Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. seelischer Gesundheitsschaden. PTBS. Diagnosekriterien: DSM-5, ICD-10, AWMF-Leitlinie. B-Kriterium, C-Kriterium. medizinische Begutachtung. Beschwerdevalidierung. sozialgerichtliches Verfahren. Anschlussberufung gem § 202 SGG iVm § 524 ZPO. Kundendienstmitarbeiter der Deutschen Bahn AG. Zeuge eines Gleissuizids)
Leitsatz (amtlich)
1. Der Nachweis des B-Kriteriums einer PTBS (Wiedererleben) erfordert nicht zwingend eine zeitnahe fachspezifische Untersuchung. Eine Dokumentation der Symptomatik durch den Hausarzt kann ausreichend sein und auch das Verhalten des Unfallverletzten in der gutachterlichen Untersuchung Rückschlüsse hierauf zulassen.
2. Das C-Kriterium erfordert weder nach DSM-5 oder ICD-10 noch nach der AWMF-Leitlinie einen definierten Zeitraum. Ein Vermeidungsverhalten muss lediglich zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf von spätestens drei bis sechs Monaten nach dem Unfall nach einer kritischen Würdigung der Vorbefunde und der gutachterlich erhobenen Befunde ohne vernünftigen Zweifel nachweisbar sein.
3. Die Beschwerdevalidierung ist grds wesentlicher Bestandteil jeder Begutachtung und besteht nicht aus einem einzelnen Befund, sondern aus zahlreichen Bausteinen, zB kritische Nachfrage zu in den Akten erkennbaren Widersprüchlichkeiten, Verhaltensbeobachtung während der gutachterlichen Untersuchung, Fragebögen/ Tests sowie ggf der Blutspiegelbestimmung bzgl Medikamenteneinnahme.
Orientierungssatz
1. Die im Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht ausdrücklich geregelte Anschlussberufung ist nach § 202 iVm § 524 Zivilprozessordnung (ZPO) nach ständiger Rechtsprechung des BSG möglich. Dies gilt auch, wenn die Berufungsfrist abgelaufen ist.
2. Dem aktuellen Erkenntnisstand entsprechen ICD-10 (Zehnte Revision der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO aus dem Jahre 1989, vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information ins Deutsche übertragen, herausgegeben und weiterentwickelt) und DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5, Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ullrich Wittche, 2015 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG). ICD-11 ist in Deutschland noch nicht eingeführt.
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 3. Mai 2019 aufgehoben. Auf die Anschlussberufung des Klägers wird die Beklagte verurteilt, bei dem Kläger unter Abänderung des Bescheides vom 30. November 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2017 eine PTBS als weitere Unfallfolge anzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte trägt ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Klägers.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um Folgen und Ansprüche aufgrund des Arbeitsunfalls vom 2. August 2015.
Der 1970 geborene Kläger ist seit 1992 als Kundendienstmitarbeiter bei der Deutschen Bahn AG beschäftigt und wurde am 2. August 2015 während seines Dienstes am E-Stadt Hauptbahnhof Zeuge eines Gleissuizids.
Nach eigenen Angaben des Klägers habe sich der Suizidant auf dem Bahnsteig zunächst mit ihm unterhalten und sich nach dem Zug nach Amsterdam erkundigt, sei dann aber nicht in den Zug eingestiegen, sondern losgerannt. Er sei ihm nachgerannt, habe ihn dann aber nicht mehr gesehen. Der Zug habe gestoppt. Er sei dann selbst die Gleise entlang zurückgegangen, um nach der Person zu suchen und habe schließlich deren zweigeteilten Leichnam seitlich liegend vorgefunden. Er habe das Geschehen sodann per Funk an die Zentrale gemeldet. Danach sei der Bereich abgesperrt worden, Bundespolizei und Staatsanwaltschaft seien gekommen und er sei von Kollegen in einen Aufenthaltsraum gebracht worden. Dort sei er etwa eineinhalb Stunden geblieben und dann mit der S-Bahn nach Hause gefahren. Zu Hause sei er ziemlich durcheinander gewesen und lange mit seinem Hund spazieren gegangen. Abends sei er recht unruhig gewesen und habe auch nicht schlafen können.
Nach dem Bericht des Allgemeinmediziners Dr. C. stellte sich der Kläger dort am 3. August 2015 aufgrund des Gleissuizids vor und klagte über Schlafstörungen. Es wurde befundet, dass der Kläger posttraumatisch extrem mitgenommen sei und eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 9. August 2015 bescheinigt. Am 10. August 2015 stellte sich der Kläger wegen des Arbeitsunfalls bei dem Allgemeinmediziner Dr. D. vor, der den Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) äußerte und Arbeitsunfähigkeit bis zum 16. August 2015 bescheinigte. Danach übte der Kläger nach Angaben seines Arbeitgebers zunächst wieder seine übliche Tätigkeit aus.
Aus den Angaben seiner Krankenkasse ergibt sich, dass der Kläger wegen einer PTBS erneut vom 1. bis 21. Februar 2016 sowie ab dem 29. April 2016 von Dr. D. arbeitsunfähig geschrieben wurde. Aus dem Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse gehen für die Jahre vor dem Unfallereignis keine...