Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Festsetzung eines Arzneikostenregresses wegen der Verordnung von Arzneimitteln im Rahmen des Off-Label-Use. Verordnung des Wirkstoffes Sildenafil (Viagra ®) bei pulmonaler arterieller Hypertonie (PAH)

 

Orientierungssatz

1. Im Rahmen der GKV sind nach Maßgabe der §§ 27 Abs 1 S 2 Nr 3, 31 Abs 1, 2 Abs 1 S 3, 12 Abs 1 SGB 5 nur solche Verordnungen zulässig, die die Gewähr für Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit, jeweils nach Maßgabe des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse, bieten. Dafür sind zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen über das Arzneimittel in dem Sinne erforderlich, dass der Erfolg der Behandlung mit ihm durch eine ausreichende Anzahl von Behandlungsfällen belegt ist.

2. Für die Frage eines zulässigen "Off-Label-Use" kommt es auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Zeitpunkt der streitigen Behandlung an.

3. Vor der Anwendung eines Medikamentes, dessen Wirksamkeit in dem entsprechenden Anwendungsgebiet nicht durch kontrollierte Studien nachgewiesen ist, wird die Prüfung verlangt, ob andere Medikamente im Rahmen eines zulässigen Off-Label-Use angewandt werden können.

4. Die Behandlung von Patienten mit idiopathischer pulmonaler Hypertonie im Stadium III mit dem Wirkstoff Epoprostenol stellt eine anerkannte Standardbehandlung dar.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 09.02.2011; Aktenzeichen B 6 KA 53/10 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 16. April 2008 sowie der Beschluss des Beklagten vom 23. August 2007 aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst. 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Festsetzung eines Arzneikostenregresses gegen das Universitätsklinikum A. - die Beigeladene zu 9) - für die Quartale III/01 - II/05 wegen der Verordnung des Wirkstoffs Sildenafil im Rahmen eines sog. Off-Label-Use.

Die Beigeladene zu 9) betreibt die Medizinische Klinik II in A-Stadt, die wiederum eine Ambulanz für pulmonale Hypertonie betreibt. In den streitbefangenen Quartalen wurde in der Ambulanz für die am 3. September 1934 geborene und bei der Klägerin versicherte Patientin U. W. das Medikament Viagra® mit dem Wirkstoff Sildenafil verordnet. Wegen dieser Verordnungen stellte die Klägerin beim Prüfungsausschuss der Ärzte und Krankenkasse in Hessen Anträge auf Festsetzung eines Arzneikostenregresses. Zur Begründung führte die Klägerin aus, Viagra® sei bisher ausschließlich zur Behandlung der erektilen Dysfunktion zugelassen. Derzeit lägen laut aktueller Aussage des Herstellers noch keine Daten aus großen placebokontrollierten Studien zu Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in der Behandlung der pulmonalen Hypertonie vor. Ein Einsatz von Viagra® bei dieser Indikation könne auch außerhalb klinischer Studien von der Firma Pfizer nicht empfohlen werden. Zudem werde an eine Erweiterung der Zulassung für Viagra® in Kombination mit Ilomedin zur Behandlung der pulmonalen Hypertonie zurzeit nicht gedacht. Sie beantragte die Festsetzung eines sonstigen Schadens und meldete ihren Schadensersatzanspruch an.

Die Beigeladene zu 9) erklärte zu den Anträgen der Klägerin, sie verordne Viagra® in der Indikation pulmonale arterielle Hypertonie (PAH) unter bestimmten Voraussetzungen, seitdem im Jahr 2000 eine Publikation auf eine sehr deutliche Besserung im Einzelfall hingewiesen habe und sie eine signifikante akute Wirkung bei Katheteruntersuchung direkt habe nachweisen können. Sie sehe in der klinischen Praxis sehr gute Erfolge und eine geringe Rate an Nebenwirkungen. Es gebe mittlerweile eine beträchtliche Anzahl von Studien, die eine Wirksamkeit von Viagra® bei pulmonaler Hypertonie nahe legten. Sildenafil habe seine Orphan Drug Indikation von der EMEA in der Indikation pulmonaler Hypertonie erhalten und es sei im Jahre 2004 ein Zulassungsantrag gestellt worden. Es bestehe ein breiter Konsens auf Expertenseite bezüglich der Wirksamkeit von Sildenafil bei pulmonaler Hypertonie. Bei der Patientin U.W. liege eine Ausnahmeindikation vor aufgrund einer lebensbedrohlichen schweren pulmonalen Hypertonie mit drohender Rechtsherzdekompensation. Die Patientin sei seit 1997 zunächst mit inhalativem Ilomedin® erfolgreich behandelt worden. Im weiteren Verlauf der Erkrankung sei es allerdings zu einer erneuten Verschlechterung gekommen, weshalb ab Januar 2001 zusätzlich Viagra verordnet worden sei. Darunter habe sich die Patientin erneut stabilisiert und sei nicht verstorben, wie man sonst hätte erwarten müssen. Eine Therapie mit Prostacyclin führe sie seit 1998 nicht mehr durch, weil sie in keinem Falle damit das Leben des betreffenden Patienten habe retten können und weil sie mit erheblichen Risiken und Nebenwirkungen behaftet sei, sie in Deut...

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