Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtannahmebeschluss: Rückübertragung des Sorgerechts trotz deutlicher Anhaltspunkte für zukünftig mögliche Kindeswohlgefährdung. Absehen von einer Trennung des Kindes von den Eltern erfordert bei bestehenden Anhaltspunkten für Kindesmisshandlung (hier: Verdacht auf Herbeiführung eines Schütteltraumas) hohe Prognose- und Begründungsanforderungen bzgl Ausbleiben des Schadenseintritts. fachgerichtliche Entscheidung wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen noch gerecht
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, 2 S. 1, Art. 6 Abs. 2 Sätze 1-2, Abs. 3; BGB §§ 1666a, 1666 Abs. 1, 3 Nr. 6; FamFG § 158
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).
Gründe
Rz. 1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Sorgerecht für ein Kind bei Verdacht eines durch die Eltern verursachten sogenannten Schütteltraumas.
I.
Rz. 2
1. a) Die miteinander verheirateten und gemeinsam sorgeberechtigten Eltern des betroffenen, am (…) Oktober 2022 geborenen Kindes stellten das Kind am 16. November 2022 in der örtlichen Kinderklinik vor. Dabei gaben sie an, dieses habe am Vortag erst auffällig geschrien und sei dann erschlafft. Eine im Krankenhaus durchgeführte Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels des Kindes zeigte einen Bluterguss unter der harten Hirnhaut (Subduralhämatom), Flüssigkeitsansammlungen im subduralen Raum (Hygrome), Verletzungen des Hirngewebes (Hirnparenchymläsionen) sowie Blutgerinnsel in den kleinen Venen zwischen harter und weicher Hirnhaut (Brückenvenenthrombosen). Nach Verlegung des Kindes in ein Berliner Krankenhaus wurde es dort am 17. November 2022 am Kopf operiert. Die festgestellten Verletzungen des Kindes verheilten in der Folgezeit ohne bleibende Schäden.
Rz. 3
b) Nachdem das zuständige Jugendamt über den Verdacht eines von den Eltern des betroffenen Kindes verursachten Schütteltraumas informiert worden war, führte eine Mitarbeiterin ein Gespräch mit den Eltern. Ein Schütteln ihres Kindes stritten beide Eltern ab. Das Kind sei nach der Geburt ausschließlich von ihnen betreut worden und zu keinem Zeitpunkt mit anderen Personen alleine gewesen. Möglicherweise seien die Kopfverletzungen anlässlich einer Fahrt zum Kinderarzt eine Woche zuvor entstanden. Dabei sei das genutzte Fahrzeug über eine Bodenwelle gefahren und dadurch stark durchgeschüttelt worden.
Rz. 4
c) Da sich die Entstehung der Verletzungen des Kindes zunächst nicht abschließend aufklären ließ, zogen die Eltern unter anderem auf Vorschlag des Jugendamtes im Dezember 2022 in eine Eltern-Kind-Einrichtung. Der Aufenthalt dort war auf ein für die Dauer von drei Monaten vorgesehenes Krisenclearing zur Einschätzung der Gefährdungslage sowie der elterlichen Kooperationsbereitschaft und der erzieherischen Kompetenzen der Eltern angelegt.
Rz. 5
Im Zuge der weiteren Klärung der Ursache der festgestellten Verletzungen gelangte das Institut für Rechtsmedizin der Berliner Klinik in seinem Bericht zu dem Ergebnis, dass für die Entstehung der Verletzungen des Kindes "ein Schütteltrauma stark im Vordergrund stehe". Eine weitere MRT habe die Befunde der ersten MRT bestätigt. Eine Blutuntersuchung habe keinen Hinweis auf Gerinnungsstörungen als mögliche Ursache der Verletzungen erbracht. Auch eine Stoffwechseluntersuchung habe keine auffälligen Befunde ergeben. Bei der augenärztlichen Untersuchung des Kindes sei zwar kein für ein Schütteltrauma typisches Augenhintergrundbluten festgestellt worden. Das schließe ein Schütteltrauma allerdings nicht aus, weil das Hintergrundbluten lediglich in 75-90 % aller Fälle eines Schütteltraumas auftrete.
Rz. 6
2. a) Zur Überprüfung des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung hat sich das Jugendamt im Januar 2023 an das Familiengericht gewandt. Dieses hat den Beschwerdeführer zum Verfahrensbeistand für das Kind bestellt und mit Beschluss vom 7. Februar 2023 den Eltern ohne mündliche Anhörung im Wege der einstweiligen Anordnung weite Teile des Sorgerechts, vor allem das Aufenthaltsbestimmungsrecht, vorläufig entzogen und insoweit Amtspflegschaft durch das Jugendamt angeordnet. Die Amtspflegerin hat das Kind gemeinsam mit den Eltern in der Eltern-Kind-Einrichtung belassen.
Rz. 7
b) Im weiteren Verlauf des einstweiligen Anordnungsverfahrens sind die Beteiligten Anfang März 2023 durch das Familiengericht angehört worden. Dabei haben sich die Eltern mit einer weiteren Unterbringung in einer Eltern-Kind-Einrichtung einverstanden erklärt. Die Amtspflegerin hat demgegenüber angekündigt, das Kind in einer Pflegefamilie unterbringen zu wollen. Nachdem das Familiengericht zum Ausdruck gebracht hatte, die einstweilige Anordnung aufrechtzuerhalten, haben die Eltern das Kind freiwillig an die Amtspflegerin übergeben, die es in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht hat. Ende März 2023 hat das Familiengericht mit weiterem Beschluss die einstweilige Anordnung aufrechterhalten.
Rz. 8
3. a) In dem der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden Hauptsacheverfahren zum Sorgerecht hat das Familiengericht die Einholung eines Gutachtens zur Erziehungsfähigkeit der Eltern beschlossen und einen psychiatrischen Sachverständigen damit beauftragt. Der Sachverständige ist in seinem Mitte April 2023 vorgelegten Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, dass die Erziehungsfähigkeit beider Eltern eingeschränkt sei. Zwar würden sich aus der Interaktionsbeobachtung zwischen den Eltern und ihrem Kind keine Anhaltspunkte für eine Traumatisierung des Kindes ergeben. Die Eltern zeigten sich ihrem Kind gegenüber fürsorglich, seien auf seine Sicherheit bedacht und interagierten gut miteinander. Es lägen auch keine Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung der Eltern vor. Der Vater weise allerdings eine narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung auf, die mit erhöhter Kränkbarkeit und Schwierigkeiten in der Konfliktbewältigung einhergehen könne. Er sei bemüht, aggressive Impulse zu kontrollieren, was allerdings die Gefahr einer Stauungsentladung mit sich bringe. Auf Grundlage des Berichts der Rechtsmedizin sei davon auszugehen, dass das Kind von einem oder beiden Elternteilen schwer misshandelt worden sei. Hinsichtlich des Wiederholungsrisikos müsse nach neueren Studien davon ausgegangen werden, dass bis zu zwei Dritteln einmal misshandelter Kinder erneut Opfer körperlicher Gewalt werden würden. Dies lasse auch unter Berücksichtigung der positiven Berichte der Eltern-Kind-Einrichtung und dem auch sonst positiven Eindruck von den Eltern eine Rückkehr des Kindes in den elterlichen Haushalt auf absehbare Zeit nicht zu. Die Prognose bleibe auch bei einer erneuten Aufnahme der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung unsicher. Es bestehe selbst dort kein durchgehender Schutz. Ein Aufenthalt der Eltern müsse zudem mehrere Jahre andauern.
Rz. 9
b) Das Familiengericht hat zudem eine ergänzende rechtsmedizinische Begutachtung durch die Berliner Klinik in Auftrag gegeben. Danach seien die festgestellten Verletzungen des Kindes bei Fehlen äußerer Verletzungen und fehlender plausibler anderweitiger Entstehungsursachen nur mit einem Schütteltrauma erklärbar. Zwar könne es auch infolge der Geburt oder während der Schwangerschaft zu den Einblutungen gekommen sein. Hiergegen spräche aber das Ergebnis der pathologischen Untersuchung des während der Operation entnommenen Blutes, das nicht älter als eine Woche gewesen sei.
Rz. 10
Ein von den Eltern daraufhin beauftragter kinder- und jugendmedizinischer Privatgutachter ist den Ausführungen des rechtsmedizinischen Gutachters entgegengetreten. Es fehle an dem für ein Schütteltrauma typischen Einbluten in den Augenhintergrund. Zudem sei ein Abbauprodukt im Rahmen der rechtsmedizinischen Untersuchungen nachgewiesen worden, welches belege, dass die Verletzungen älteren Ursprungs seien und daher während der Schwangerschaft oder Geburt verursacht worden seien.
Rz. 11
Im Rahmen einer mündlichen Anhörung hat das Familiengericht den von ihm beauftragten rechtsmedizinischen Sachverständigen ergänzend mündlich befragt. Dieser hat angeführt, die vom Privatgutachter angeführten Anhaltspunkte für ein zeitlich früheres Entstehen der Verletzungen legten nahe, dass das Kind mehrfach, also zu verschiedenen Zeitpunkten, geschüttelt worden sei. Statistisch sinke das Risiko eines Schütteltraumas mit zunehmendem Alter des Kindes. Kinder im ersten Lebensjahr seien deutlich überrepräsentiert gegenüber älteren Kindern.
Rz. 12
c) Während des Aufenthalts des Kindes in der Bereitschaftspflegefamilie hatten die Eltern Umgangskontakte mit ihrem Kind. Der Pflegekinderdienst des Jugendamtes hat dazu berichtet, dass die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern stabil sei. Diese hätten engmaschige Umgangskontakte mit ihrem Kind, etwa zwei bis dreimal in der Woche. Das Kind verbringe gern Zeit mit seinen Eltern, die sich im Rahmen der Umgänge dem Kind gegenüber sehr zugewandt gezeigt hätten und altersgemäß auf das Kind eingegangen seien. Es bestehe eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Eltern und der Pflegestelle. Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung seien zu keinem Zeitpunkt ersichtlich geworden. Das Jugendamt selbst hat ergänzend ausgeführt, aus eigener Fachkunde die Elternkompetenzen und die daraus für das Kind möglicherweise erwachsenden Gefahren einschätzen zu können. Die fachliche Einschätzung ergebe, dass eine Gefährdung des Kindeswohls durch eine zeitweise Unterbringung der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung ausreichend abgewendet werden könne, so dass die Aufrechterhaltung der Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht erforderlich sei.
Rz. 13
Zusätzlich hat sich das Familiengericht einen persönlichen Eindruck von dem Kind verschafft.
Rz. 14
d) Mit Beschluss vom 4. Januar 2024 hat es den Eltern auch in der Hauptsache weite Teile des Sorgerechts, vor allem das Aufenthaltsbestimmungsrecht, entzogen und Amtspfleg-schaft angeordnet. Nach Überzeugung des Gerichts habe das Kind durch zwei separate, bewusst gesteuerte Handlungen, verursacht jeweils durch einen der beiden Elternteile, zwei potentiell lebensgefährliche Schütteltraumata erlitten, wobei offen bleiben könne, auf welche konkrete Handlung diese Schädigungen zurückzuführen seien. Angesichts der zweifachen Misshandlung des Kindes bestehe eine erhebliche Wiederholungsgefahr, die die Aufrechterhaltung der Trennung des Kindes von seinen Eltern erforderlich mache. Das fortschreitende Alter des Kindes stehe der Wiederholungsgefahr nicht entgegen, denn auch das Verhalten eines Kleinkindes könne Eltern vor große Herausforderungen stellen. Die durchweg positiven Beurteilungen der Fachkräfte in Bezug auf das Verhalten der Eltern würden der Wiederholungsgefahr nicht entgegenstehen, denn gewalttätige Übergriffe in Belastungssituationen seien hierdurch nicht ausgeschlossen. Als milderes Mittel komme ein weiterer Aufenthalt der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung nicht in Betracht, denn auch dann würde sich das Kind über längere Zeiträume hinweg unbeaufsichtigt bei seinen Eltern befinden.
Rz. 15
4. a) Gegen diesen Beschluss haben die Eltern Beschwerde erhoben. Weder hätten sie das Kind geschüttelt noch bestehe - schon allein aufgrund des Alters des Kindes - eine Wiederholungsgefahr. Der Beschwerdeführer und die Amtspflegerin sind der Beschwerde entgegengetreten. Das Jugendamt hat daran festgehalten, dass eine zeitweise Unterbringung der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung ausreiche.
Rz. 16
b) Das Oberlandesgericht hat weitere schriftliche Stellungnahmen beider gerichtlich beauftragten Sachverständigen eingeholt. Der psychiatrische Sachverständige hat in seiner Stellungnahme ausgeführt, das wiederholte Schütteln eines Kindes zeige einen so gravierenden Mangel an Empathie, dass die für das Schütteln verantwortliche Person erziehungsungeeignet sei. Die Gefahr einer Wiederholung steige, wenn es bereits mehrfach zu einem Schütteln gekommen sei. Gegenläufig sinke die Gefahr mit zunehmenden Alter, Sprachvermögen und dem Rückgang basaler Versorgungsnotwendigkeiten für das Kind. Es bleibe aber die Gefahr anderer Formen der Kindesmisshandlung. Das von den Fachkräften beschriebene positive Verhalten der Eltern sei erwartbar und lediglich eine Frage der Intelligenz, weil die Eltern ihr Kind zurückerhalten wollten.
Rz. 17
Im Beschwerdeverfahren hat das Oberlandesgericht sich ebenfalls einen persönlichen Eindruck von dem Kind verschafft sowie die Eltern und die Bereitschaftspflegeeltern persönlich angehört. Diese haben angegeben, beide Eltern zeigten im Umgang mit ihrem Kind keine Einschränkungen. Es habe sich daher ein Vertrauensverhältnis zwischen ihnen und den Eltern entwickelt, sodass sie das Kind den Eltern mehrfach ohne Beaufsichtigung tageweise zur Betreuung überlassen hätten. Das Kind sei im Anschluss jeweils unbeeinträchtigt zu ihnen zurückgekehrt. Zudem ist der psychiatrische Sachverständige ergänzend mündlich befragt worden. Er hat dabei ausgeführt, die Gefahr weiterer Übergriffe könne dadurch reduziert werden, dass Stressfaktoren aufgefangen und die Eltern Maßnahmen erlernten, um Überforderungen in Stresssituationen begegnen zu können. Der Aufenthalt in einer Eltern-Kind-Einrichtung könne hierzu beitragen und Überforderungssituationen vorbeugen. Dennoch halte er an seiner Empfehlung fest, die Trennung zwischen Eltern und Kind aufrechtzuerhalten.
Rz. 18
Das Jugendamt hat den Eltern im Anschluss an die mündliche Anhörung vor dem Oberlandesgericht die Aufnahme in einer konkreten Eltern-Kind-Einrichtung angeboten. Die Eltern haben das Hilfsangebot angenommen und sind mit dem Kind am 2. Mai 2024 - ohne Zustimmung der Amtspflegerin - in die Einrichtung gezogen.
Rz. 19
c) Mit Beschluss vom 7. Mai 2024 hat das Oberlandesgericht die Entscheidung des Familiengerichts aufgehoben und klarstellend ausgesprochen, dass damit den Eltern das Sorgerecht wieder vollumfänglich zustehe. Den Eltern ist aber die Auflage erteilt worden, in Abstimmung mit dem Jugendamt sich gemeinsam mit dem Kind in eine Eltern-Kind-Einrichtung zu begeben, dort für eine vom Jugendamt festgelegte Dauer zu verbleiben und im Anschluss daran in Abstimmung mit dem Jugendamt eine ambulante Anschlussmaßnahme in Anspruch zu nehmen.
Rz. 20
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Oberlandesgericht ausgeführt, dass die Voraussetzungen für einen Teilentzug des Sorgerechts nicht gegeben seien, weil das Wohl des Kindes bereits durch die erteilten Auflagen gesichert werden könne.
Rz. 21
Zwar bestehe die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Verletzungen des Kindes auf einem Schütteltrauma beruhten, das von dem einen oder anderen Elternteil verursacht worden sei. Es lägen auch konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass das Kind zweimal ein Schütteltrauma erlitten habe. Die Ausführungen des von den Eltern beauftragten Privatgutachters seien nicht vollends geeignet, ein Schütteltrauma auszuschließen oder hieran jedenfalls erhebliche Zweifel zu begründen.
Rz. 22
Gleichwohl sei aber die Annahme eines hohen Maßes an Prognosesicherheit dahingehend gerechtfertigt, dass erhebliche und unumkehrbare Schäden für das Kind zukünftig nicht eintreten werden. Denn allein die abstrakte Wiederholungsgefahr genüge auch bei Anwendung des strengen Prognosemaßstabes nicht, um eine Trennung des Kindes von seinen Eltern zu rechtfertigen. Es seien vielmehr die Umstände des Einzelfalles zu würdigen. Vorliegend bestünden mit Ausnahme des fraglichen Schüttelns keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es in Zukunft zu weiteren, ähnlich schwerwiegenden Verletzungen des Kindes durch seine Eltern kommen werde, wie sie als Folge des heftigen Schüttelns eines Babys eintreten könnten. Die Gefahr eines erneuten heftigen Schüttelns sei vorliegend schon allein aufgrund des Alters des Kindes zwar nicht vollständig entfallen, aber nach den übereinstimmenden Ausführungen der beiden gerichtlich beauftragten Sachverständigen mittlerweile deutlich gesunken. Sonstige in Betracht zu ziehende körperliche Übergriffe der Eltern gegenüber ihrem Kind hätten demgegenüber keine ebenso schwerwiegenden, potentiell lebensgefährlichen Gefährdungen für das Kind zur Folge. Es sei auch nicht erkennbar, dass die Eltern auf andere Weise als durch ein Schütteln ihres Kindes diesem ähnlich gravierende Verletzungen wie im Falle des Schüttelns eines Babys zufügen könnten. Denn es sei nicht ersichtlich, dass sie zu derart massiven Gewaltdurchbrüchen neigten, die auch bei Kindern im aktuellen Alter des betroffenen Kindes zu mit einem heftigen Schütteln eines Babys vergleichbaren Verletzungen führen würden.
Rz. 23
Das verbleibende Risiko einer erneuten - weniger schwerwiegenden - Verletzung des Kindes durch einen seiner Elternteile könne zwar nicht vollständig ausgeschlossen werden. Unter Berücksichtigung des Grades der Wahrscheinlichkeit und der Schwere möglicher Verletzungsfolgen sei zur Gefahrenabwendung eine dauerhafte Fremdunterbringung aber nicht erforderlich. Zwar seien die Ursache und Begleitumstände des Schüttelns nicht vollständig bekannt. Durch die Aufnahme der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung könne das Eintreten einer Überforderungssituation aber sicher vermieden werden. Die Eltern könnten dort durch therapeutische und pädagogische Maßnahmen erlernen, besser mit Stresssituationen umzugehen und sich hierfür geeignete Handlungsstrategien aneignen. Die Eltern hätten bereits während ihres ersten Aufenthalts in der Eltern-Kind-Einrichtung gezeigt, dass sie in der Lage seien, die dort angebotenen Hilfen anzunehmen und von ihnen zu profitieren. Beide Eltern hätten zudem im Rahmen ihrer mündlichen Anhörung glaubhaft ihre Bereitschaft zu einer therapeutischen Behandlung erklärt. Ein Schuldeingeständnis der Eltern sei keine unabdingbare Voraussetzung für einen Erfolg der den Eltern zu gewährenden Hilfen. Ein für das Schütteln verantwortlicher Elternteil könne vielmehr auch ohne Eingeständnis der eigenen Schuld über sein Verhalten erschrocken sein und alles dafür tun wollen, um künftig jegliche von ihm ausgehende Gefährdung seines Kindes zu vermeiden.
Rz. 24
d) Gegen diese Entscheidung hat der Beschwerdeführer Anhörungsrüge (§ 44 Abs. 1 FamFG) eingelegt, die durch Beschluss des Oberlandesgerichts vom 5. Juni 2024 als unbegründet zurückgewiesen worden ist.
Rz. 25
5. Mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 7. Mai 2024 rügt der Beschwerdeführer die Verletzung des Anspruchs des Kindes auf Schutz durch den Staat aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG und verweist auf eine Verletzung des Anspruchs des Kindes auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Zudem beantragt er den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Rz. 26
Das Oberlandesgericht habe mit seiner Entscheidung spezifisches Verfassungsrecht verletzt. Das Kind habe gegenüber dem Staat einen Anspruch auf Schutz aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG. Ob eine Trennung des Kindes verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes geboten sei, hänge maßgeblich von einer Gefahrenprognose ab, dem die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens Rechnung zu tragen habe. Bestünden Anhaltspunkte dafür, dass bei einem Verbleib des Kindes in der Familie oder bei einer Rückkehr des Kindes in die Familie das Kind in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet sei, halte ein fachgerichtlich gleichwohl angeordneter Verbleib oder eine Rückkehr des Kindes in die Familie der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nur dann stand, wenn das Gericht in Auseinandersetzung mit den für eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung sprechenden Anhaltspunkten nachvollziehbar begründe, warum eine solche Gefahr dennoch nicht vorliege. Diese Begründungsanforderungen seien nochmals gesteigert, wenn das Gericht der Einschätzung eines Sachverständigen nicht folge oder von den Feststellungen und Wertungen weiterer beteiligter Fachkräfte abweiche.
Rz. 27
Dem sei das Oberlandesgericht nicht gerecht geworden. Es habe festgestellt, dass das Kind in den ersten Wochen nach seiner Geburt durch mindestens einen Elternteil mehrfach so erheblich geschüttelt worden sei, dass dadurch subdurale Blutungen und weitere Verletzungen im Schädelraum entstanden seien. Ausgehend hiervon verlange eine Rückkehr des Kindes in die elterliche Obhut ein hohes Maß an Prognosesicherheit dahingehend, dass ein vergleichbarer Schaden für das Kind nicht erneut eintreten werde. Dem genüge die Begründung der angegriffenen Entscheidung des Oberlandesgerichts aber nicht. Es weiche mit seiner Entscheidung sowohl von der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen als auch von der Einschätzung der Amtspflegerin und des Beschwerdeführers ab, ohne hinreichend zu begründen und offenzulegen, inwieweit es über eine anderweitige verlässliche Grundlage für eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung verfüge. Auf die positiven Berichte über die Eltern könne das Oberlandesgericht seine Entscheidung jedenfalls nicht stützen, denn der psychiatrische Sachverständige habe ausgeführt, dass dieses positive Verhalten der Eltern angesichts ihres Ziels der Rückführung des Kindes erwartbar und nur eine Frage der Intelligenz sei. Auch soweit das Gericht ausführe, es bestehe allenfalls noch die Gefahr anderweitiger Verletzungen bleibe offen, von welchen anderweitigen Verletzungen das Oberlandesgericht ausgehe und welches konkrete Risiko es insoweit annehme. Hinzu komme, dass sich die Wiederholungsgefahr vorliegend durch die stattgefundenen zwei Misshandlungen bereits realisiert habe. Auch sei nicht ausreichend erwogen worden, dass auch die Verursachung eines Schütteltraumas einen erheblichen Kraftaufwand erfordere und daher auch für anderweitige Verletzungen von einer erheblichen Krafteinwirkung auf das Kind auszugehen sei. Schwerste Schädigungen eines Kindes könnten auch ohne Einsatz erheblicher körperlicher Gewalt verursacht werden, was in der angegriffenen Entscheidung nicht bedacht worden sei. Dem komme insbesondere vor dem Hintergrund Bedeutung zu, dass die Ursache der Misshandlungen nach wie vor unbekannt sei und daher nicht unterstellt werden könne, diese seien durch einen Affektdurchbruch ausgelöst worden.
Rz. 28
Schließlich sei auch die Annahme des Oberlandesgerichts, bei einem Aufenthalt der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung bestünde keine nachhaltige Kindeswohlgefährdung mehr, nicht ausreichend begründet. Das Gericht habe versäumt, Möglichkeiten und Grenzen öffentlicher Hilfen im konkreten Fall aufzuklären und darzulegen. Es sei nicht erkennbar, inwieweit sich die Gefahrenlage im Vergleich zur früheren Familiensituation verändert habe. Offen bleibe, welche Gefährdungsrisiken durch die vom Oberlandesgericht angedachte psychotherapeutische Behandlung der Eltern kompensiert werden könnten. Auch warum ein Schuldeingeständnis der Eltern und die darin zum Ausdruck kommende Einsicht in ihre Problembereiche nicht als unabdingbare Voraussetzung für einen Therapieerfolg erachtet werde, erörtere das Oberlandesgericht nicht nachvollziehbar.
Rz. 29
6. Zu der Verfassungsbeschwerde haben die Amtspflegerin und die Eltern Stellung genommen. Die Amtspflegerin weist darauf hin, dass die Eltern im Zeitraum vom (…) Juli 2024 ein weiteres Kind bekommen hätten. Die Schwangerschaft müsse schon zum Zeitpunkt der Anhörung durch das Oberlandesgericht bekannt gewesen sein, ohne dass die Eltern die übrigen Beteiligten hierauf hingewiesen hätten. Die derzeitige Unterbringung der Familie in der Eltern-Kind-Einrichtung laufe noch bis April 2025. Die Eltern vertreten die Auffassung, eine Verletzung von Grundrechten des Kindes sei nicht erkennbar. Das Oberlandesgericht habe ausführlich und nachvollziehbar begründet, warum eine Trennung des Kindes von ihnen nicht erforderlich sei.
Rz. 30
7. Aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Geburt des zweiten Kindes hat das Familiengericht ein Verfahren zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung eingeleitet. Das Jugendamt hat in diesem Verfahren Anfang Juli 2024 berichtet, dass die Eltern sich für eine psychotherapeutische Behandlung angemeldet hätten und die Therapie Ende Juli 2024 beginnen werde. Nach der Rückmeldung der Einrichtung würden die Eltern auch in der neuen Einrichtung gut mitarbeiten, ihre Tochter stets im Blick haben und ihr angemessene Grenzen setzen. Es habe bislang keine besonderen Stresssituationen gegeben.
II.
Rz. 31
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie weder grundsätzliche Bedeutung hat noch ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des betroffenen Kindes angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Zwar ist der Beschwerdeführer berechtigt, als Prozessstandschafter des betroffenen Kindes dessen Rechte mit der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen (1). Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch unbegründet (2).
Rz. 32
1. Der Beschwerdeführer ist aufgrund seiner Bestellung als Verfahrensbeistand befugt, Verfassungsbeschwerde einzulegen und mit dieser als Prozessstandschafter - ausnahmsweise - Grundrechte des Kindes in eigenem Namen geltend zu machen (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. Dezember 2016 - 1 BvR 2569/16 -, Rn. 39 und vom 30. April 2018 - 1 BvR 393/18 -, Rn. 4; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 1. August 2022 - 1 BvQ 50/22 -, Rn. 33 und vom 5. September 2022 - 1 BvR 65/22 -, Rn. 15).
Rz. 33
2. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts, in dessen Folge den Eltern das Sorgerecht für das betroffene Kind wieder in vollem Umfang zusteht, hält verfassungsrechtlicher Prüfung noch stand. Die Prognose des Oberlandesgerichts, einer zukünftig drohenden Kindeswohlgefährdung (vgl. § 1666 BGB) mit den von ihm erteilten Auflagen ausreichend sicher entgegenwirken zu können, ist gemessen an dem Anspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auf staatlichen Schutz verfassungsrechtlich hinzunehmen.
Rz. 34
a) Kinder haben nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG einen Anspruch auf den Schutz des Staates, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht gerecht werden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können.
Rz. 35
aa) Das Kind, dem die Grundrechte, insbesondere das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) als eigene Rechte zukommen, steht unter dem besonderen Schutz des Staates (vgl. BVerfGE 24, 119 ≪144≫; 55, 171 ≪179≫; 57, 361 ≪382≫; 133, 59 ≪73 Rn. 42≫). Kinder bedürfen des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln und gesund aufwachsen zu können (vgl. BVerfGE 107, 104 ≪117≫; 121, 69 ≪92 f.≫; 133, 59 ≪73 Rn. 42≫; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21 u.a. -, Rn. 45). Diese Schutzverantwortung für das Kind teilt das Grundgesetz zwischen Eltern und Staat auf. In erster Linie ist sie den Eltern zugewiesen; nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung die zuvörderst den Eltern obliegende Pflicht. Dem Staat verbleibt jedoch eine Kontroll- und Sicherungsverantwortung dafür, dass sich ein Kind in der Obhut seiner Eltern tatsächlich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit entwickeln und gesund aufwachsen kann (vgl. BVerfGE 133, 59 ≪73 f. Rn. 42≫). Werden Eltern der ihnen durch die Verfassung zugewiesenen Verantwortung nicht gerecht, weil sie nicht bereit oder in der Lage sind, ihre Erziehungsaufgabe wahrzunehmen oder können sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten, kommt das "Wächteramt des Staates" nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zum Tragen. Ist das Kindeswohl gefährdet, ist der Staat nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen; das Kind hat insoweit einen grundrechtlichen Anspruch auf den Schutz des Staates (vgl. BVerfGE 24, 119 ≪144≫; 107, 104 ≪117≫; stRspr). Im äußersten Fall gebietet diese Schutzpflicht, das Kind von seinen Eltern zu trennen oder eine bereits erfolgte Trennung aufrechtzuerhalten. Das ist dann der Fall, wenn das Kind bei einem Verbleib in der Familie oder bei einer Rückkehr dorthin in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (vgl. BVerfGE 60, 79 ≪91≫; 72, 122 ≪140≫; 136, 382 ≪391 Rn. 28≫; stRspr). Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2014 - 1 BvR 1178/14 -, Rn. 23; stRspr).
Rz. 36
Ob der Staat zum Schutz des Kindes tätig werden muss und darf und welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, bestimmt sich nach Art und Ausmaß der Gefahr für das Kind. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit verpflichtet und berechtigt den Staat, die Eltern von der Pflege und Erziehung auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen; vielmehr ist stets dem grundsätzlichen Vorrang der Eltern vor dem Staat Rechnung zu tragen. Der Staat darf und muss daher zunächst versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen.
Rz. 37
bb) Es hängt danach regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab, ob die Trennung des Kindes von seinen Eltern verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist. Dem muss die Ausgestaltung des fachgerichtlichen Verfahrens Rechnung tragen. Es muss geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die vom Gericht anzustellende Prognose über die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu erlangen (vgl. BVerfGE 55, 171 ≪182≫; stRspr).
Rz. 38
cc) Hält das Gericht eine Trennung des Kindes von den Eltern nicht mehr für erforderlich, obwohl Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Kind bei einer Rückkehr in die Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist, hält die Entscheidung verfassungsgerichtlicher Kontrolle grundsätzlich nur dann stand, wenn das Gericht in Auseinandersetzung mit den für eine nachhaltige Gefahr sprechenden Anhaltspunkten nachvollziehbar begründet, warum eine solche Gefahr für das Wohl des Kindes nicht vorliegt. Bei der Prognose, ob eine erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss von Verfassungs wegen die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. September 2020 - 1 BvR 528/19 -, Rn. 30; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 2022 - 1 BvR 1807/20 -, Rn. 45), und desto weniger belastbar muss die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohls geschlossen wird (vgl. zu den allgemeinen Grundsätzen der Gefahrenabwehr BVerfGE 100, 313 ≪392≫; 113, 348 ≪385≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 2022 - 1 BvR 1807/20 -, Rn. 45). Bestehen Anhaltspunkte, dass dem Kind durch eine Misshandlung erhebliche, unumkehrbare Schäden drohen, insbesondere weil es in der Vergangenheit bereits zu einer solchen Misshandlung kam und die Eltern hierfür auf die ein oder andere Art als verantwortlich anzusehen sind, so verlangt ein Absehen von einer Trennung des Kindes von der Familie ein hohes Maß an Prognosesicherheit, dass dieser Schaden nicht eintreten wird. Dies schlägt sich in hohen Begründungsanforderungen einer Entscheidung nieder (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 - 1 BvR 2569/16 -, Rn. 54; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 2022 - 1 BvR 1807/20 -, Rn. 43).
Rz. 39
Einer näheren Begründung bedarf es regelmäßig insbesondere auch dann, wenn das Gericht der Einschätzung der Sachverständigen oder der beteiligten Fachkräfte (insbesondere Verfahrensbeistand, Jugendamt, Familienhilfe, Vormund) nicht folgt, es liege eine die Trennung von Kind und Eltern gebietende Kindeswohlgefährdung vor. Zwar schließt die Verfassung nicht aus, dass das Fachgericht im Einzelfall von den Feststellungen und Wertungen dieser fachkundigen Personen abweicht. Insbesondere ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht zu einer abweichenden Einschätzung und Bewertung von Art und Ausmaß einer Kindeswohlgefährdung gelangt. Es muss dann aber eine anderweitige verlässliche Grundlage für eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung haben und diese offenlegen. Das Abweichen von den gegenläufigen Einschätzungen der fachkundigen Personen bedarf eingehender Begründung (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Februar 2021 - 1 BvR 1780/20 -, Rn. 29 und vom 14. April 2021 - 1 BvR 1839/20 -, Rn. 20 jeweils m.w.N.).
Rz. 40
dd) Stellt sich die Frage der Trennung des Kindes von seinen Eltern oder des Aufrechterhaltens einer Trennung zur Abwendung einer nachhaltigen Kindeswohlgefährdung, besteht wegen des sachlichen Gewichts der teils parallelen, teils gegenläufigen Grundrechte der Beteiligten Anlass, über den grundsätzlich geltenden verfassungsrechtlichen Prüfungsumfang hinauszugehen, zumal die Entscheidung über eine Trennung für alle Beteiligten von existenzieller Bedeutung sein kann (vgl. BVerfGE 60, 79 ≪90 f.≫; 136, 382 ≪391 Rn. 28≫; stRspr). Dies gilt auch, wenn das Bundesverfassungsgericht zu überprüfen hat, ob die Ablehnung einer Trennung des Kindes von seinen Eltern mit der Pflicht des Staates zum Schutz des Kindes vereinbar ist. Bei dieser Sachlage können neben der Frage, ob die angefochtene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen, auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 42, 163 ≪169≫; 79, 51 ≪63≫; stRspr). Die verfassungsgerichtliche Kontrolle erstreckt sich ausnahmsweise auch auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts (vgl. BVerfGE 136, 382 ≪391 Rn. 28≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Februar 2021 - 1 BvR 1780/20 -, Rn. 30; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 5. September 2022 - 1 BvR 65/22 -, Rn. 23; stRspr).
Rz. 41
b) Daran gemessen wird der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts sowohl bei der Prüfung der materiellen Voraussetzungen aus §§ 1666, 1666a BGB für ein Fortbestehen des Sorgerechtsentzugs als auch bei der der Anforderungen an die Begründung der fachgerichtlichen Entscheidung den verfassungsrechtlichen Anforderungen trotz deutlicher Anhaltspunkte für eine zukünftig mögliche Kindeswohlgefährdung noch gerecht.
Rz. 42
aa) Dabei kann offenbleiben, ob das Oberlandesgericht in mit dem Schutzanspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG unvereinbarer Weise überhöhte Anforderungen an die Überzeugungsbildung zu den Ursachen der bei dem betroffenen Kind in der Vergangenheit festgestellten Verletzungen gestellt hat. Für die richterliche Überzeugungsbildung gelten auch dann, wenn eine nach Art. 6 Abs. 3 GG zu beurteilende Trennung des Kindes von seinen Eltern im Raum steht, von Verfassungs wegen keine erhöhten Anforderungen. Ein Grad an Gewissheit, der jeden Zweifel ausschlösse, ist nicht gefordert (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 2022 - 1 BvR 1807/20 -, Rn. 50). Ob das Oberlandesgericht eine darüber hinausgehende Gewissheit für erforderlich gehalten hat, weil es lediglich von einer hohen Wahrscheinlichkeit der Ursächlichkeit eines Schüttelns des Kindes für dessen Verletzungen ausgegangen ist, bedarf keiner Entscheidung. Denn es hat seiner für den Sorgerechtentzug maßgeblichen Prognose über zukünftig drohende Gefährdungen des Kindeswohls als Hypothese unterstellt, dass das Kind zwischen dem (…) Oktober und dem (…) November 2022 durch seine Eltern mehrfach geschüttelt worden ist. Vorliegend ist das wegen der weitergehenden Schutzanordnungen zugunsten des Kindes einfordernden Verfassungsbeschwerde verfassungsrechtlich zu akzeptieren. Auch wenn sich das Oberlandesgericht von solchem Vorgehen der Eltern gegen das Kind in der Vergangenheit überzeugt hätte, wäre die Grundlage für die Gefahrprognose identisch gewesen. Darüber, ob sorgerechtliche Maßnahmen nach § 1666 BGB gegen Sorgeberechtigte auf eine bloße Hypothese in der Vergangenheit liegender Schädigungen des Kindes gestützt werden können, ist auf die Rechte des Kindes geltend machende Verfassungsbeschwerde ebenfalls nicht zu befinden.
Rz. 43
bb) Die auf dieser Grundlage getroffene Prognose des Oberlandesgerichts darüber, ob sich eine erhebliche Schädigung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt, ist trotz des hier geltenden strengen Prüfungsmaßstabs verfassungsrechtlich hinzunehmen.
Rz. 44
(1) Es hat im verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt beanstandungsfrei zugrunde gelegt, dass bei Anhaltspunkten für in der Vergangenheit dem Kind durch seine Eltern zugefügte Misshandlungen ein hohes Maß an Prognosesicherheit dafür bestehen muss, dass zukünftig solche Schäden nicht erneut eintreten werden. Ebenso hat das Oberlandesgericht die Korrelation zwischen dem Ausmaß und der Art des dem Kind drohenden Schadens einerseits sowie dem Wahrscheinlichkeitsgrad und der Belastbarkeit der Anknüpfungstatsachen der Prognose andererseits (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 2022 - 1 BvR 1807/20 -, Rn. 43, 45) bedacht.
Rz. 45
(2) Deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des für die nach diesen Maßgaben zu treffende Prognose bedeutsamen Sachverhalts lassen sich nicht annehmen. Für seine Wertung, aufgrund des Alters des betroffenen Kindes sei eine Gefahr eines erneuten Schütteltraumas zwar nicht vollständig entfallen, jedoch deutlich gesunken, kann es sich insoweit jedenfalls auf die Ausführungen des rechtsmedizinischen und des psychiatrischen Sachverständigen stützen. Letzterer hat dargelegt, dass bei lang anhaltend schreienden und schwer zu beruhigenden Säuglingen eine erhöhte Gefahr eines heftigen Schüttelns durch die Eltern bestehe. Die Würdigung des Oberlandesgerichts, bei dem betroffenen Kind sei altersbedingt und nach seiner konkreten Entwicklung (nächtliches Durchschlafen) zukünftig nicht mit einem Eintreten heftiges Schütteln auslösender Situationen zu rechnen, kann angesichts tragfähiger Grundlagen nicht als deutlicher Wertungsfehler angesehen werden.
Rz. 46
Entsprechendes gilt für die prognostische Wertung des Oberlandesgerichts, mögliche zukünftige körperliche Übergriffe der Eltern gegen ihr Kind hätten voraussichtlich keine derart schwerwiegenden Folgen wie das Schütteln eines Säuglings. Es kann sich dafür in verfassungsrechtlich hinzunehmender Weise auf die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen stützen. Dieser hat ausweislich der Gründe des angefochtenen Beschlusses in der mündlichen Anhörung erläutert, mit zunehmendem Alter des Kindes verändere sich die Art der ihm drohenden Schäden beziehungsweise Gefährdungen weg von lebensbedrohlichen Verletzungen (wie durch Schütteln eines Säuglings) hin zu psychischen Belastungen. Die weitere Wertung, angesichts dieser Ausführungen lasse das zu unterstellende Schütteln des Kindes in der Vergangenheit nicht auf eine zukünftige anderweitige elterliche Gewaltanwendung mit gravierenden körperlichen Schädigungen des Kindes schließen, findet in den Ausführungen des Sachverständigen eine noch tragfähige Grundlage. Das gilt jedenfalls deshalb, weil das Oberlandesgericht zudem festgestellt hat, dass keines der beiden Elternteile zu erheblichen Gewaltausbrüchen neige.
Rz. 47
Ob die festgestellten, für die Gefahrenprognose bedeutsamen Umstände auch ein anderes als das vom Oberlandesgericht gefundene Ergebnis der Prognose erlaubt hätten, unterliegt trotz des hier strengen Maßstabs nicht der verfassungsgerichtlichen Prüfung. Diese erstreckt sich auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, umfasst aber keine eigene Gefahrenprognose durch das Bundesverfassungsgericht.
Rz. 48
cc) Eine Verletzung des Schutzanspruchs des betroffenen Kindes folgt nicht aus der Verfahrensgestaltung durch das Oberlandesgericht. Dieses hat sich vor allem mit der Hinzuziehung von zwei gerichtlicherseits beauftragten Sachverständigen, dem Einholen mehrfacher Stellungnahmen der sonstigen fachlich Beteiligten, den mündlichen Anhörungen der Eltern und der zeitweiligen Pflegeeltern des Kindes eine hinreichend tragfähige tatsächliche Grundlage für die Prognose über Art und Ausmaß dem Kind zukünftig möglicherweise drohenden Schäden sowie deren Eintrittswahrscheinlichkeit verschafft.
Rz. 49
dd) Der angegriffene Beschluss genügt auch den hier strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung einer Sorgerechtsentscheidung bei Anhaltspunkten für eine Misshandlung des Kindes durch die Eltern in der Vergangenheit noch (näher zu diesen Rn. 38). Das Oberlandesgericht hat im Einzelnen dargelegt, aus welchen Gründen es zu der Einschätzung gelangt ist, dass dem Kind zukünftig keine körperlichen Schäden drohen, die nach Art und Ausmaß denjenigen gleichkommen, die mit Schütteln eines Säuglings verbunden sind. Dafür kann es sich insoweit auf die Einschätzungen beider gerichtlich bestellten Sachverständigen stützen. Soweit es in der Bewertung, ob dennoch eine Trennung von Eltern und Kind zu dessen Schutz erforderlich ist, von der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen, der Amtspflegerin und des Beschwerdeführers als Verfahrensbeistand abweicht, wahrt die Begründung noch die verfassungsrechtlichen Anforderungen. Für seine Wertung, die Gefahr einer sonstigen körperlichen Misshandlung des Kindes lasse sich durch einen erneuten Aufenthalt der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung soweit mindern, dass eine Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht erforderlich ist, konnte es sich - ausweislich der Entscheidungsgründe - auf Erkenntnisse sonstiger fachlich Beteiligter stützen.
Rz. 50
Dabei handelt es sich zunächst um Berichte der ersten Eltern-Kind-Einrichtung, in der das Kind mit seinen Eltern zeitweilig gelebt hat. Soweit dies hier beurteilt werden kann, durfte das Oberlandesgericht dem Gewicht zumessen, weil es sich bei der Einrichtung um eine auf die Krisenintervention und Einschätzung möglicher Gefährdungslagen spezialisierte Einrichtung handelte und die dort tätigen Fachkräfte die Eltern über mehrere Monate beobachten konnten. Eine weitergehende Bewertung der Tragfähigkeit dieser Berichte ist dem Bundesverfassungsgericht allerdings verwehrt, weil der Beschwerdeführer jedenfalls den Bericht der Einrichtung vom 28. März 2023 nicht vorgelegt hat. Ausweislich der Gründe der angegriffenen Entscheidung soll die Einrichtung die Zusammenarbeit mit den Eltern im Aufenthaltszeitraum vom 6. Dezember 2022 bis zum 6. März 2023 als durchweg positiv beschrieben haben. Es soll keine Verhaltensauffälligkeiten gegeben haben und eine enge und liebevolle Eltern-Kind-Beziehung sowie eine bedürfnisgerechte Versorgung und das Fehlen von kindeswohlgefährdenden Situationen beobachtet worden sein.
Rz. 51
Darüber hinaus finden die Erwägungen des Oberlandesgerichts eine Grundlage in den von den Pflegeeltern in ihrer gerichtlichen Anhörung vom 25. April 2024 wiedergegebenen Eindrücken. Danach seien keine Einschränkungen der Eltern im Umgang mit ihrem Kind zu beobachten. Es habe sich zudem ein Vertrauensverhältnis zwischen den Eltern und den Pflegeeltern aufgebaut, so dass sie das Kind tageweise den Eltern allein hätten anvertrauen können. Verhaltensauffälligkeiten des Kindes hätten sich nach diesen unbegleiteten Umgängen nicht ergeben.
Rz. 52
Diese Grundlagen als gegeben unterstellt, konnte das Oberlandesgericht darauf seine Wertung stützen, zur Abwendung einer möglicherweise drohenden Kindeswohlgefährdung sei eine Trennung von Eltern und Kind nicht erforderlich. Das Abweichen von den Einschätzungen des psychiatrischen Sachverständigen, der Amtspflegerin und des Verfahrensbeistandes konnte damit verfassungsrechtlich hinreichend begründet werden.
Rz. 53
ee) Der Schutzanspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG ist auch nicht dadurch verletzt worden, dass das Oberlandesgericht nicht selbst die Dauer des Aufenthalts der Familie in der Eltern-Kind-Einrichtung und die konkreten Bedingungen für einen späteren Wechsel der Familie in eigenen Wohnraum festgelegt hat. Denn nach der fachrechtlich vorgesehenen Kompetenzaufteilung steht nicht den Familiengerichten, sondern dem Jugendamt die konkrete Leistungsgewährung und damit auch die Hilfeplanung zu (§ 36a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 36 Abs. 2 und Abs. 3 SGB VIII). Es ist daher zur Erfüllung des grundrechtlichen Schutzauftrages zunächst ausreichend, wenn das Familiengericht gegenüber den Eltern diejenigen Anordnungen trifft, die aktuell erforderlich sind, um eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Hierfür ist aber die Unterbringung der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung derzeit ausreichend. Die Prüfung, wie lange diese Maßnahme letztlich aufrecht zu erhalten ist und unter welchen Bedingungen sie gegebenenfalls aufzuheben ist, obliegt nach der fachrechtlichen Kompetenzzuweisung vorrangig dem Jugendamt. Dieses hat die gegenüber dem Kind bestehende verfassungsrechtliche Schutzpflicht neben dem Familiengericht in eigener Verantwortung wahrzunehmen (§ 8a SGB VIII). Den Familiengerichten obliegt demgegenüber eine nach Maßgabe der § 166 FamFG, § 1696 BGB sekundäre Überprüfungspflicht im Hinblick auf weitere kinderschutzrechtliche Maßnahmen, in deren Rahmen das Jugendamt über angebotene und erbrachte Leistungen und die Entwicklung des Kindes zu berichten hat (§ 50 Abs. 2 SGB VIII).
Rz. 54
3. Von einer weitergehenden Begründung der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Rz. 55
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Dokument-Index HI16717380 |