Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschlussfristen. Hemmung. Höhere Gewalt. Restitutionsklage. Urlaubsansprüche. Verfall. Verzugsvergütung. Verjährung von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis bei Anhängigkeit eines Rechtsstreits und späterer Aufhebung des ergangenen Urteils im Wege der Restitutionsklage
Leitsatz (amtlich)
1. Die Verjährungsvorschriften über die Hemmung der Verjährung bei höherer Gewalt (§§ 206, 209 BGB) finden auf tarifliche Ausschlussfristen entsprechende Anwendung.
2. Ein im Wege der Restitutionsklage aufgehobenes Urteil, weil die Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung durch verwaltungsgerichtliches Urteil weggefallen ist, kann zur Annahme höherer Gewalt im Sinne der §§ 206, 209 BGB führen.
3. Eine entsprechende Anwendung von §§ 206, 209 BGB auf den Verfall von Urlaubsansprüchen kommt nicht in Betracht.
Normenkette
BGB §§ 615, 206, 209
Verfahrensgang
ArbG Kassel (Entscheidung vom 15.10.2010; Aktenzeichen 5 Ca 213/10) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Kassel vom 15. Oktober 2010 abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 79.469,00 EUR (in Worten: Neunundsiebzigtausendvierhundertneunundsechzig und 00/100 Euro) brutto abzüglich 15.852,27 EUR (in Worten: Fünfzehntausendachthundertzweiundfünfzig und 27/100 Euro) erhaltenen Arbeitslosengeldes nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozent über dem Basiszinssatz aus
1.983,25 EUR (in Worten: Eintausendneunhundertdreiundachtzig und 25/100 Euro) seit dem 1. August 2006,
2.003,43 EUR (in Worten: Zweitausenddrei und 43/100 Euro) seit dem 1. September 2006,
2.063,25 EUR (in Worten: Zweitausenddreiundsechzig und 25/100 Euro) seit dem 1. Oktober 2006,
2.063,75 EUR (in Worten: Zweitausenddreiundsechzig und 75/100 Euro) seit dem 1. November 2006,
2.063,25 EUR (in Worten: Zweitausenddreiundsechzig und 25/100 Euro) seit dem 1. Dezember 2006,
2.329,15 EUR (in Worten: Zweitausenddreihundertneunundzwanzig und 15/100 Euro) seit dem 1. Januar 2007,
aus jeweils 2.063,25 EUR (in Worten: Zweitausenddreiundsechzig und 25/100 Euro) seit dem 1. Februar, 1. März, 1. April, 1. Mai und 1. Juni 2007,
2.175,25 EUR (in Worten: Zweitausendeinhundertfünfundsiebzig und 25/100 Euro) seit dem 1. Juli 2007,
2.173,25 EUR (in Worten: Zweitausendeinhundertdreiundsiebzig und 25/100 Euro) seit dem 1. August 2007,
2.181,25 EUR (in Worten: Zweitausendeinhunderteinundachtzig und 25/100 Euro) seit dem 1. September 2007,
2.253,25 EUR (in Worten: Zweitausendzweihundertdreiundfünfzig und 25/100 Euro) seit dem 1. Oktober 2007,
aus jeweils 2.318,00 EUR (in Worten: Zweitausenddreihundertachtzehn und 00/100 Euro) seit dem 1. November und 1. Dezember 2007, seit dem 1. Januar, 1. Februar, 1. März, 1. April, 1. Mai, 1. Juni, 1. Juli, 1. August, 1. September und 1. Oktober 2008
zu zahlen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 70 %, die Beklagte zu 30 %.
Die Revision wird für beide Parteien zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Vergütungs- und Urlaubsansprüche.
Die Beklagte ist ein V-unternehmen. Sie beschäftigt in W mehr als 1000 Arbeitnehmer. Der 19XX geborene, geschiedene Kläger, der seiner Ehefrau und zwei Kindern gegenüber unterhaltsverpflichtet ist, ist bei der Beklagten seit 4. Oktober 1984 als Maschinenbediener zu einem Bruttomonatsgehalt in Höhe von zuletzt EUR 2.888,50 beschäftigt. Er ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 30 und ist durch Entscheidung der Bundesagentur für Arbeit einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Der auf das Arbeitsverhältnis kraft Organisationszugehörigkeit und arbeitsvertraglicher Bezugnahme Anwendung findende Manteltarifvertrag (Unternehmenstarifvertrag, Bl. 37 ff. d. A.) enthält unter § 23 (Bl. 78 d. A.) eine zweistufige Ausschlussfrist.
Diese lautet auszugsweise:
"§ 23 Geltendmachung von Ansprüchen
Alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, sind nach ihrer Fälligkeit geltend zu machen:
1...
2...
In den Fällen 1. und 2. gilt eine Ausschlussfrist von 3 Monaten, es sei denn, dass der/die Anspruchsberechtigte trotz Anwendung der ihm/ihr nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfaltspflicht verhindert war, die Frist einzuhalten.
Ist ein Anspruch rechtzeitig gemäß § 23.1 erhoben worden und wird seine Erfüllung nachweislich abgelehnt, so ist der Anspruch innerhalb weiterer 3 Monate seit Zugang der Ablehnung gerichtlich geltend zu machen. Eine spätere Geltendmachung ist ausgeschlossen.
Die Fassung vom 8. März 2010, gültig ab 1. Jan. 2009, lautet in § 23 Ziff. 5:
"Ansprüche aus einem Arbeitsverhältnis, die sich im Laufe eines Kündigungsschutzprozesses für die Zeit nach der streitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ergeben, werden erst fällig mit Rechtskraft der Entscheidung, durch die das Weiterbestehen des Arbeitsverhältnisses über den streitigen Endzeitpunkt hinaus festgestellt wird. Sodann beginnen die Ausschlussfristen für ...