Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. sachlicher Zusammenhang. polizeiliche Maßnahme. Gesundheitserstschaden. akute psychische Belastungsreaktion. Mitarbeiterin der Deutschen Bahn am Servicepoint eines Bahnhofes
Orientierungssatz
1. Eine Arbeitnehmerin (hier: Mitarbeiterin der Deutschen Bahn am Servicepoint eines Bahnhofes), die allein wegen ihrer betrieblichen Tätigkeit polizeilichen Maßnahmen ausgesetzt war (hier: Leibesvisitation, völliges Entkleiden, Durchsuchung der persönlichen Sachen) steht dabei gem § 8 Abs 1 SGB 7 unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
2. Der Umstand, dass die Klägerin sich der Aufforderung der Beamtinnen, sie zur Wache zu begleiten, nicht widersetzte, kann nicht die Annahme rechtfertigen, die Klägerin habe sich entschieden, ihre betriebliche Tätigkeit für eine "private Verrichtung" zu unterbrechen.
Normenkette
SGB VII § 8 Abs. 1 Sätze 1-2; SGG § 128 Abs. 1 S. 1; BPolG § 43 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 5, § 44 Abs. 1 S. 1
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 20. März 2014 und der Bescheid der Beklagten vom 27. April 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2012 aufgehoben und die polizeilichen Maßnahmen vom 7. Januar 2012 als Arbeitsunfall festgestellt.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten, ob ein Ereignis als Arbeitsunfall festzustellen ist.
Die 1973 geborene Klägerin ist bei der D. AG beschäftigt. Am 7. Januar 2012, einem Samstag, verrichtete die Klägerin zusammen mit ihrem Kollegen F. ihren Dienst von 14.00 Uhr bis 22.30 Uhr am Service-Point des Fernbahnhofs am E-Stadter G. Der Mitarbeiter F., der für die örtliche Bahnsteigaufsicht zuständig war, übergab um ca. 15.00 Uhr der Klägerin einen Rucksack. Der Rucksack wurde von der Klägerin als Fundsache nach den entsprechenden Richtlinien behandelt. Im Beisein des Kollegen F. wurde der Rucksack geöffnet und dessen Inhalt dokumentiert. Gegen 15.30 Uhr erschienen zwei Beamte der Bundespolizei am Service-Point und fragten nach dem Rucksack. Nachdem ein Beamter den Rucksack in Augenschein genommen und per Funk Kontakt mit der Bundespolizeiinspektion am G. aufgenommen hatte, stellte er das Fehlen von Geld (500,00 Euro und 15.000 Rubel) und Schmuck fest. Er verlangte von der Klägerin die Herausgabe des Rucksackes, woraufhin die Klägerin dem Beamten den Rucksack gegen Unterschrift aushändigte. Nach ca. 30 Minuten kehrte der Beamte zurück und teilte der Klägerin mit, aus der Fundsache fehle auch eine Festplatte. Der Kollege F. wurde um 18.30 Uhr von Bundespolizeibeamten aufgefordert, sie unter Mitnahme seiner persönlichen Sachen zum Revier zu begleiten. Der Kollege F. kehrte nach ca. 15 Minuten zurück. Wenig später - gegen 19.00 Uhr - wurde die Klägerin von zwei Beamtinnen der Bundespolizei abgeholt und ebenfalls aufgefordert, ihre persönlichen Sachen, Mantel und Tasche mitzunehmen. Laut polizeilichem Protokoll durchsuchten die Beamtinnen von 19.10 Uhr bis 19.25 Uhr die von der Klägerin mitgeführten Sachen, die Klägerin selbst musste sich entkleiden und einer Leibesvisitation unterziehen. Die Klägerin trat am Sonntag, dem 8. Januar 2012, ihren Dienst wieder an. Ab Montag, dem 16. Januar 2012 wurde sie krankgeschrieben. In ihrer Patientenkartei wird hierzu ausgeführt: “Steht unter psychischem Druck, da sie bei der D. wegen einer Fundsache mit Bundespolizei Probleme bekommen hat, sie steht jetzt wohl fast unter Verdacht, Geld entwendet zu haben. Ist bis auf die Unterhose gefilzt worden. Bundespolizei ermittelt weiter gegen sie. Jetzt Schlafstörungen, ist massiv belastet, Unruhe, hat wieder angefangen zu rauchen, fühlt sich verfolgt„. Vom 14. März 2012 bis 18. April 2012 erfolgte eine stationäre Behandlung der Klägerin im Klinikzentrum M. in Bad W. Es wurde eine “akute Belastungsreaktion„ diagnostiziert und unter anderem zur Krankheitsvorgeschichte ausgeführt: “Frau A. arbeitet beim Service der D. am E-Stadter G. Auslöser für ihre aktuellen Beschwerden war eine in Augenscheinnahme am 7.1.2012. Hier wurde die Patientin, wie sich im Nachhinein herausstellte, völlig ungerechtfertigt genötigt, sich komplett zu entkleiden und vollständig kontrollieren zu lassen. Seit diesem Zeitpunkt zog Frau A. sich immer mehr in sich zurück und verlor vollkommen ihr Vertrauen in sich selbst und die Außenwelt. Seither ist die Patientin arbeitsunfähig geschrieben„. Mit einem am 23. April 2012 eingegangenen Schreiben machte die Klägerin das Ereignis bei der Beklagten als Arbeitsunfall geltend.
Mit Bescheid vom 27. April 2012 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie habe sich am 7. Januar 2012 im Rahmen ihrer Tätigkeit polizeilichen Ermittlungen bzw. Untersuchungen unterziehen müssen. Ein eigentliches Unfallereignis im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung liege nicht vor. Den dagegen eingelegten Widerspruch der Klägerin...