingte MdE höher festzustellen.

Bei der rechtlichen Beurteilung ist das LSG von der mit Vorschrift des § 627 RVO ausgegangen (s Art II §§ 4 Nr 1, 40 Abs 1 SGB X). Nach § 627 RVO aF hatte der Träger der Unfallversicherung eine Neufeststellung vorzunehmen, wenn er sich bei erneuter Prüfung davon überzeugte, daß die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt worden war. Diese Vorschrift ist jedoch auf den vorliegenden Fall nicht mehr anzuwenden. Wie nach Erlaß des Urteils des Senats vom 30. September 1980 und nach Erlaß des angefochtenen Urteils des LSG der Große Senat des BSG entschieden hat (Beschluß vom 15. Dezember 1982 - GS 2/80 -), ist in den Fällen vorliegender Art wegen des noch fortdauernden gerichtlichen Verfahrens über den Verwaltungsakt, dessen Aufhebung begehrt wird, seit dem Inkrafttreten des SGB X (1. Januar 1981, s Art II § 40 Abs 1 SGB X) vielmehr § 44 SGB X anzuwenden. Durch die Entscheidung des Großen Senats des BSG ist der erkennende Senat nicht an seine dem Urteil vom 30. September 1980 zugrunde liegende Auffassung gebunden, § 627 RVO aF sei weiterhin hier anwendbar.

Nach § 44 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit (siehe hierzu § 44 Abs 4 SGB X) ua zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht erbracht worden sind. Es ist danach nicht mehr erforderlich, daß der Sozialleistungsträger von der Unrichtigkeit des Bescheides überzeugt ist oder als überzeugt gelten muß (BSG Urteil vom 21. Juni 1983 - 4 RJ 69/82 -). Das LSG hat jedoch - von seiner Rechtsauffassung aus und nach § 170 Abs 5 SGG - als entscheidend angesehen, daß die Beklagte nicht davon überzeugt zu sein brauchte, daß die unfallbedingte MdE des Klägers zu gering festgestellt ist. Die gesamte tatsächliche und darauf gestützte rechtliche Würdigung durch das LSG beruht darauf, ob die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen, bestandskräftigen Bescheides offensichtlich und die für den Bescheid gegebene Begründung unter keinem tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkt zu halten ist. Da dies, wie bereits dargelegt, für die Entscheidung nach dem nunmehr maßgebenden § 44 SGB X nicht mehr zutrifft und der Senat die für eine Entscheidung nach dieser Vorschrift notwendigen tatsächlichen Feststellungen nicht treffen und Ermittlungen (ggfs ua eine Anfrage beim BMA über allgemeine, von der Bewertung der MdE im Versorgungswesen unabhängige, neue Erkenntnisse zur MdE nach Unterschenkelamputation oder über entsprechende Nachweismöglichkeiten aus Anlaß der Neubearbeitung der "Anhaltspunkte für die Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen") nicht vornehmen kann, war auf die Revision des Klägers das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten der beiden Revisionsverfahren zu entscheiden hat.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663272

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