Verfahrensgang

Niedersächsisches OVG (Beschluss vom 28.11.1996; Aktenzeichen 12 L 4001/96)

 

Tenor

Der Antrag der Kläger, ihnen für eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluß des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. November 1996 Prozeßkostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.

 

Gründe

Den Klägern kann Prozeßkostenhilfe nicht bewilligt und ein Rechtsanwalt nicht beigeordnet werden; denn eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 166 VwGO in Verbindung mit §§ 114, 121 Abs. 1 ZPO). Ein die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO rechtfertigender Grund ist weder von den Klägern dargelegt worden noch sonst ersichtlich.

Die Zulassung der Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zu erwarten. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind die Voraussetzungen, unter denen von einem „Bekanntwerden” des Sozialhilfefalls im Sinne von § 5 BSHG gesprochen werden kann, geklärt (vgl. BVerwG, Beschluß vom 9. November 1976 – BVerwG 5 B 080.76 – ≪DÖV 1977, 334≫ sowie Urteil vom 8. Juli 1982 – BVerwG 5 C 96.81 – ≪Buchholz 436.0 § 5 BSHG Nr. 3 S. 5≫): Dem Sozialhilfeträger wird nicht angesonnen, die Notwendigkeit der Hilfe zu „erahnen”. „Bekanntwerden” heißt deshalb, daß die Notwendigkeit der Hilfe dargetan oder sonstwie erkennbar ist. Ob ein Antrag auf Sozialhilfe diese Voraussetzungen erfüllt, ist anhand der §§ 60 ff. SGB I über die Mitwirkung des Leistungsberechtigten zu beurteilen. Wer Sozialleistungen beantragt, hat insbesondere alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind, sowie Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen (§ 60 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 3 SGB I). Die Pflicht des Hilfesuchenden, bei der Feststellung seines Bedarfs und seiner Bedürftigkeit mitzuwirken, befreit andererseits den Sozialhilfeträger nicht von der aus § 20 SGB X folgenden Aufklärungspflicht, so daß von einem „Bekanntwerden” nicht erst dann gesprochen werden kann, wenn alle Voraussetzungen tatsächlicher Art dem Leistungsträger entscheidungsreif bekannt sind. Ob „glaubwürdiges mündliches Vorbringen” ausreicht, um der Sozialhilfebehörde die für das Einsetzen ihrer Leistungspflicht erforderliche Kenntnis zu vermitteln, ist demnach eine Frage der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles und nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Das Berufungsgericht hat – gestützt auf die Besonderheiten des zu beurteilenden Falles (laufender Gewerbebetrieb, Vorhandensein grundsätzlich verwertbaren Grundvermögens sowie von Geschäftskonten) – angenommen, es sei Sache der Kläger gewesen, ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in dem ihnen am Tag der Vorsprache beim Sozialamt übergebenen Antragsformular alsbald darzustellen, um auf diese Weise das Vorhandensein einer Notlage deutlich zu machen. Das hält sich in dem oben aufgezeigten Rahmen der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind auch nicht erfüllt hinsichtlich der von den Klägern noch angesprochenen Fragen einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht oder den Europäischen Gerichtshof.

Klärungsbedürftige Rechtsfragen grundsätzlicher Art ergeben sich auch nicht im Zusammenhang mit der von den Klägern behaupteten Verwandtennothilfe. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, daß eine zwischenzeitliche (zwischen Bekanntwerden des Sozialhilfefalles und Entscheidung des Sozialhilfeträgers eingetretene) Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter den Sozialhilfeanspruch u.a. dann nicht entfallen läßt, wenn der Dritte vorläufig – gleichsam anstelle des Sozialhilfeträgers und unter Vorbehalt des Erstattungsverlangens – nur deshalb ein- springt, weil der Träger der Sozialhilfe nicht rechtzeitig geholfen oder Hilfe abgelehnt hat (vgl. BVerwGE 96, 152 ≪155, 157≫ m.w.N.). Geklärt ist auch, daß der Hilfesuchende sich auf eine Zeitspanne des Zuwartens nach Antragseingang bis zur Entscheidung des Sozialhilfeträgers dann nicht verweisen lassen muß, wenn der Bedarf seiner Art nach unaufschiebbar ist, wie dies in aller Regel bei Regelsatzleistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt der Fall ist (vgl. BVerwGE 96, 152 ≪158 f.≫). Vorausgesetzt ist jedoch dabei immer, daß der auf die Bewilligung von Regelsatzleistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt gerichtete Antrag die Notlage in einer die Anforderungen des § 5 BSHG erfüllenden Weise erkennen läßt (vgl. BVerwGE 96, 152 ≪155, 158≫). Über eine Bedarfsdeckung im Wege der Hilfe Dritter, die vor dem Zeitpunkt des § 5 BSHG stattgefunden hat, kann daher nicht hinweggesehen werden; sie schließt den Sozialhilfeanspruch aus (vgl. BVerwGE 96, 152 ≪155≫ m.w.N.).

Mit diesen Grundsätzen setzt sich das Berufungsgericht auch nicht im Sinne einer die Revisionszulassung nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO rechtfertigenden Divergenz in Widerspruch. Mit Angriffen gegen die berufungsgerichtliche Tatsachenwürdigung und Rechtsanwendung im Einzelfall kann dagegen die Abweichungsrüge ebensowenig begründet werden, wie ein solcher Vortrag geeignet ist, die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache darzulegen. Auch ein entscheidungserheblicher Rechtssatz, mit dem die Vorinstanz von dem von den Klägern bezeichneten Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. November 1976 – BVerwG 5 B 080.76 – (DÖV 1977, 334 = FEVS Bd. 25, 133) abgewichen wäre, ist nicht ersichtlich. Es gilt vielmehr auch hier, was bereits oben zur Grundsatzzulassung ausgeführt worden ist: Die konkrete Rechtsanwendung des Berufungsgerichts hält sich mit den tragenden Ausführungen im Rahmen der insbesondere auch durch diese Entscheidung entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze zu § 5 BSHG.

Schließlich scheidet auch eine Zulassung der Revision wegen Vorliegens entscheidungserheblicher Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) aus. Darin, daß sich das Berufungsgericht nicht gehalten gesehen hat, vor seiner Berufungsentscheidung der Beweisanregung der Kläger nachzugehen und die Kläger sowie die Bediensteten des Sozialamtes zu den Umständen der „Vorsprache” am 17. Januar 1995 zu vernehmen, liegt weder ein Verstoß gegen § 86 VwGO oder noch gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für den Umfang der Verpflichtung zur Sachaufklärung nach § 86 VwGO die materiellrechtliche Auffassung des Tatsachengerichts maßgebend (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. März 1987 – BVerwG 6 C 10.84 – ≪Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 183 S. 4≫). Wenn demnach das Berufungsgericht der Auffassung war, in Anbetracht des wirtschaftlichen Hintergrundes seien die Kläger nach dem einschlägigen Sozialverwaltungsverfahrensrecht gehalten gewesen, ihre Bedürftigkeit auf einem Antragsformular schriftlich darzulegen, kommt es auf den Inhalt der mündlich geführten Vorsprache nicht an.

Damit entfällt auch ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, der das Gericht verpflichtet, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Denn das Gericht hat das Vorbringen der Kläger zur Kenntnis genommen, es aber aus sozialverfahrensrechtlichen Gründen außer acht gelassen (vgl. BVerfGE 87, 1 ≪33≫).

Entgegen der Annahme der Kläger hat das Berufungsgericht auch nicht § 130 a (Satz 2) in Verbindung mit § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO verletzt. Zwar haben die Kläger nach Ergehen der Anhörungsmitteilung im Schriftsatz vom 11. Juli 1996, eingegangen beim Berufungsgericht am 19. Juli 1996, Beweisanträge gestellt. Derartige spät gestellte Beweisanträge hindern jedoch das Berufungsgericht nicht grundsätzlich an einer Durchführung des vereinfachten Verfahrens, sondern zwingen es nur, den Berufungsführer durch eine erneute Anhörungsmitteilung auf das unverändert beabsichtigte Verfahren und damit darauf hinzuweisen, daß das Gericht seinen Beweisanträgen nicht durch förmliche Beweisbeschlüsse nachgehen werde (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10. April 1992 – BVerwG 9 B 142.91 – und vom 3. Februar 1993 – BVerwG 11 B 12.92 – ≪Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 5 S.4, 6 und Nr. 7 S. 8≫). Dem hat das Berufungsgericht durch die Verfügung des Berichterstatters vom 14. Oktober 1996, zugestellt am 16. Oktober, genügt. Unschädlich ist, daß das Berufungsgericht über die gestellten Beweisanträge nicht vorab nach § 86 Abs. 2 VwGO entschieden hat. Im Rahmen des § 130 a VwGO bedarf es nämlich nicht zwingend einer Vorabentscheidung über einen gestellten Beweisantrag; vielmehr genügt es, wenn aus den Entscheidungsgründen des Beschlusses ersichtlich ist, daß das Berufungsgericht – wenn es an einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung festhält – die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und ihre Beweisanträge vorher auf ihre Rechtserheblichkeit geprüft hat (BVerwG, Beschluß vom 24. November 1994 – BVerwG 8 B 176.94 – ≪Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 12 S. 3 f.≫). Diesen Erfordernissen genügt der angefochtene Beschluß, indem er darlegt, daß es auf die beantragte Beweiserhebung aus den in ihm dargelegten materiellrechtlichen Gründen nicht ankam.

 

Unterschriften

Dr. Säcker, Dr. Pietzner, Dr. Rothkegel

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1418716

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