Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit gem BK 2108 und 2101. bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule. Kombinationsbelastung. haftungsbegründende Kausalität. 2. Zusatzkriterium der Konstellation B2 der Konsensempfehlungen. besonders intensive Belastung. schweres Heben und Tragen von Lasten. Erreichen des Richtwertes für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren. Ganzkörperschwingungsbelastung. LKW-Fahrer, Gießereiwerker, Betonfertigteilbauer, Lagerarbeiter
Leitsatz (amtlich)
1. Die Beurteilungskriterien in den Konsensempfehlungen beziehen sich auf bandscheibenbedingte Berufskrankheiten der LWS, wozu sowohl die BK Nr 2108 als auch die BK Nr 2110 gehören.
2. Das 2. Zusatzkriterium der Konstellation B2 der Konsensempfehlungen ("Besonders intensive Belastung: Anhaltspunkt: Erreichen des Richtwertes für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren") wird nicht ausschließlich durch Erreichen des Richtwertes für die Lebensdosis durch schweres Heben und Tragen von Lasten (= 25 MNh) im Sinne der BK Nr 2108 erfüllt.
3. Vielmehr ist das Kriterium bei Erreichen jedes Richtwertes für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren erfüllt, bei dem nach aktuellem Stand angesichts der Expositionsdauer ein erhöhtes Risiko für eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS anzunehmen ist.
4. Ein solcher Richtwert ist bei einer Ganzkörperschwingungsbelastung im Rahmen der BK Nr 2110 der Dosisrichtwert von Dv von 1450 (m/s2)2.
5. Bei einer Kombinationsbelastung aus schwerem Heben und Tragen sowie vertikalen Ganzkörper-Schwingungen ist dies der Alpha-Richtwert von 1,0.
Orientierungssatz
Grundsätzlich sind die in der Berufskrankheitenliste aufgeführten Krankheiten getrennt zu betrachten, weil jede von ihnen einen eigenen Versicherungsfall bildet. Kann indes wie im Fall der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS ein bestimmtes Krankheitsbild durch verschiedene berufliche Einwirkungen verursacht werden, die jeweils für sich genommen der Gegenstand einer eigenen BK sein können, so besteht bei entsprechender Exposition die Möglichkeit, dass die betreffende Krankheit die Voraussetzungen zweier oder mehrerer BKen gleichzeitig erfüllt, die dann nebeneinander anzuerkennen sind und für die dann aber eine einheitliche MdE festzusetzen ist (vgl BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 9/05 R = SozR 4-2700 § 9 Nr 8).
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des SG Wiesbaden vom 27. September 2012 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 12. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 2011 verurteilt bei dem Kläger die Berufskrankheiten der Nr. 2108 und der Nr. 2110 nach der Anlage 1 der BKV anzuerkennen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers zur Hälfte in beiden Instanzen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der 1952 geborene Kläger begehrt die Anerkennung einer Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit (BK) nach den Nummern 2108 und 2110 der Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung (BKV).
Der Kläger ist zum 1. November 2008 aus dem Berufsleben ausgeschieden und bezieht eine Erwerbsminderungsrente. Mit Schreiben vom 16. März 2010 zeigte seine gesetzliche Krankenkasse den Verdacht einer Berufskrankheit bei der Beklagten an. Der als Heimatvertriebener anerkannte Kläger war von 1975 bis 1991 LKW-Fahrer auf unebenen Landstraßen in Kasachstan. Von 5/1975 bis 12/1985 transportierte er Milch. Von 1985 bis 1988 führte er den Transport von Backsteinen, Holz, Stahl und Eisen durch, wobei diese Gegenstände auch von Hand gehoben werden mussten. Von 1/1989 bis 4/1991 fuhr er einen Muldenkipper in einer Kohlengrube, und zwar auf dem Grubenboden auf unbefestigten Straßen. Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland arbeitete er durchgehend bei der Firma D. In den Jahren 5/1992 bis 7/1993 war er als Gießereiwerker tätig (Fertigung von Kanalringen im Akkord mit Einfüllen von Beton in Rüttelform, Stapeln der Kanalringe), in den Jahren 8/1993 bis 7/1995 als Betonfertigteilbauer in der Abscheiderfertigung (Nachbearbeitung von Betontöpfen/Tragen von wassergefüllten Eimern und Eimern mit Beton). Von 8/1995 bis 7/2004 war er Gießereiwerker/Lagerarbeiter im Kokillenlager (= Lager für Kühlsteine aus Stahl; Tragen von Gussteilen mit ausgestreckten Armen). Von 9/2004 bis 2006 beförderte er täglich 15 bis 20 Sandkerne mit einem Gewicht pro Kern im Schnitt von 15 kg. In den Jahren 2006 bis 2008 war er in der Sandaufbereitung und im innerbetrieblichen Transport beschäftigt (Heben von ca. 40 Säcken à 25 kg täglich in etwa der Hälfte der Arbeitstage).
Die Beklagte holte Befundberichte der behandelnden Orthopäden E. vom 5. Mai 2010 und Dr. F. vom 7. Juni 2010 ein, die u. a. über einen Befund vom 9. Juni 2005 berichteten, und zog die Behandlungsunterlagen dieser Ärzte bei. Nach einem radiologischen Befund (CT-Aufnahme) von Dr. G. vom 30. April 2009 bestanden bei dem Kläger eine Osteochondros...